Eckhard Mieder Im Niemandsland

Prosa

Am Abend des meteorologischen Sommerbeginns 2015 rief der Gastwirt und Hoteldirektor Egon Schmahle nach seinem Vater, fand es nicht weiter verwunderlich, dass der sich nicht meldete, allzu dringlich war es nicht, auch hatte Schmahle alle Hände voll zu tun hinterm Tresen; doch als der Hermann, Stunden später, nicht wie sonst kurz vor Schankschluss zu einem Absacker-Likörchen erschien, fragte sich Sohn Egon ernsthaft nach dem Verbleib des Alten.

Strasse in Norwegen.
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Strasse in Norwegen. Foto: Karin Beate Nøsterud (CC BY 2.5 cropped)

23. Juli 2015
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Er fragte seine Frau Martha, ob sie ihn gesehen habe und erhielt zur Antwort, dass sie sich nicht auch noch tagsüber um den Alten kümmern könne, es strengte hinreichend und hinlangend genug an, ihn des Abends ins Bett zu verbringen - zu hieven, nannte sie den Vorgang manchmal - und darauf zu achten, dass er nicht mit vollgemachten Windeln die Nacht verbrachte. Egon hatte es vor Jahren aufgegeben, Martha um ein bisschen angebrachten Respekt zu bitten; sie hatte ihren Schwiegervater nie gemocht, er hatte sie nie als Schwiegertochter geschätzt, eine beidseitige Abneigung, die verlässlich war.

1.

Als auch Tochter Susanne und Sohn Maxim den Kopf schüttelten und meinten, der Opa würde wohl, wenn er sich nicht in Haus und Garten herumtriebe, in seiner Höhle sein, fing Egon an sich zu beunruhigen. Er packte einen kleinen Rucksack mit Bier, ein paar Wurststullen, mit einem Schlafsack und einer Isolier-Matte, nahm eine Taschenlampe und verabschiedete sich in den Wald. Er hörte noch, wie Maxim rief, dass er auf die Wildschweine aufpassen solle, sie seien in diesem Jahr ungewöhnlich zahlreich und aggressiv wie sonsterwas, und ob er sein Handy eingesteckt hätte, für den Fall der Fälle, welcher immer eintreten könne und von dem niemand wusste, was dieser ominöse Fall der Fälle sein könnte – Egon antwortete nicht, er wusste, was sein Sohn nicht wissen konnte: dass es dort, wohin er ging, weder Sendung noch Empfang gab, sondern nur Wetter, Bäume, Moos und Wolken. Wahrscheinlich auch Hermann, den Vater.

2.

Nur ein paar Dutzend Schritte auf dem breiten Forstweg, der in den Tourismus-Katalogen der Urlaubs-Industrie als Premium-Wanderweg ausgewiesen war, von dem er abbog auf einen Pfad, den nur Eingeweihte kannten – und alles lag hinter ihm. Das Gebrüll des Tages, so empfand er es an manchen Tagen: das Klappern der Küche, der Strom der Gäste, die ankommenden und abfahrenden Motorräder, auf denen die grauhaarigen und dickbäuchigen Easy Riders des 21. Jahrhunderts sassen, die Leute, die nach ihrem Zimmern fragten und nach den Öffnungszeiten der Sauna - das alles lag mit einem Mal hinter ihm. Abgeschnitten. Weggetan hinter ihm in das Dämmerdunkel der beginnenden Nacht. Als gäbe es das nicht mehr: dieses wimmelnde, Geld bringende, Geld ausgebende, diese Tag für Tag neu zu organisierende Geschäftigkeit des Lokals, des Hotels, der Firma, wie die Familie den Betrieb nannte. Und er war der Direktor von all dem und hatte dafür zu sorgen, dass die Firma lief und genug Geld abwarf, um die Angestellten, die Lieferanten, die Bank zu bezahlen und der eigenen Familie ein Auskommen zu ermögliche, das um einiges über dem Durchschnitt des Landes lag.

Seit zehn Jahren lief es prächtig, Haus und Geschäft warfen Gewinn ab, das Haus Schmahle war eine Erfolgsstory, die jedes Jahr um den 3. Oktober herum in den lokalen Blättern zelebriert wurde; das Haus Schmahle hatte sich seiner dubiosen Vergangenheit – so eine der dunklen Überschriften - entledigt, Jahr für Jahr mehr, als wäre die Vergangenheit eine Zwiebel, die Schicht um Schicht ablegte, eine Vergangenheit, in der Egon seine Kindheit und Jugend verbracht hatte. Immerhin. Ein Mensch. Nicht mehr und nicht weniger. Für die Vergangenheit vor ihm fühlte er sich nicht verantwortlich, und die sich dafür zu verantworten hatten – nun, die gehörten inzwischen auch zu seinen Gästen, besser: zu den Gästen seines Vaters, der sich am heutigen Abend mal wieder auf den Weg gemacht hatte, um sich von seinem Sohn finden zu lassen. Den Wald, der sich um Egon schloss, interessierte sich nicht für Gäste, nicht für Kredite, nicht für Vergangenheiten; der Wald war eine Wohltat, er umgab Egon wie eine Kammer mit warmen Wänden, so war es schon gewesen, als er Kind war.

3.

Schon immer bestand der Wald, für den Knaben, später für den Mann, aus Bäumen, Moos und den Millionen Augen, die ihn beobachteten. Davon hatte er gelesen, als er schon Vater zweier Kinder und Direktor der Firma war, in dem Buch einer schwedischen Schriftstellerin, die über den Wald schrieb und an einer Stelle davon sprach, dass ein Mensch, der einen Wald betritt, von Millionen Augen betrachtet wird. Dieser Gedanke gefiel Egon Schmahle. Einzutreten in eine Welt, in der er selbst nur ein Teilchen war, zwar von Wuchs grösser, doch an Bedeutung nicht wichtiger und nicht nützlicher als eine Ameise oder ein Kohlweissling. Er selbst konnte die nicht sehen, die ihn sahen. Das war in Ordnung.

Das andere nicht. Der Wald war etwas, in den die Augen (und er selbst) gehörten, nicht aber die Lichter der Scheinwerfer, die Schilder mit der Schrift Grenzgebiet! Betreten verboten! nicht gehörten. Auch nicht die Jeeps und die Sirenen in manchen Nächten, nicht die Schüsse, die er hörte und die er nicht unterscheiden konnte: Waren es die Schüsse von Jägern, waren es die Schüsse der Grenz-Soldaten? und wer schoss da auf wen? Und in den Wald gehörten auch nicht die Gäste der Pension, die sein Grossvater Wilhelm, dann sein Vater Hermann betrieben, ein gar nicht so kleines Haus, das anderthalb Dutzend Zimmer hatte, in denen selten jemand übernachtete.

Die meisten Gäste kamen, um zu feiern – und in der Regel wurden sie noch in der Nacht abgeholt von grossen, glänzend schwarzen Autos und nach Hause gefahren (wo immer dieses Zuhause sich befand). Oder sie zogen sich in den kleinen Saal zurück, der vor Jahrzehnten ein Tanzsaal gewesen sein soll; davon hatte Wilhelm seinem Enkel erzählt, davon und von einer Zeit, in der es Wandervögel gab, die sich Egon, als er Kind war, immer als Mischwesen aus Mensch und Segelflugzeug vorgestellt hatte. Chimären; ein Wort, das er später in Büchern fand, als er an der Berliner Humboldt-Universität Kriminalistik studierte.

