Eckhard Mieder Der Untergang der Break of Dawn

Prosa

Ich habe keinen Grund, zerstörerisch zu sein. Marmor, Stein und Eisen bricht. Erosion. Die Dinge rosten, das Material, aus dem sie sind, zerfällt. Mein Herz nicht. Ich singe, obwohl ich keine Stimme habe.

Charles O'Rear
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22. November 2011
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Korrektur
"In der Mokka-Milch-Eisbar hab ich sie gesehn, in der Mokka-Milch-Eisbar, da ist es geschehn." Ich singe und wundere mich, dass ich den Text wieder weiss. "An einem Sonntag in Avignon spielt la musique in Avignon, da brennen tausend Laternen am Fluss, und alle Mädchen erwarten da einen Kuss, an einem Sonntag in Avignon, da kommt die Liebe nach Avignon. Kchhh!" Es wird keine vier Stunden mehr dauern. Was kommt dann? Das weisse Nichts. Roter Regen. Brüllendes, schnatterndes Chaos?

Heute vor achtzig Tagen, am Morgen des 22. Juli, explodierten die Motoren des Schiffes. Heute, achtzig Tage danach und seit einer Woche allein an Bord, bin ich ein glücklicher Mensch. Heute, achtzig Tage danach und drei, vier, fünf Stunden vor meinem Tod - bin ich ein glücklicher Mensch ein glücklicher Mensch, kchhh! Scheisshusten. Scheissschleim. Aber warm. Bäuchlings, rücklings - ich presse mich gegen das Eisen des Oberdecks. Meine Finger spielen mit den Nieten. Ich würge an meinem Magen, der rauswill und rauskommen wird. Ich begreife seine Ungeduld nicht. Warte, wärmendes Gedärm. Warte auf die Vögel, die dich verschlingen werden.

Der erste Mensch hatte keine Frage. Er war das Chaos, aus dem er wurde. Er brüllte, schnatterte, heulte. Fragen hatte er keine. Auch ich habe keine Fragen. Ich bin wie er. Hat das Chaos Fragen? "Lasst uns frooh uund munter sein, und uns reeecht von Herzen freun, lustig, lustig, trallalalala, bald ist Nikolauusabend da." Meine Grossmutter sang dieses Lied. Sie sang es im März, im April, im Mai, nie im Dezember. Ich habe sie nicht gefragt: Oma, warum singst du dieses Lied nie dann, wenn es gesungen wird von den meisten, von allen anderen? - Wer würde mich dann hören? fragte sie mich. Ich werde ihr meine Frage stellen. Nachher.

Die Explosion hatte etwas Beruhigendes. Das Schiff hörte auf zu atmen. Wir krochen aus den Luken und sammelten uns. Wir warteten. Niemand tat etwas. Wir rauchten nicht mal. Es schien eine Absprache zu geben. Sie betraf die Nutzlosigkeit jeden Tuns in diesen Minuten. Wir warteten. Unter unseren nackten Füssen das Deck, der Hohlraum, der Ozean, die Erde. Niemand wagte hinab zu steigen. Wir schwitzten und stanken nach Rum. Wenig Rauch aus dem Maschinenraum, bläulich das Bisschen, schüchtern.

Der Ozean glatt und zäh. Nur das ewigkristalline, schamlose Raunen des Wassers. Niemand musste hinabsteigen. Wir mussten nur warten. Auch das wussten wir. Nach einigen Minuten schoss der Lüfterkopf wie eine Rakete davon. "Was soll der Quatsch?", fragte jemand hinter mir. Ich erkannte die Stimme nicht. Wir starrten auf das Loch, aus dem ein blutiger Klumpen fiel. Plumpste heraus, kullerte, stolperte, ein Fleisch, aus dem es wie von einer zerkratzten Schallplatte quakte: "Das war's denn, das war's denn, das war's denn!" Mikkis Stimme.

Nur noch seine Stimme wie ein falsch eingestellter Sender aus einem Radio, dessen Batterien kaum noch Saft hatten. Mikki. Daher sein Name. Es gab in meiner Kindheit ein winziges Kofferradio, das auch die anderen auf der BREAK OF DAWN kannten. Es hiess Mikki. Mikki, der Erste Maschinist, fiel dem Kapitän vor die Füsse. Das Geräusch eines nassen Wischlappens. Wie konnte Mikki, verbrannt bis auf das rohe Fleisch, die Augen zerschmolzen, den Kapitän gesehen haben? Wie konnte Mikki den Versuch unternehmen zu salutieren? Der Kapitän, Duffy St. Pierre, drehte sich angewidert weg. "Ungebildeter Kerl", hörte ich ihn brummen, "kennt nicht mal den Unterschied zwischen Dann und Denn." Mikki, der Schlagfertigste unter uns, konnte dazu nichts mehr sagen.

