Zweiter Teil Der Waldmensch

Prosa

Was bisher geschah: Einem Eremiten fällt ein wimmernder Mann vor die Füsse. Der hat offenbar ein Problem mit dem Kapitalismus. Das empfindet der Eremit nicht als sonderlich spektakulär. Der Mann und der Eremit bleiben im Gespräch.“

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Foto: em

25. Januar 2018
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„Sie sollten sich erheben“, sagte ich dem Mann, den ich auf Anfang Vierzig schätzte.

Meiner Meinung nach hat es noch nie etwas gebracht, auf Knien herumzurutschen und um irgendwas zu flehen. Vielleicht war es so, dass man einem König, einem Sultan, einem Häuptling das Herz wärmte und ihn zur Gnade stimmte -, wir waren im 21. Jahrhundert (ungefähr; keine Ahnung, wenn wir die 300 Jahre abziehen, die angeblich gefälscht sind und quasi nicht stattgefunden haben, dann leben wir im 18. Jahrhundert; nach heutiger Geschichts-Erzählung noch weit vor der Grossen Französischen Revolution und Napoleon) -, und ich fand, dass es eine der wenig-vielen Erkenntnisse der Menschheit ist: Der Mensch soll andere Menschen nicht demütigen, er soll sich nicht demütigen, er soll sich nicht demütigen lassen, er soll andere Menschen nicht gering schätzen, er soll sich nicht gering schätzen lassen von anderen Menschen. Na und so weiter. Das Humanismus-ABC rauf und runter. Das ist wie Nase-Laufen oder Schluck-Hicksen.

„Mein Name ist Dietmar“, sagte er leise.
„Ich habe keinen Namen“, sagte ich.
„Jeder Mensch hat einen Namen“, sagte er. War da eine Spur von Leben, von Widerstand, von Aufsässigkeit? Drang aus dem Häufchen Elend zu meinen Füssen ein Hauch Selbstbewusstsein zu mir hoch? Etwa Arroganz? Das gefiel mir.

„Sicher?“, fragte ich. Und falls ich einen Namen hatte (natürlich hatte ich einen, nur war er unwesentlich geworden, es gab niemanden, der nach mir rief, es gab niemanden, dem ich mich vorstellen und darstellen wollte): Dietmar hiess ich jedenfalls nicht und wollte ich auch nicht heissen.
„Warum wollen sie mir Ihren Namen nicht nennen?“, fragte er.

Ich zuckte mit den Schultern. War doch egal war, ob ich Hase hiess und von nichts wusste. Weil ich vor Jahren beschlossen hatte, ein Zoon apolitikon zu werden? Wer nicht mehr politisch denken und handeln möchte, der braucht auch keinen Namen. Er ist weder ein Absender noch ein Adressat. Oder heisse ich mit Vornamen Cicero, Platon, Sokrates und mit Nachnamen Rumpelstilzchen und ich tanze jeden Abend vor dem Zelt um mein Lagerfeuer und singe: „Ach, wie gut, dass ich nichts weiss! Was ich weiss, macht mich nicht heiss! Ich will nur mein Süppchen kochen! Meinetwegen nennt mich Jochen!“

„So demoliert bin ich nicht“, sagte jetzt der Mann, stand auf und schlug sich den grünen Moos- und Waldboden-Modder von den Hosen-Knien. Energisch, entschlossen, ja er kam mir geradezu aufrecht vor. „Ich weiss, dass ich ein Untertan bin. Ich weiss, dass ich eine Pfeife bin. Meine Frau verachtet mich, meine Vorgesetzten mobben mich. Mein Sohn geht auf jede Demonstration gegen den Staat und meint nicht mal mich, den Vater! Weil ich, der Vater, ihm keinen Widerstand wert bin! Aber über so viel Würde verfüge ich doch: Mich nicht im Wald von einem Mann arrogant behandeln zu lassen, von einem Mann, der aussieht, als bräuchte er eine Dusche und“, er hielt sich demonstrativ die Nase zu, „und Seife!“

Gut gebrüllt, wollte ich ihm sagen. Weiter so, wollte ich ihm empfehlen. Pumpe dich auf, plustere dich auf, werde wütend – und dann gehe zurück in den Kapitalismus und mache ihn fertig. Zack, Knie zwischen die Beine, Handkante gegen die Gurgel, zack, mit dem legendären Wischiwaschi-Griff einer asiatischen Kampfkunst, deren Namen ich vergessen habe, in die Augen oder in den Mund hinunter zur Lunge und raus damit! Dass er nicht mehr atmen kann, der Lumpenhund! Betrachte mich, den Eremiten, dem langsam die Zeh-Nägel in den Humus des Waldes wachsen, als deinen Feind! Trainiere an mir deine Wut, deine Aufsässigkeit, deine Lust am Widerstand! Ich bin dein Sandsack, prügle auf mich ein!

Mir fiel das altmodische Wort „Klassenfeind“ ein. Die Bezeichnung gibt es noch, den Corpus nicht mehr, heisst es. Ich erinnerte mich an die Zeit in meinem Leben, in der es Klassenfeinde gab (sagten meine Pädagogen und Propagandisten, bevor ich selber als Pädagoge und Propagandist anheuerte), ich erinnerte mich auch an die Zeit in meinem Leben, in der es Klassenfeinde nicht mehr gab (sagten Politiker, Soziologen und Journalisten, als ich nicht mehr dazu gehören wollte) -, und weil diese Zeiten hinter mir lagen und ich seit zehn Jahren in einem Waldstück über Bad Gerolstein lebte, sagte ich zu dem Mann: “Statt eines Namens kann ich ihnen ein Glas Mineralwasser anbieten. Ich habe auch ein Stück Rehfleisch dabei. Vom Rücken geschnitten, feiner Happen. Gestern überm Feuer gebraten.“ Bedachte ich es recht, war ich sehr entgegenkommend. Dafür, dass er mir zu verstehen gegeben hatte, dass ich stank und verdreckt aussah, war ich ein nobler Gastgeber.


Dritter Teil

Eckhard Mieder