Sie zogen sich zurück: in den kleinen Saal, die anderen Vögel mit den unzugänglichen Gesichtern, die sie sich nur von Männern bedienen liessen, die sie mitgebracht hatten, und die in der Küche standen und die Zubereitung der Speisen und das Öffnen der Getränke-Flaschen überwachten, als hätte irgendjemand aus der Familie Schmahle oder von den drei Angestellten, die beinahe zur Familie gehörten, die Absicht, ihre Gäste zu vergiften.

4.

Egon machte eine Pause. Er brauchte sie nicht unbedingt. Er war jetzt zwanzig Minuten unterwegs, fühlte sich fünf Kilogramm leichter, atmete tief und regelmässig. Er setzte sich auf ein bemoostes Brett, das einmal eine Bank war, zwei Bretter, die sich aneinander hielten, auf zwei Stamm-Stempeln aus grauem Beton. Diese Bank hatte jemand für die Ewigkeit in den Wald hineininstalliert; diese Bank hatte die Chance, Egon zu überleben. Was er nicht für eine besondere Leistung hielt. Jeder Baum um ihn herum würde ihn, seine Kinder, seine Enkelkinder überleben; so die Forstwirtschaft oder der Untergang der Welt nicht anderes mit ihnen vorhatte, so er Enkelkinder erleben durfte.

Allmählich wurde es zu viel. Er war vor fünf Wochen Sechzig geworden, es hatte ein rauschendes Fest gegeben, es war nicht seine Idee gewesen, ein halbes Hundert Menschen einzuladen, darunter etliche, von denen er seit Jahrzehnten nichts gehört hatte. Er hatte seinen Geburtstag stets gemieden, soweit es möglich war, er hätte am liebsten keinen Geburtstag gehabt (was eine Unmöglichkeit war, geboren ist geboren, aber musste das ein Grund zum Pathos sein?); seine Frau Martha hatte ihm seine Abneigung, den eigenen Geburtstag feierlich zu begehen, über all die Jahre gegönnt – aber der 60., der 60., der war nun doch ein Anlass zu einem Fest!

Es lief glimpflich ab. Es gab Gäste, die er erst erkannte, als sie sich mit persönlich gehaltenen Worten (manche mit Reimen, die Egon schrecklich fand; aber er erkannte die beschriebenen Situationen seines Lebens und konnte rückschliessen auf den Gratulanten) an ihn richteten. Es gab Gäste, die er in die Arme nahm, weil er sich freute, sie wiederzusehen.

Es war nun einmal so, dass die Zeit vergangen war, und sie hatte Gräben und Berge aufgeschüttet, die aus Jahren und Wiederjahren bestanden, und es war durchaus nicht böser Wille oder üble Absicht, sich nicht gemeldet zu haben – es war eben dieses Leben, das ging, und es ging auch, wenn man ein schlechtes Gewissen hatte. Wie es auch mit reinem Gewissen und gutem Schlaf ging; es war einigermassen gleich, ob man über ein gutes oder über ein schlechtes Gewissen verfügte. Ohnehin war Egon der Auffassung, dass sich im Leben alles ausglich, das Gute und das Schlechte, der Erfolg und der Misserfolg, die Liebe und der Hass. Wenn ihn nicht alles trog, befand er sich derzeit in einer Lebensphase der beständigen und hoffentlich anhaltenden Ruhe und in einem seelischen und finanziellen Gleichgewicht; die Wippe hielt sich in der Waage: auf der einen Seit der Wippe sass er, auf der anderen Seite sassen Familie, Besitz, alles, was zu Egon Schmahles Glück gehörte.

Und doch. Es war allmählich zu viel geworden. Das Restaurant, die Pension (inzwischen ein Hotel, präsent in den Broschüren der Tourismus-Industrie und im Internet, sie hatten an- und ausgebaut, aus dem halben Dutzend waren drei Dutzend Zimmer geworden, die Sauna dazu, ein kleines Schwimmbad) – auch wenn die Kinder, Susanne und Maxim mithalfen, und trotzig meinten, sie würden die Firma auf gar keinen Fall weiterführen, die Welt sei zu gross und voll mit Möglichkeiten des Lebens und der Zukunft, sie wollten nicht im Wald hängenbleiben – es war zu viel geworden. Mindestens zu viel für Egon, der es genoss, in diese Nacht hineinzugehen, nach seinem Vater zu suchen und – allein zu sein. Wie er es immer gemacht hatte, wenn seine Lebens-Wippe aus der Balance geriet; ob aus geringfügigem Anlass, wie ein Streit mit seiner Frau, ob aus bedrohlicherem Anlass, wie ein Kredit, dessen Rückzahlungsraten zeitweilig nicht aufgebracht werden konnten und immer mal wieder die Panik vor einer Pleite aufkam.

Ein Kuckuck schlug an. Egon schloss die Augen und zählte seine Rufe mit. 15 Mal, dann hörte der Vogel auf. Das wäre, dachte Egon, nicht mehr viel an Jahren, die mir bleiben. Dann fing der Kuckuck erneut zu rufen an. Noch 22 – das machte in der Summe 37 Jahre, nun, so alt werde ich nicht werden, obwohl. 97 Jahre – warum nicht, wäre noch immer ein sehr stolzes Alter, aber heutzutage nicht mehr so ausserordentlich ungewöhnlich, obwohl.

Egon fasste unter die Planke und angelte nach einem Stück Holz, von dessen Existenz er wusste. Es war einer der Teller, die in dem Haus Schmahle in den Sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts zur rustikalen Ausstattung gehörten. Von diesen Teller assen die Familie und die Gäste zum Frühstück, auf diesen Tellern wurde Brot, Braten, Wurst, Käse geschnitten. Die Teller waren im Laufe der Jahre verlorengegangen und ersetzt worden durch bunte Teller, die eine Keramikerin herstellte, die im zwanzig Kilometer entfernten G. ihre Werkstatt hatte; sie war aus der Hauptstadt des vereinten Deutschlands in die thüringische Kleinstadt gezogen, und es hiess von ihr, sie sei eine politische Gefangene gewesen und ein halbes Leben lang daran gehindert worden, ihrer künstlerischen Berufung nachzugehen. (Es gab auch das Gerücht, dass sie eine Russin sei und in den 1990er Jahren nach Deutschland gekommen war; eine Jüdin möglicherweise, die ihren Frieden und ein Auskommen finden wollte.)

Die Muster auf den neuen Tellern waren rätselhafte Arabesken, die je nach Lichteinfall etwas Beunruhigendes oder etwas Beruhigendes ausstrahlten. Martha Schmahle nannte sie (und meinte damit auch die Keramikerin) verrückt, Egon hatte keine eigene Meinung; schliesslich hatte sich Hermann durchgesetzt, der auf eine undurchsichtige Weise Sympathie für die Keramikerin empfand und es sich nicht nehmen liess, sie einmal im Monat in G. zu besuchen. Auf die Frage des Sohnes, warum er so anhänglich sei, hatte er wirsch geantwortet: „Du kannst alles essen und alles trinken, aber du musst nicht alles wissen!“ Wundern durfte sich Egon trotzdem, auch darüber, dass die Mutter die Besuche des Vaters hinnahm.

Egon wischte mit der Handkante der Rechten das Moos und die Tannennadeln vom Holzteller und strich mit der flachen Hand über die Initialen E und L. E wie Egon, L wie Ludmilla. Er konnte dem Drang nicht widerstehen, wie immer, wenn er, was drei, vier Mal im Jahr vorkam, die Bank aufsuchte und das hölzerne Zeugnis seiner Jugendliebe hervorkramte – Egon berührte das Brettchen mit seinen Lippen, ein Geschmack und ein Duft von Modrigkeit, Moos und Kühle in Mund und Nase, dann schob er es behutsam in das Versteck zurück.