Wozu war es wichtig, den Unterschied zwischen Dann und Denn zu kennen? Für wie viele Menschen ist er wichtig? Dreissigtausend? Dreihunderttausend? Und wenn es drei Millionen sind - was sind schon drei Millionen Menschen? Es gibt mehr Fische als Menschen, mehr Vögel, mehr Fliegen und mehr Bäume.

Duffy St. Pierre trat ein paar Meter beiseite und beugte sich über die Reling. Mikki war nicht seine Angelegenheit. Er gehörte zu uns, sollten wir uns um den Leichnam kümmern. Wir kannten den Kapitän gut genug. St. Pierre hasste das Wasser. Er mochte es allenfalls, wenn es in Gedichten vorkam oder als Eiswürfel in seinem Whisky. Er war magenkrank und litt unter andauernder Sehnsucht nach Weizenfeldern, Buchenwäldern und Birkenalleen. Ich kannte keinen Menschen, der ungeeigneter für die Christliche Seefahrt als Duffy St. Pierre gewesen wäre. Trotzdem respektierten wir ihn. Das eine ist, die Schwäche eines Mannes zu kennen. Das andere ist, sie auszunutzen.

St. Pierre hatte als Kind den Entschluss gefasst, Seemann zu werden. Und er fuhr eines Tages zur See. Was ihn dazu befähigte, waren seine navigatorischen Fähigkeiten und dass er nicht schwimmen konnte, aber dennoch keine Angst vor dem Ozean hatte. Ich sah ihn stehen: Mit heiterverrücktem Gesicht stand er im Sturm, ohne angebunden zu sein, und liess Woge um Woge über das Deck rollen. Kchhh! - Hinter Mikki quoll Qualm aus dem Maschinenraum. Wir wichen zurück. Als hätten wir uns schützen können. Als könnten wir davon kommen, zu Fuss über das Wasser. Als wäre der Ozean ein stabiler Fluchtweg. Die Explosion des Schiffes, wir wussten es: noch drei Sekunden, noch zwei.

Die meisten hielten die Augen geschlossen. Duffy St. Pierre nicht. Ich auch nicht. Etwas im Schiff explodierte. Eisen. Material. Die BREAK OF DAWN knirschte, ächzte, der Stahl dehnte sich, zog sich zusammen, hielt. "Ein zuverlässiges Schiff, untergangssicher, und wenn der Kapitän es wünscht, wird die Holztäfelung seiner Kajüte statt aus finnischer Birke aus Mahagoni angefertigt." So stand es im Verkaufsprospekt der Werft, das wir in der dritten Woche nach der Explosion in der Kajüte des Kapitäns fanden. Darüber liess sich witzeln. - Wir standen an Deck. Wir warteten. Doch der Ozean wollte uns nicht. Uns nicht, unsere Ladung nicht, den Müll und Dreck nicht, der aus uns und der Ladung bestand. Wir waren längst, dachte ich später, zu dem Abfall geworden, den das Schiff transportierte.- Uns befiel eine blödsinnige Euphorie. Wir lebten.

Das Schiff sank nicht. Nur Mikki war krepiert. Duffy St. Pierre sagte: "Freigang, bis übermorgen! Macht, was ihr wollt!" Er verzog sich in seine Kajüte. Wir trampelten in die Kombüse und holten aus den Eisschränken alle Flaschen, die wir greifen konnten.

Ich habe keinen Grund, undankbar zu sein. Ich schlafe seit Tagen an Deck. Wenn ich wach bin, krieche ich dem Schatten nach. Ich verdöse die Zeit und lasse den Ozean in mich hinein. Ich war schon immer da. Ich bin der erste Mensch und lerne als erster Mensch die Sonne kennen. Sie hat mich ausgedörrt. Ich bin auch der Ozean. Ich bin kurz vor der Umarmung mit allem, was es gibt. Es könnte das Hirn sein, das noch sieht und hört, wenn ich nichts mehr sehe und höre. - Fetzen. Ich zwinge mich, Sätze zu finden. Du bist allein. Du wolltest immer allein sein. Du musst dankbar sein. Jetzt kannst du dankbar sein. Ich bin dankbar. Ich versuche es zu schreien. "Ich bin dankbar." Ich höre nicht mal das Krächzen.