5.

Er drückte sich von der morschen Bank hoch und ging weiter, hinein in den Wald, beobachtet von diesen Millionen Augen, die auch in der Nacht sich nicht schlossen. Die er nicht sehen konnte, die ihn sahen. Egon überquerte eine kleine Lichtung, an deren westlicher Seite ein Hochsitz stand. Er gehörte der Familie Schmahle, wie weitere vier Hochsitze im Wald. Von ihm aus war manches Reh, mancher Hirsch und manches Wildschwein geschossen worden, die in der Küche der Pension Schmahle zu Braten wurden. Wildschweine wurden eher selten aus dem Stand heraus erlegt, weil sie schlauer waren als Rehe und ungern aus dem Wald ins gefährdende Licht traten. Sie wollten gejagt werden. Sie liebten ihr Leben in den feuchteren, dunkleren Ecke des Waldes.

Ihre Augen brauchten nicht das Licht der Morgensonne; oder sie holten es sich, wenn sie wussten, dass der Jäger noch nicht den Hochsitz bestiegen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum Egon das Fleisch der Schweine über alles liebte: Es machte mehr Mühe und brauchte das Anschleichen, Stillehalten, Aufstöbern des Jägers; es brauchte die Geistes-Gegenwart und Ziel-Gewissheit, das Gewehr hochzureissen, wenn plötzlich das Schwein durchs Gebüsch brach und in seinem seltsam irr-gezackten Lauf floh (dass es auf Menschen losging, hatte Egon noch nicht erlebt) – ein Wildschwein zu schiessen, war das Ergebnis wirklicher Jagd. Und Wildschwein überm Feuer im Freien zubereitet – wenn es etwas gab, das für Egon die Speise des Paradieses war, dann das.

Egon war als fünfjähriger Knabe das erste Mal von seinem Grossvater Hermann mitgenommen worden, und er hatte nie die Erregung vergessen, die ihn befiel, als er neben dem Alten auf dem Hochsitz ausharrte. Schweigend pellte er ein hartgekochtes Ei gegen den Morgenhunger, ihn fröstelte, aber urplötzlich stieg Hitze in ihm auf, als drei Rehe auf die Lichtung traten, als der Vater das Gewehr an die Schulter presste, ruhig und bestimmt zielte – und als der Schuss losbrach und eines der Rehe auf der Stelle umsank, und Hermann brummte zufrieden, legte das Gewehr ab und sagte zu seinem Enkel: „Das passte!“ Egon nickte, legte seinen Kopf in die warmen Hände des Vaters und schloss die Augen vor Seligkeit. Das passte.

Es war nicht mehr weit bis zu der Höhle. Etwa fünfzehn Minuten zu Fuss. Egon musste das Gelände umrunden, das mit einem Zaun umgürtet war und dessen Betreten schon verboten war, als es Egon das erste Mal auf seinen Streifzügen durch den Wald begegnet war. Nur dass der Zaun damals aus mit Stacheldraht gekröntem Maschendraht bestand; jetzt war er ein stählernes Gitter-Netz. Nur dass die Baracke, von deren Dach damals spillrige Funk-Tentakeln in den Himmel fuchtelten, ersetzt worden war durch einen Beton-Turm und ein solides Stein-Haus. Hier, erfuhr Egon, als er danach fragte, hatte es einen Horchposten des Friedens gegeben. Hier, kurz vor der Grenze, die Heimat von Fremdheit trennte, sassen Tag für Tag und Nacht für Nacht verantwortungsvolle sowjetische Genossen, die sich um den Weltfrieden sorgten und dafür erfahren mussten, was der Imperialismus im Schilde führte. Sie harrten aus und fischten nach Nachrichten im Äther; sie taten etwas, das dem Warten auf dem Hochsitz glich: was dem Vater (und später dem Sohn) die Rehe auf der Lichtung waren, waren den Horchern die Signale aus dem Westen.

Wofür heute der Beton-Turm diente, wusste Egon nicht; er nahm an, dass es sich um eine derjenigen Weiter-Vermittlungs-Sender handelte, die für den modernen Funkverkehr zwischen den Milliarden Mobiltelefonen auf der Welt notwendig waren. Das Gelände zu betreten, war noch immer verboten; vermutlich, dachte Egon, gibt es Terrains auf dieser Welt, die für immer und ewig versperrt sind. Zugang hatten nur Auserwählte, die über besondere Genehmigungen und Ausweise verfügten. Das Tor machte den Eindruck, als stünde es unter Strom, könnte selbstentscheidend schiessen und würde in Sekundenbruchteilen eine Armee von Wächtern herbeirufen. (Vielleicht hockten die auch im Wald und schauten mit ihren Augen nach ihm.)

Ein Stück ging es zwischen und unter Tannen entlang, an deren Anpflanzung Egon sich erinnern konnte. Es war ein kahles Feld gewesen, ein Kahlschlag, wie ihn die Männer brauchten, die eine Grenze errichteten. Eine Grenze braucht mehr Platz, als naive Gemüter annehmen. Es ist nicht nur ein Zaun – wieder ein Zaun; so ist es nun mal auf dieser Welt, die ohne Zäune nicht auskommt - es ist auch freie Fläche vor und hinter dem Zaun. Die Menschen, die eine Grenze bewachen, brauchen Sicht; und es lassen sich technische Gemeinheiten im Boden verstecken. Etwa Minen. Egon hatte, als er davon hörte und als er gewarnt wurde, in diese Bereiche, deren Betreten selbstverständlich verboten war, gedacht, dass es Spass machen musste, eine Grenze zu installieren. Es war eine Knobel-Knifflig-Aufgabe. Es musste ein Plan angefertigt werden. Wie sollte die Grenze aussehen, aus welchem Material sollte sie errichtet werden, genügte ein Zaun oder musste eine Mauer her, wie hoch musste gebaut werden.

Eine Grenze bei Tag ist nicht eine Grenze bei Nacht; aber funktionieren muss sie 24 Stunden am Tag, jahrelang, länger womöglich als ein Menschengedenken. Es musste bedacht werden, auf welche Weise und mit welchen technischen Varianten jemand, irgendwer, die Grenze überwinden wollte. Dass es diejenigen geben musste, schien Egon ausgemacht; warum sonst gab es eine Grenze überhaupt? Wenn sie trennte, dann gab es auch Menschen, die sie überwinden wollten. Nicht jeder akzeptiert Grenzen.

Jetzt, fünf Wochen älter als 60 Jahre und auf dem Weg, seinen Vater zu finden, wusste er Bescheid; er wusste schon seit dreissig Jahren Bescheid, aber wenn er es recht bedachte, ein Tannenzweig streifte sein Gesicht, ein Streicheln des Waldes, den er liebte und der ihn liebte – was sollte er Grenzen dramatisieren, gar den obskuren so genannten Lauf der Geschichte, die ihn in Frieden gelassen hatte. Nichts weiter als das wollte Egon Schmahle auch fürderhin und bis ans Ende seiner Tage: in Frieden leben, in Frieden gelassen werden, andere in Frieden lassen; was nicht für alle Lebewesen galt, hin und wieder mussten ein Schwein oder ein Reh dran glauben, das Haus Schmahle war bekannt und gepriesen für ihre schmackhaften Wild-Gerichte mit Beeren und Pilzen, die auch in einer kargwüchsigen, verödeten Zeit hier im Wald noch an Stellen wuchsen, ja wucherten, die in der Familie als Geheimnis von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Es kam vor, dass Gäste danach fragten, wo es hier noch diese köstlichen, sensationellen Blaubeeren, Brombeeren, Pfifferlinge, Steinpilze, Waldhimbeeren gäbe. Höflich wurde geantwortet: „Sie können bei uns alles essen und trinken, aber Sie müssen nicht alles wissen!“

6.

Ein Paar der Millionen Augen des Waldes folgte Egons Gang von Anfang an. Von welchem Anfang an? Dem seines Lebens oder dem des abendlichen Ausfluges, den er unternahm, um seinen immer traniger werdenden Alten – da musste er seiner Gattin Martha in der despektierlichen Beschreibung des Zustandes seines Vaters Recht geben – zu finden und heimzubringen. Das Augenpaar gehörte einem Wesen, das eine Chimäre und bisher von niemandem entdeckt worden war. Erst kürzlich war im südamerikanischen Regenwald ein bis dahin unbekanntes Volk entdeckt worden; da ist es durchaus verständlich und keinesfalls überraschend, dass im Thüringer Wald Chimären wohnen, die dem Menschen aus dem Wege gehen, Hunderte von Jahren alt werden und über mehr Weisheit verfügen als ein einzelner Mensch erlangen kann. Das Wesen, das Schmahle folgte, blieb mal drei Meter hinter, dann zwei Meter über und sogar ein paar Meter vor ihm. Es spielte mit seiner ureigenen Fähigkeit des Laufens, Fliegens, Vorausschauens. Überhaupt war es verspielt: Sorgte mal dafür, dass ein Tannenzweiglein das Gesicht Schmahles berührte, mal dafür, dass ein Kuckuck 37 mal rief, und längst wäre das Brettchen mit den Buchstaben E und L in den Waldboden eingesunken gewesen, hätte das Misch-Tier es nicht gehegt und darauf geachtet, dass niemand es fand und arrogant behandelte.

Egon schaute jetzt über die Schulter. Ihm war, als hätte er ein Geräusch, das ihn verfolgte gehört. Aber da war nichts. Auch das Flügelschlagen über ihm war eine jener Einbildungen, die einen Menschen in Wald und Dunkelheit heimsuchten. Egon fürchtete sich nicht, der Wald war ihm vertraut; fragte ihn jemand, wo er sich am wohlsten fühlte, würde er antworten: im Wald. Aber es gehörte sich, den Wald zu achten, auf Überraschungen gefasst zu sein – wie etwa auf ein den Weg galoppierend kreuzendes Wildschwein oder auf einen Ast, der sich aus einem der knarrenden Bäume löste, weil es für ihn an der Zeit war – und auch der Weg unter seinen Füssen veränderte sich Jahr für Jahr. Laub, Nadeln, Moos, Regenwasser wusch Furchen und Löcher aus dem Boden, es entstanden kleine, natürliche Fallen, in die ein Mensch geraten und sich die Fussgelenke verrenken konnte.

Linkerhand, wusste Schmahle, würde gleich das grosse, etwa fünfzig Meter im Durchmeter messende Loch beginnen, dessen Rand im Laufe der Jahre gewandert war. Durchaus. Der Rand war gewandert. Er hatte das Loch immer wieder anders begrenzt und verändert, das auf eine rätselhafte Weise vor Hunderten von Jahren entstanden war; als hätte sich ein Hohlraum unter dem Waldboden gebildet, der plötzlich nachgab, einbrach, Bäume und Sträucher mit sich riss, und seitdem versuchten Nachfahren dieser Bäume und Sträucher hinauszuklettern aus der dunkeln Tiefe, die ihren Grund etwa fünfzig Meter unter dem Rand hatte. Alles in allem war Vorsicht geboten, zumal es noch immer hiess, dass sich auch die eine oder andere Mine im Boden verbarg. Sie waren geborgen worden, als die Grenze gefallen war; aber die Pläne ihrer Verbringung ins Erdreich waren vierzig Jahre alt, und ob sich jeder auf die Kunst verstand, eine ordentliche Grenze zu bauen oder nicht doch der eine oder andere aus Faulheit oder aus der Bequemlichkeit, endlich zu seinem Feierabend-Bier zu kommen das eine oder andere Mist-Ding irgendwo verbuddelt hatte …

Die Chimäre schmunzelte jetzt. Sie blieb stehen, weil sie wusste, dass Egon kurz vor dem Eingang der Höhle eingetroffen war; eingetroffen, als habe er einen Bus benutzt, der klare Abfahrts- und Ankunftszeiten hatte. Sie wusste etwas, das der Mensch-Mann gleich erfahren würde, falls er umsichtig und aufmerksam genug war; er schien es zu sein. Sie flüsterte: „Pass auf dich auf, Egon!“

7.

Egon stand vor der Höhle und zögerte hineinzugehen. Hatte er ein Flüstern gehört, oder war es eines der Laute des Waldes? Gäbe es ein Lexikon, das die Geräusche des Waldes verzeichnete – oder moderner: eine CD mit sämtlichen Geräuschen des Waldes, mit Angaben von Ort, Datum und Uhrzeit – er würde jeden Abend in dem Nachschlagewerk lesen, er würde die digitale Scheibe jeden Abend vor dem Einschlafen hören.

Aber es war still. Egon kündigte sein Dasein an, indem er sich räusperte, dann hustete er künstlich, trat ein paar Schritte auf der Stelle, sodass Moos und Zweige knatschige und knackende Laute von sich gaben. Dann horchte er. Es schien niemand in der Höhle zu sein. Er war unschlüssig, ob er sie betreten sollte, ohne dazu aufgefordert zu sein. Immerhin war es die Höhle des Alten, und er wusste, dass der Vater in mancherlei Dingen empfindlich war. (Was er verstand, er war nicht anders.)

Instinktiv wusste Egon schon immer, dass die Höhle dem Vater gehörte. Wie es Messer in der Küche gab, die niemand anfassen durfte – ausser Hermann. Wie es eine Truhe und einen Schrank im Giebelzimmer des Hauses gab, die niemand öffnen würde – ausser Hermann. Es gab Dinge und Räume – niemand musste ausdrückliche Verbote aussprechen -, die gehörten allein Hermann. Als Kind hatte Egon gedacht: Der Wald gehört meinem Papa, und mein Papa wird ihn mir zeigen und wird mich den Bäumen und Rehen und Pilzen vorstellen. Und die Bäume und Rehe und Pilze werden sich vor mir verneigen, wie ich mich vor ihnen verneigen werde, so machte man das, wenn man Hochachtung voreinander hatte. Wenn man einander akzeptierte.

„Vater?“, rief Egon; irgendwie rechnete er nicht mit einem Rückruf, irgendwie wusste er, dass die Höhle leer war. Egon schob die zwei breiten Bretter, die so etwas wie eine Tür bildeten, auseinander und schlüpfte hinein. Obwohl es Nacht war – im Wald war es nie ganz dunkel. Es war, als blieb ein Rest vom Licht des Tages zwischen den Ästen und Blättern hängen. Als legte es sich auf Farne, Moose, Beerensträucher. Als hielt der Wald das Licht des Tages gefangen und reflektierte es für seine Bewohner, damit ein jeder seinen Weg fand.

Seltsamerweise war es in der Höhle noch etwas heller als draussen. Das liegt vielleicht daran, dachte Egon, dass sie eine weitere Öffnung hatte, die nicht verschlossen war. Sie führte auf einen natürlichen Balkon, der über dem gewaltigen Loch wie eine steife Zunge hin; über dem Loch wiederum war der Himmel weit und offen. Ein Erde-Loch; ein Licht-Loch.