Ich erwachte vor den anderen. Sie lagen dort, wo der letzte Schluck sie umfallen liess. Sie schnarchten, sie seufzten im Schlaf, einige hatten sich eingerollt wie Embryos im Mutterleib, andere hatte Arme und Beine von sich gestreckt wie Freier, die dafür bezahlt hatten, dass irgendeine Hure sie in weniger als dreissig Sekunden zur Ejakulation ritt. Sie sahen glücklich aus. Sie lagen erschütternd hilflos da. Ich stieg über ihre Leiber, lief bis zum Kreuzerdeck und sah überrascht, dass Duffy St. Pierre dort stand und ins Meer starrte.

Dorthin, wo die Schraube sich nicht mehr drehte. Trotzdem machte das Schiff Fahrt. Wirbelnd öffnete und schloss sich das Wasser. Eine Spur des Eisens, die sich glättete. Der Ozean nahm gleichgültig von uns Kenntnis, begrüsste uns in jeder Sekunde, um uns in jeder Sekunde zu verabschieden. Ich trat neben den Kapitän. Wir starrten zusammen hinunter, bis er sagte: "Ich bin glücklich, können Sie das verstehen?" Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Heute, jetzt, weiss ich es. "Ich verstehe Sie. Ich bin auch glücklich." Der Kapitän wusste, was geschehen wird. - Es ist niemand mehr an Bord, dem ich davon erzählen kann.

Das Schiff war nicht gesunken. Als die Mannschaft zu sich kam und sich um den Ladebaum versammelte, warteten wir auf eine Entscheidung. Etwas musste geschehen. Wir sahen den Kapitän an. Es machte ihm nichts aus, angestarrt zu werden. Ich fragte mich, was er in den vergangenen zwei Tagen gemacht haben könnte. Gelesen? Geschlafen? Briefe geschrieben? Getrunken wie wir? Die Mundwinkel drückten seine Verachtung aus. Spöttisch sah er einen nach dem anderen an. "Schafft ihn endlich weg!", befahl er und zeigte auf den seltsamerweise noch dampfenden Leichnam Mikkis. Vier von uns hoben ihn hoch. Dass er stank, machte uns nichts aus.

Wir warfen ihn in den Laderaum zu dem sonstigen Müll. Wir beeilten uns. Wir wollten die Entscheidung nicht versäumen. Dabei gab es nichts zu entscheiden. Der einzige, der es wusste, war der Kapitän. Wieder musterte er uns. Seine Blicke schnitten die Kleider vom Leib, legten das Herz und das Hirn frei. Ich stellte mir eine Operation vor, die ohne Skalpell durchgeführt wird. Nur mit Blicken. Duffy St. Pierre sagte kein weiteres Wort. Er wendete sich von uns so angewidert ab wie von Mikkis Leichnam. Und jeder von uns wusste, was zu tun war. Funksprüche in den Äther schicken. Nachschauen, welchen Schaden das Schiff genommen hatte. Aufräumen und Reparieren. Was denn sonst? Jemand sagte: "Scheisse, ich hab die Heuer von drei Reisen unterm Kopfkissen." Wir lachten und fühlten uns sicher. Nur einer sagte: "Die kannst du dir in die Pfeife stopfen."

Kcccch! - Wohin wir kamen, wurden wir abgewiesen. Niemand wollte unsere Fracht. Müll, Schutt, Abfall. Vor Guadalajara zwangen uns vier Kriegsschiffe der mexikanischen Marine und zwei Hubschrauber zum Beidrehen. In der dortigen Presse hiess es später "Dieser Zwischenfall illustriert erneut, wie gewisse Kreise der Industrienationen Mexiko im besonderen und Lateinamerika im allgemeinen missachten. Sie betrachten uns als Müllhalde." Niemand unter uns regte sich darüber auf. Niemand von uns missachtete Mexiko im Besonderen und Lateinamerika im Allgemeinen. Wir fuhren Müll, das ist unser Job. Wir bringen Müll von einem Ort der Welt zu einem anderen Ort der Welt.

Riesige Prämien werden an Regierungen gezahlt, damit sie den Müll abnehmen. Die Christliche Seefahrt erhielt den Auftrag, den Müll fortzuschaffen. Meistens bringen wir ihn zu einigen pazifischen Inseln, und obwohl die Regierungen wechselten, blieb das Geschäft das gleiche.