Noch einmal, leiser, rief Egon nach dem Vater, obwohl die Höhle augenscheinlich leer war. Sie mass höchstens zehn Quadratmeter und hatte keine Ecken, hinter denen sich ein erwachsener Mann verstecken könnte. Und hätte es solche gegeben - warum sollte sich Hermann in seiner eigenen Höhle verstecken? Die Höhle an sich war sein Versteck.

Egon machte einen nächsten Schritt. Fühlte sich sicherer. Würde erklären können, warum er hier war, falls der Vater plötzlich erschiene und fragte, was los sei und warum er – unangemeldet und unangekündigt! (als wäre das möglich gewesen) – in der Höhle sich befand. Wollte er, der Sohn, schnüffeln? Blödsinn, würde Egon sagen, das weisst du, Vater. Ich habe mir Sorgen um dich gemacht … Wir haben uns Sorgen um dich gemacht. Du solltest nicht einfach so verschwinden und uns in dieser Besorgnis lassen. Hermann würde, war sich Egon sicher, lachen und sagen, dass man sich um ihn nicht sorgen müsse. Unkraut vergeht nicht! Alter Bäume verpflanzt man nicht! Du kannst alles essen und trinken, aber du musst nicht alles wissen! Solche Sprüche. Ausserdem würde Hermann lästern über das wir. Wir hätten uns Sorgen gemacht, deine Frau etwa, oder wen meinst du noch mit wir?

Dagegen war Egon inzwischen gewappnet. Das hatte er über die Jahre so oft gehört, dass er es überhören konnte. Es war unausgesprochen klar, dass wir er war, der Sohn, und ein bisschen vielleicht auch die Enkelkinder. Was die fühlten, dachten, beabsichtigten wusste sowieso niemand zu sagen. Hermann hatte sich nie allzu grosser Mühe geben, den Opa zu machen. Das war einer der Punkte, auf die Martha gern zu sprechen kam. Der Alte, sagte sie dann, kann doch froh und glücklich sein, dass er zwei Enkelkinder hat. Die wir ihm geschenkt haben. Wieso verhält er sich ihnen gegenüber … wie er sich mir gegenüber verhält … schroff, wenig interessiert … als sei er nicht fähig, sie zu lieben!?

So sei es gewiss nicht, antwortete er in diesen Gesprächen, die sich alle halbe Jahre wiederholten. Er liebt sie. Er liebt auch dich. Auf seine Art. Sogar mich. (Das Einzige, was ich sicher weiss, dachte er stets: dass er mich liebt. Auf seine Art.)

Martha pflegte, daraufhin ein kurzes, stöhnendes Lachen auszustossen und abzuwinken. Macht euch nur was vor, ihr Schmahles, macht euch was vor in eurem Leben. (Als wäre es nicht auch dein Leben, dachte er stets, aber er winkte ab, stellvertretend für seinen Vater, als wüsste er mehr über ihn und müsste ihn verteidigen.)

Egon wusste, wo die Kerzen und die Streichhölzer lagen. Ausserdem, sah er, standen auf dem Baumstamm, der als Tisch diente, etliche Stearin-Stummel. Und er hatte, selbstverständlich für einen Mann, der abends in den Wald ging, eine Schachtel Streichhölzer dabei. Sowie ein Erste-Hilfe-Päckchen; man war hier nicht im Dschungel, sondern in einem mitteleuropäischen Wald, aber nichts Genaues wusste man nie.

Er zündete eine der fast völlig heruntergebrannten Kerzen auf dem Stamm-Tisch an und entdeckte sofort das Album. Falls es ein Album war, dieser Trumm, der in die Mitte des Tisches geschoben war, mit der Absicht, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Doch, natürlich, es war ein Album, ein altmodisches Album, gebunden von tiefem Leder, nicht eines, wie sie in den Papiergeschäften auslagen, mit ihren aufgeprägten, grellen Sinneszeichen irgendeiner Landschaft, irgendeines Disney-Filmes, irgendeiner blumigen Daseins-Behauptung. Das Leder war zeittief dunkel, stellenweise blank, es war in den Jahren, Jahrzehnten? seines Daseins auf Erden oft angefasst worden.

Egon scheute sich, das Album anzufassen, scheute sich, es nur anzuschauen. Er drückte sich zwischen Tisch und Wand vorbei, machte wenige Schritte, um auf den Balkon vor der Höhle zu gelangen. Auf dem lag ein Klappstuhl, umgekippt, den er kannte, nicht den einen, der da lag aber. Er gehörte zu der Ausstattung des Hauses Schmahle in den Sechziger Jahren des 20, Jahrhunderts. Irgendwann (wann, das wusste er nicht), wurden auch die ausgemustert (wie die runden Holzteller, von denen das Frühstück und das Nachmittags-Brot gegessen wurde). Vermutlich geschah das in den Neunziger Jahren, als in gewisser Weise das Leben von vorn anfing. Egon war zu der Zeit noch Kriminalist in Berlin gewesen, aber es war eine Frage der Zeit, wann er evaluiert sein würde. (Wenn er später darüber sprach, immer nur im Kreis von Leuten, denen es ähnlich ergangen war, lachte er bitter und nachtragend und konnte sich der Zustimmung sicher sein; ein kollektives Lecken von Wunden erleichterte das Leben für Stunden. Von einer sach- und fachgerechten Bewertung – und dies bedeutete doch Evaluierung dem Begriffe nach – konnte keine Rede sein.

Alle Kriminalisten seien zugleich Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen; zwei Seiten einer Medaille; und selbst wenn es so war, in Egons Fall stimmte es, wurde die fachliche Tauglichkeit überhaupt nicht in Betracht gezogen, ganz anders damals, als die Eliten des Nationalsozialismus übernommen wurden; ein historischer Abgleich, der nicht funktionierte, weil erklärt wurde, dass man eben daraus gelernt habe; ein weites, weites Feld! und ein Stachel in Egons Fleisch, wenn man es biblisch beschreiben wollte, wenngleich ein Stachel, der sich mit den Jahren verwuchs und immer weniger schmerzte. Evaluierung – es handelte sich um zielstrebig vorangetriebene Entlassungen! Und seiner Entlassung kam Egon zuvor, indem er das Angebot einer Abfindung annahm, seinen Dienst quittierte und zurück zog in das Haus seiner Eltern und Grosseltern. Eine Entscheidung, die ihm erleichtert wurde durch das Ende einer Ehe, die schon seit Jahren kränkelte, auch, weil er eine Affäre mit Martha unterhielt, die er unverzüglich heiratete, nachdem er von seiner ersten Frau geschieden worden war. Martha war damals im fünften Monat, Egon sollte mit Mitte Dreissig das erste Mal Vater werden.)

Der Stuhl bestand aus einem eisernen, faltbaren Gerüst, das schmale hölzerne Brettchen hielt; sowohl als Sitzfläche wie als Lehne. Egon hob ihn auf und faltete ihn ordnungsgemäss auseinander und stellte ihn hin. Er setzte sich und sah sich um.

Viel Raum war nicht; oder es war endloser Raum. Der Himmel war das Vielversprechendste. Um das Loch herum standen Bäume wie die dunklen Ausschnitte eines Scheren-Spiels. Nach unten war es schwarz. Als er nach unten blickte, wurde ihm leicht schwindlig und er wich zurück. Mit Höhen (oder Tiefen) hatte er ein Problem. Egon wollte sich nichts vorstellen.

8.

An dem Album kann er nicht vorbei. Es lag auf dem Tisch, als sei es für ihn auf den Tisch gelegt worden. Hatte er sofort gespürt, als er die Höhle betrat. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, dachte er einen der Sprüche, die er vom Vater kannte, und er musste anerkennen, dass da was dran war. Das Album zu ignorieren, hiesse, den Willen des Vaters zu missachten; das Album zu ignorieren, hiesse, die eigene Neugierde zu verleugnen.

Er hatte das Album vorher nie gesehen. Er betrachtete es jetzt näher. Dickes, nachgedunkelte Wildleder. Er strich mit der Rechten darüber und bekam eine Gänsehaut auf dem Unterarm, wie er sie bekam, wenn er sich auf Sessel mit Samtbezug setzte. Auf dem Deckblatt prangten zwei goldrote Abzeichen. Das eine zeigte Lenin im Profil, und als ob man sicher gehen wollte, dass der Mann erkannt werde, war über seinen Kopf eine schmale rote Fahne gespannt, die den Namen Lenin in kyrillischen Buchstaben trug. Im anderen Abzeichen leuchtete auf weissem Grund ein roter Stern, aus dem sich eine Kordel emporwand, die zu einer Stange wurde; sie hielt eine flatternde rote Fahne, auf der Gwardija, die Garde, stand. Egon erinnerte sich seiner Fassungslosigkeit und Wehmütigkeit, als er, das war zu Beginn der 1990er Jahre, als er über den Platz vor dem Brandenburger Tor schlenderte. Tisch an Tisch standen dort die Verramscher einer Vergangenheit, die manche ruhmreich, andere schändlich nannten. Standen da, Tschapkas mit aufgeklappten Ohrenschützern auf den Köpfen – wie verlotterte Hunde.

Grinsten, ein Gaudi war's, über den Uniformen der Sowjetarmee, der Volkspolizei, der Nationalen Volksarmee. Devonotalien des bis eben real existierenden Sozialismus. Die Orden und Waffen von einst – Plunder jetzt. Und Egon stellte sich vor, wie japanische, amerikanische, bayerische Touristen darin wühlten, das eine oder andere kauften, um es in ihren Partykellern oder im Kreis der Freunde zur Schau zu stellen und sich zu gruseln vor dem mächtigen Feind im Kalten Krieg, der so klanglos und kläglich auslief – eine Brühe, eine Pfütze nur war übriggeblieben vom Grossen Brausen ozeanischer Veränderungen, die vielleicht nur Versprechungen waren … Der Streit um die Deutungshoheit über das 20. Jahrhundert war in vollem Gange ... Und Egon stand darin mit nassen Füssen und klammem Herz. Und wo immer die Geschichtsschreibung seine ersten 35 Lebensjahre einordnen wird: Er hatte eine gute Zeit …

Egon grinste vor sich hin als er das Album aufschlug und einen der Lieblingssätze seines Vaters las: Du darfst alles essen und trinken, aber du musst nicht alles wissen. Aber der Satz war nicht von des Vaters Hand. In Sütterlin geschrieben, zudem stand darunter Gustav, 1949. Der Grossvater war damals 49 Jahre alt, Vater Hermann war 20, und er, Egon, würde fünf Jahre später auf die Welt kommen.

Das erste Foto zeigte Gustav und seine Frau Hermine. Ein Hochzeitsfoto. Das nächste Foto war eines vom Baby Hermann. Dann schon Gustav in der Uniform der deutschen Wehrmacht, Hermine mit dem halbwüchsigen Sohn. Wer das Album angelegt hatte, dachte Egon, der hatte sich konzentriert. Hier gab es keine Fülle von Bildnachrichten, nicht diese Unzahl von Schnappschüssen, an denen ein Betrachter sich lanbgweilen und halb zu Tode schauen konnte – hier, das war der kurze, unsentimentale Abriss.

Dann schon ein paar Fotos aus der Nachkriegszeit. Das Haus Schmahle, unberührt vom Kriege. Gruppenfotos: Erst ein Trupp amerikanischer Soldaten, Gustav mit dem jungen Mann Hermann mittendrin, dann ein Trupp sowjetischer Soldaten, wieder mit dem Grossvater und dem künftigen Vater, dann ein Trupp Soldaten, die in zu weiten Uniformen ohne erkenntliche Herkunfts-Zeichen steckten – und Gustav und Hermann. Plötzlich ein Foto, eine Urlaubs-Gesellschaft? der einer Belegschaft der Textilfabriken in der Umgebung? Jedenfalls überwiegend heitere, ausgelassen wirkende Frauen, zwischen ihnen Hermann und – Gertrud, seine erste Frau, die ein Baby im Arm hielt und strahlte; das werde ich sein, dachte Egon gerührt, als er das Datum las: 7. August 1954, da war ich vier Wochen alt. Egon fuhr hoch. Ein Geräusch. Vielleicht eine Maus oder eine Ratte. Der Wald war voller Augen, die Nacht war voller Laute.

Egon blätterte weiter. Langsam, in jedes Foto wollte er kriechen. Wollte die Gerüche der Uniformen, der Kleider, der Menschen schnobern. Wollte sich dazustellen – und so alt sein, wie die auf den Bildern alt waren. Dann würde er mit ihnen altern und zugleich mit den Nachkommenden sich verjüngen. Der uralte Traum von Zeitreisen – vielleicht erfüllte er sich in dieser Höhle, in dieser Nacht, ohne solche technischen Spielereien, wie es Raum- und Zeit-Schiffe sind …

Die Zeit im Album schien sich zu verdichten. Gustav war nur noch zweimal im Hintergrund zu sehen. Im Vordergrund standen Hermann und Offiziere in Uniform und Männer ohne Uniform, deren Haltung aber eine Herkunft aus strenger Hierarchie verriet. Neben den offiziösen Fotos, als sollte lediglich dokumentiert werden, welche Gäste das Haus Schmahle beherbergt hatte (an den Wänden der Korridore im Haus waren Dutzende Fotografien von Menschen gehängt, die so genannte Prominente waren oder die Danke sagten für Speis und Trank und beteuerten, sie würden gern wiederkommen) - gab es nur wenige private, darunter die von den Begräbnissen der Mutter (sie starb schon 1968 an einer Lungen-Embolie), des Grossvaters (1988), nur eine Woche später starb Hermine; wer das Album angelegt hatte, der musste es komponiert haben; die Begräbnisse hatte er zusammengelegt, obwohl sie um Jahrzehnte auseinander lagen … Dann … Egon stockte der Atem … Zwischen ihrem Vater Boris und ihrer Mutter Margareta – stand Ludmilla. 1970. Ludmilla war damals 15, Egon knapp ein Jahr älter.

Noch jemand war abgelichtet: Hermann, er sah angespannt und unfroh in die Kamera, während die drei Gäste aus der Ukraine fröhlich und erholt blickten. Egon fragte sich, warum er nicht auf dem Bild war, warum diese vier Personen sich fotografieren liessen; auch Hermanns neue Frau Karin, die seit einem Jahr im Haus Schmahle lebte, fehlte auf dem Foto. Gut, sie war zu neu in diesem Leben im Wald und musste eine Gattin und eine Mutter ersetzen, einer Aufgabe, die sie mit den Jahren meistert; aber Egon; warum bin ich nicht dabei? der war ich es, der das Foto gemacht hatte? Daran erinnern konnte er sich nicht.

Noch einmal zurück, das wäre – was wäre das? fragte sich Egon. Nichts lässt sich berichtigen, nichts beschleunigen, nichts ändern. Eine simple Wahrheit; nur wer sie erfährt, diesen süssen Schmerz der Unumkehrbarkeit, der knirscht mit den Zähnen vor Verlangen. Dass das Unmögliche nicht geschehen kann – ein Rest des Glaubens ans Gegenteil möchte es nicht wahrhaben.

9.