Fand ich vernünftig. - Kccccch! verdammter Husten! - Es waren Inseln gewählt worden, die nie eines Menschen Fuss betreten hatte. Sie waren zu klein für eine Gemeinschaft von Menschen, zu unwirtlich, zudem seismographisch sehr unsicher. Die zunehmenden Müllberge boten die Garantie, dass dort nie ein Mensch sich niederlassen würde. Das wäre ein Problem gewesen. Wo der Mensch Hütten baut, schreibt er eine Hausordnung. Schreibt er eine Hausordnung, möchte er einen Hausmeister bestallen, der auf die Einhaltung der Hausordnung achtet. Hat er den, dann braucht er einen Ordnungshüter, der den Hausmeister schützt, und dann braucht er eine Kontrolle über den Ordnungshüte r... Und schon gibt es das Geschrei nach Menschenrechten und Umweltschutz ... Kccch! Seitdem ich so denke, muss ich lachen.

Ich hatte die Fahrt zu den Inseln zweimal mitgemacht. Den Gestank hatten wir fünfzehn Seemeilen vorher in der Nase. Sie liessen sich nicht mehr betreten. Die Inseln waren Müll geworden, der Müll war Insel geworden. Sie schimmeln, treiben Blasen, unaufhörlich platzen Müllrosen und rinnen ölige Bäche in den Ozean. Der Gestank war als dampfende Säule zu sehen. Der Abfall, der in die Tiefe sank, würde Türme bilden. Atolle. Neue Inseln. In der starken Sonne schmolz das Material. Je näher wir den Inseln kamen, desto trüber wurde das Wasser. Es färbte sich von Lichtblau ins Violette bis ins Bräunliche. Und Riesige Vögel speisten von der Tafel der Verrottung. Sie gleichen der Archeopteryx lithographica, deren Gestalt und Fähigkeiten bis heute unbekannt sind.

Es fällt mir wieder ein: Vor einigen Jahren waren zwei Forschungsschiffe in See gestochen, um das sagenhafte Getier zu beobachten. Die Schiffe verschwanden spurlos. Müll zu Müll. In einem letzten Funkspruch ging die Rede von einer Herde Seeschlangen. Unfug. Wahrscheinlich war der Funker, das Grässliche vor Augen, wahnsinnig geworden. Ein Sensibelchen. - Die Vögel hatten keine Scheu vor unseren Schiffen. Wir konnten an den Rändern des Mülls ankern, und vermittels eines dafür gebauten Kranes hoben wir den Müll aus den Laderäumen und luden ihn ab.

Wir trugen Schutzmasken dabei, und manchmal dachte ich: So merkwürdig uns die Vögel erscheinen, so merkwürdig erscheinen wir ihnen. - Ich halte diese Vögel für intelligent. Sie schauten uns zu und sortierten den Abfall. Wahrscheinlich erwarteten sie uns mit einer gewissen Neugierde. Was würden diese seltsamen Wesen heute bringen? - Ich bin sicher, sie sind des Lesens kundig. Genug Bedrucktes landet bei ihnen. Vielleicht hatten sich die Teams der Forschungsschiffe doch in das Innere einer Insel vorgewagt. Dorthin, wo die Vögel ihre Zivilisation gegründet hatten und schützten. Von der BREAK OF DAWN wäre niemand auf die Idee gekommen, auf die Vögel zu schiessen oder ihr Reich zu betreten.

Vielleicht, davor hatten wir einen, nie ausgesprochenen, Respekt, vielleicht waren sie die zukünftigen alleinigen Bewohner des Planeten, und sie betrachten uns mit der nachsichtigen Arroganz der Nachfahren. Kann sein, die Forscher kamen deshalb ums Leben, weil sie die Rollen verkannten. Nicht sie waren die Überlegenen, die Vögel sind es.

Ziemlich sorglose Tage kamen und gingen. Wir glaubten nicht, dass uns der Proviant ausgehen könnte, bevor uns ein anderes Schiff aufbringen würde. Wir trieben dem Äquator zu, der Ozean friedfertig. Die Sonne prächtig und in geheimer Absprache mit dem verstummten Maschinenraum, in dem Mikkis Kollegen lustlos herumreparierten. Nur wir vertraten die Christliche Seefahrt. Duffy St. Pierre kam einmal am Tag aus seiner Kajüte. Er lief das Schiff ab, gemessenen Schrittes, von Bug bis Heck, von Heck bis Bug. Blieb stehen, musterte einen von uns. Oder stand vor einem Grüppchen, das Karten spielte, trank, ass. Duffy St. Pierre wollte nicht reden. Er hatte keine Fragen an uns, wir hatten keine an ihn. - Später, als er tagelang nicht erschienen war, sagte einer von uns: "Was is mit Duffy?" - Wir suchten das Schiff Zentimeter für Zentimeter ab. Duffy St. Pierre war verschwunden, und falls die Logik noch irgendwie galt, war er freiwillig über Bord gegangen.