Die Ferien, auch die Sommerferien im Jahr 1970, verbrachte Egon stets daheim. Er besuchte eine Erweiterte Oberschule im sächsischen F., wohnte die Woche über in einem Internat, fuhr anfangs an jedem Wochenende heim, doch die Abstände zwischen den Besuchen wurden länger und länger. Die Ferien aber, die Ferien waren Gesetz, und Egon fuhr heim, nicht, weil es ein ungeschriebenes Gesetz war, sondern weil er, voller plötzlicher, irrer Sehnsucht war. Wenn der Dezember kam und Weihnachten sich näherte. Wenn der Frühling verging und in den Sommer wechselte. Wenn Schnee in der Luft lag oder warme Tage den Wald knistern liessen – dann zog es Egon in den Wald zu den Seinen. Der Rhythmus gefiel ihm. Wochenlang war er nicht, dann für Wochen daheim.

Das Haus Schmahle gedieh auf eine geheimnisvolle Weise. Es war ein Urlauber-Heim für Menschen, die bei staatlichen Organen angestellt waren. Es war auch ein Ausflugslokal, deren Besucher sich allerdings anmelden mussten. Es kam vor, dass sich einzelne Wanderer auf den Berg verirrten, sie wurden verköstigt, sie durften, wenn Zimmer frei waren, übernachten, aber sie waren nicht herzlich willkommen. Sie waren Eindringlinge. Sie drangen in eine Ordnung ein, die für sich funktionierte, über die Hermann streng wachte. (Auch wenn Gustav, der zunehmend unberechenbarer wurde und manchmal mit seinem Wanderstock fuchtelnd durch den Gastraum und durch die Küche zog und jeden des Verrates bezichtigte; eines Verrates, von dem niemand wusste, worin er bestand.) Nein, einzelne Wanderer mochte das Haus Schmahle nicht.

Boris Poroschenko war ein alter Bekannter. Vom Alter her lag er zwischen Gustav und Hermann; Boris' Frau Margareta war Moskauerin und in Hermanns Alter. Die ersten Besuche der Poroschenkos, sie fanden vor Egons Geburt statt. In den Jahren darauf erschien Boris regelmässig zwei, drei Mal im Jahr, mal in der Uniform eines Offiziers der Sowjetarmee, später dann in Zivil. Mit einem letzten Besuch, 1990, hörten die Besuche auf.

Egons erste Erinnerung an die Poroschenkos war mit einem schwarzen Wolga verbunden, für den Knaben ein riesiges Auto mit einer Kühler-Schnauze, die bedrohlich aussah; als würde sie alles verschlingen, was sich dem Wagen in den Weg stellte. Das Autos schien die Kraft eines Traktors zu haben, und als der Fahrer, ein kurzgeschorenes, immerzu lächelndes Kraftpaket namens Iwan den Jungen aufforderte, sich hinters Lenkrad zu setzen, war Egon im Himmel. Der Wolga stand, Egon drehte das Lenkrad hin und her, und Iwan machte: „Brmmm brmmm! Molodjez!“

Bis zum Sommer 1970 wusste Egon nicht, dass Boris eine Tochter hatte, nicht einmal, dass er verheiratet war. Aus irgendeinem Grunde hatten die gemeinsamen Besuche des Ehepaares Poroschenko mit seiner Geburt aufgehört; oder lag es daran, dass wenig später Ludmilla geboren wurde und die Mutter mit der Kleinen vorerst lieber zu Hause blieb und nicht mit ihrem Mann mitfahren wollte?

Egon, der Sechzehnjährige, sah Ludmilla aus dem Wolga aussteigen – und war verliebt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass es ihm erging, wie es im Liede heisst: Mir schwanden die Sinne, mir wurde schwarz vor Augen, mir wurde lila und grün, dann sah ich Möwen, Schwäne und Kraniche ziehn … Und Ludmilla trat lächelnd auf ihn zu, streckte ihm die Hand entgegen und sagte: „Ich bin Ludmilla.“ Egon krächzte: „Egon.“ „Egon?“ Ludmilla prustete; und sie wiederholte den Namen mit einem G und mit einem N, die hart wie ein Panzer klangen: „Egon?“ Und dann umarmte sie ihn und gab ihm einen Kuss auf die rechte Wange; auf die rechte, eindeutig und unvergesslich, nicht auf die linke; es gibt Dinge im Leben, die sind unverrückbar, kitschig, einfach und unabdingbar.

In den folgenden zwei Wochen war es allen, den Poroschenkos, den Schmahles, den anderen Gästen, ein natürliches Dogma, dass Ludmilla und Egon zusammenkletteten. Wie der Blitz, der dem Donner vorausgeht, wie die Ebbe, die der Flut folgt, wie das Samenkorn, aus dem eine Pflanze wächst - die beiden verschwanden nach dem Frühstück und tauchten erst zum Abendbrot wieder auf, um danach wieder abzutauchen: in eine Welt, die Platz nur für eine Ludmilla aus Odessa und einen Egon aus dem Thüringer Wald hatte. Was geschah in dieser Welt?

Endloses Laufen, endloses Reden, endloses Schweigen. Endloses Liegen in Wiesen, endloses Blumenpflücken, endloses Vorsichhinträumen. Dann, nach fünf Tagen, sie lagen dicht beieinander neben einem Blaubeerstrauch, von dem gepflückt und gegessen hatten und wendeten sich plötzlich, als sei ein Befehl dazu erteilt worden, zueinander und küssten sich. Endlos lange. Mit blauen Lippen und blauen Zungen.

Einmal hatte Egon die Freundin gefragt, was ihre Mutter machte. Dass der Vater zu jener Schar von Männern gehörte, die seit Jahrzehnten kamen und gingen und ihren Geschäfte an der nahen Grenze nachgingen, war klar. Egon fragte nicht danach, auch weil er von seinem Vater, als er danach fragte, den unmissverständlichen Bescheid bekam: Du kannst alles essen und trinken, aber du musst nicht alles wissen.

Vasen und Teller und Becher, hatte Ludmilla geantwortet. Meine Mutter macht Keramik. Manchmal auch Medaillen. Ludmilla lachte. Medaillen, wir Russen brauchen viele Medaillen. Weil wir viele Helden und viele Erinnerungen haben. - Aber ihr seid Ukrainer? hatte Egon gesagt. Ludmilla nahm seinen Kopf zwischen ihre Hände, zerwuschelte sein Haar und sagte: Du bist ein typischer Deutscher, Egon. Alles hat seine, wie heissen diese Fächer in Kommoden? – Schubläden, antwortete Egon. – Schubläden, genau. Fffft! Russen, Ukrainer – alles eine Soljanka!

Sie küssten sich. Sie fühlten ihre Körper. Sie drängten zueinander. Er schaute ihre nackten Brüste an, als sie auf einem Hang zu einem Bach lagen und sie ihre Bluse abgelegt hatte. Ein Bach, der zwei Kilometer weiter westwärts von einem Drahtzaun zerhackt wurde. Sie legte ihre Hand auf seinen Bauch. Er küsste ihre Brüste, sie küsste seinen Bauch. Als die Poroschenkos nach zwei Wochen abfuhren, hatten Ludmilla und Egon nicht miteinander gefickt. Sie hatten es vermieden, als wollten sie das Vorspiel ihrer Liebe bis ins Unerträgliche, bis ins Docherlebnis verlängern; und es würde einen nächsten Sommer geben, waren sich die beiden sicher, dann. Seitdem hatten sie sich nicht wieder gesehen.

10.

Es war kalt geworden, ihn fröstelte.

Egon konnte sich noch immer nicht von dem Foto lösen. Ludmilla, Boris, Margareta, Vater Hermann. Etwas stimmte nicht. Etwas beunruhigte Egon. Er zögerte, in dem Album weiterzublättern.

Er zündete einen nächsten Kerzenstummel an. Das Licht flackerte, die Schatten an den Wänden lebten in einem eigenen Film. Chimären waren unterwegs. Sie flogen ein und aus. Sie benutzten die Höhle des Alten als Passage. Es gab nichts, was sie aufhalten konnte; es gab nichts, wofür sie anhalten wollten. Sie waren keine Auskunft schuldig. Wahrscheinlich wussten sie sowieso nichts. Es waren wichtigtuerische Schatten an den Wänden. Sie spielten ein Leben, das es nicht gab und nie gegeben hatte. Sie prahlten mit einer Existenz, die sie niemals hatten. Aber sie konnten dafür sorgen, dass sich jemand zu fürchten begann. Jemand, irgendjemand, nicht Egon.

Egon schlug die Seite um. Dann die nächste. Er als Abiturient. Er als Student. Er mit seiner ersten Frau. Der das Album angelegt hatte, fokussierte sich auf Egon. Ein paar ausgewählte Fotos noch von Gästen und vom Haus Schmahle, um zu zeigen, wie sich die Zeiten in Kleidung und Haus-Ausbau wandelten. Ein Foto, das Hermann und Karin zeigte (Silberne Hochzeit, 1995, stand darunter), ein Foto, dass die Feier-Gesellschaft zeigte. Inmitten der Meute fand sich Egon wieder, vierzig Jahre alt mittlerweile, an seiner Seite Martha, die neue Frau nach seiner Scheidung. Egon betrachtete sich. Ein einigermassen imponierender, ein ziemlich unauffälliger, ein Durchschnitts-Typ mit beginnender Glatze, immerhin hatte er keinen Bauch und eine sportliche Figur.

Das letzte Foto des Albums war das Porträt einer Dreiergruppe. Sie war, so wirkte es, in einem Studio kitschig inszeniert. Sie stand vor einer gemalten Kulisse: weisse Villen kletterten einen Hügel hinauf, ein blauer Himmel über einem blauen Meer, ein paar Segelschiffe. Die Gruppe bestand aus Hermann, Margarete und – Ludmilla. Unter dem Bild stand Odessa, 1998. Nicht nur Ort und Datum liessen Egons Herz schneller klopfen. Er erkannte Ludmilla: 1998 musste sie 42 Jahre alt gewesen sein; eine wunderschöne Frau, die in die Kamera lächelte, als kennte sie keine Sorgen. Aber das allein war es nicht. Egons Hände fingen zu zittern an. Die älter gewordene Ludmilla ähnelte nicht nur der Mutter, sondern fast in gleichem Masse – seinem Vater. Margareta und Hermann schauten in die Kamera – wie … Ludmilla? … entspannt, heiter, bei sich … Als liesse sich eine glückliche Familie vor exotischem Hintergrund abbilden.

Egon versuchte seine Gedanken zu ordnen, zu konzentrieren: auf dieses Jahr 1998, das in seiner Erinnerung ein übliches Jahr war. Was in Russland und in der Ukraine vor sich gegangen war – er hatte es damals nicht gewusst, er wusste es heute nicht. Egon war schon ein paar Jahre aus Berlin zurück und arbeitete zusammen mit Martha und dem Vater daran, das Haus Schmahle nicht nur zu einem gern besuchten Hotel, sondern profitabel zu machen. Es musste an- und umgebaut werden, es musste modernisiert werden, es musste den Bedürfnissen einer Klientel angepasst werden, die für ihr Geld etwas geboten bekommen wollten; über einen Wald und über Wanderwege verfügten auch andere Regionen Deutschlands, und Thüringer Bratwürste, Rostbrätl, Forellen aus dem nahen Bach konnten nicht jeden Tag die Hauptmahlzeit sein, und dass das Hotel in einem Gebiet stand, dass über Jahrzehnte Grenzgelände und bis auf wenige Ausnahmen nur Befugten zugänglich war – damit liess sich durchaus ein Schaudern bei denen erzeugen, die nicht genug kriegen konnten von den deutsch-deutschen Zerwürfnissen. (Es war nicht Egons Idee, ausser Schwimmhalle, Sauna-Landschaft, Grill-Garten, Kleintier-Zoo ein kleines Museum einzurichten, in dem Fotos, Waffen, Teile der Grenzanlagen und sogar ein Trabant-Jeep der Grenztruppen der DDR ausgestellt wurden; Texte an den Wänden berichteten von den Toten der Grenze, von den undurchsichtigen Geschäften der Geheimdienste; es war Hermanns Idee, und das Museum wurde von den Gästen des Hotels gern besucht. Wenngleich die Attraktion mit den Jahren ihre Anziehungskraft verlor. Schülergruppen, die auf Klassenfahrten vorbeikamen, zeigten sich sichtlich gelangweilt; es waren die Älteren - Rentner, Pensionäre, Hobbyhistoriker - die sich den Exponaten aussetzten.)

Dass sein Vater in jenem Jahr für eine Zeitlang verreist war … musste er ja, wie wäre sonst dieses Foto zustandegekommen? … Egon erinnerte sich nicht an die Abwesenheit seines Vaters.

Und nirgendwo eine Spur von Boris Poroschenko. War er tot? Hatte er er Frau und Tochter verlassen? Hatten sie ihn verlassen? War er in Ungnade gefallen, in die Opposition zu irgendwem und irgendwas geraten, in diesen Zeiten, in diesen Breiten – war da nicht alles möglich? Egon liess die Blätter des Albums durch die Finger fliegen. Untersuchte den Einband, ob es versteckte Hinweise gab. Stellte das Album auf den Tisch und klopfte es ab. Nichts. Da war nichts, obwohl da etwas gewesen war.

11.

Egon blieb über Nacht in der Höhle. Er legte sich auf das ausgelegene alte Sofa, das vor langer Zeit in der so genannten Guten Stube des Hauses, das jetzt zum Hotel Schmahle ausgewachsen war, gestanden hatte. Eines Tages musste es auf den Weg gebracht worden sein, von wem und wie – Egon hatte es nie gewusst oder vergessen.

Egon schlief unruhig, einige Male wachte er auf. Meinte, Schritte und Geräusche zu hören. Wisperte jemand im Dunkeln? Gab es das? fragte er sich, gab es chimärische Geräusche? Wenn es Chimären gab, dann würden sie auch Geräusche machen. Aber es gab keine Chimären; sie gehörten einer anderen Welt an, einer Welt der Märchen oder Mythen.

Er stand auch auf und trat hinaus auf den natürlichen Balkon und blickte in die Tiefe des Lochs. Einmal pinkelte er hinunter. Wenn Hermann da unten war, es würde ihn nicht stören.

Am nächsten Morgen steckte er das Album in den Rucksack und kehrte heim. Es war unmöglich, seiner Frau aus dem Weg zu gehen. Was denn geschehen sei? fragte sie ihn. Was denn mit dem Alten sei? wollte sie wissen. Ich weiss es nicht, antwortete er wahrheitsgemäss. Ich habe ihn nicht gefunden. „Und nun?“, fragte Martha.

Egon zuckte mit den Schultern und sagte, dass er die Keramikerin in G. besuchen müsse, um dann wahrscheinlich nach Odessa zu fliegen. Nach Odessa? Wieso denn nach Odessa? Da unten ist Krieg! Ob er auf dem Wege sei, so verrückt zu werden wie sein Vater. Beinahe schrie Martha. Egon nickte und dachte plötzlich: Man muss nicht alles essen und trinken, aber man darf alles wissen.

Eckhard Mieder