Jetzt kann ich ihn verstehen. Der Kapitän konnte sich mühelos aus dem Bund, den er mit dem Leben geschlossen hatte, lösen. Ihn hielt nichts. Das kann ein Mann bei klarem Verstand und mit einem guten Gehalt eine sichere Erkenntnis sein. Wie sie mir eine ist. Er konnte jederzeit sein, was er seiner Veranlagung und Bildung nach war: ein Gedichteleser, ein Whiskytrinker, ein Selbstmörder. Wäre er Direktor eines Bergbaus gewesen, hätte er sich unter Tonnen von Kohle begraben lassen. Eines Tages. Der sich über Tage und Wochen hinziehende Selbstmord des Schiffes und der Besatzung erfreute seinen Kunstsinn. Jedenfalls solange, wie er Spass daran hatte und Publikum sein wollte. Als sich die unsauberen Seiten unseres Verrottens zeigten, machte er sich davon.

Die erste Messerstecherei begann aus Jux. Matthew, ein Kanadier aus der Provinz Saskatchewan, spottete über den Schwanz seines Freundes Karl. Wir kannten das Spiel, es war unter normalen Umständen langweilig. Matthew hielt von Zeit zu Zeit eine Rede, in der er die Überlegenheit der Kanadier über sämtliche Nationen und Rassen behauptete. Sie gipfelte stets in dem Satz: "Und die längsten Schwänze haben wir aus Saskatchewan." Karl, teutonisch gleichmütig, entgegnete stets: "Auch der längste Schwanz geht mal zuende, und dann stehst du da, mit deinem Kopf, in dem nur Bärenfleisch ist!" Im Übrigen käme es nicht auf die Länge an, sondern auf die Phantasie, mit ihm zu arbeiten.

Ein uraltes, törichtes Spiel, von dem Zeitschriften leben. Und Psychiater. Ein Spiel, dass schon die Wikinger spielten. Es ist überliefert - oder halluziniere ich? -, dass Erik der Rote, als er mit seinen Leuten amerikanischen Boden betrat, den kleinsten unter den Seinen auswählte und ihm gebot, seinen Samen ins Gras zu schleudern. Und dann knieten sie nieder, alle Mann, und wichsten, was das Zeug hielt.. - Kccch! Ein dummes Spiel, aus dem diesmal ein Mord wurde. Matthew kriegte einen Stich in den Hals und einen in die Leber. Eine Blutfahne hinter sich herziehend, fiel er über die Reling und verschwand im Meer. Ich schaute zu, wir alle schauten zu. Gebannt von der plötzlichen Gewalt. Und mir fiel eine Episode aus einem Krieg auf dem Festland ein. Einem Soldaten wurde in den Kopf geschossen, und er lief noch zehn Meter und versuchte, sein Gehirn einzusammeln.

Gott, wenn es ihn gibt, wird mich und die anderen verfluchen. Warum er mich bis jetzt am Leben liess, weiss ich nicht. Aber wenn es ihn gibt, hat er kein Recht darauf, uns zu verfluchen. Er hat uns geschaffen, also hat er auch die Zerstörung geschaffen. Vielleicht ist das seine geheimste Absicht: seine einmalige Schöpfung, seine einmalige Ordnung langsam durcheinander bringen zu lassen durch seine Schöpfung, vermittels seiner Ordnung. Ich muss kichern. Heiss brennt die Sonne auf meinem nackten Rücken. Gott ist ein Kind! Erst spielt es sinnreich mit Bausteinen, dann zertrümmert er lustvoll den Turm. - Ich bin so ausgetrocknet, dass es vom Magen hoch raschelt, wenn ich atme.

Ich weiss, es gibt ihn nicht. - Ich bin wie die BREAK OF DAWN: ein ausgebranntes Schiff. Aber ich kann den Kopf schütteln, kann Nein flüstern, schreien, fluchen. - In mir ist ein Gelächter, ein Ozean von Lachen ... Ich denke, dass der Ozean eine Frau ist. Ich kriege eine Erektion, knie mich hin - eine Anstrengung, der ich mich zum letzten Mal unterziehe - und lasse die Hose fallen. Ich betrachte ihn. Ich sollte mir einen runterholen und den Samen schlürfen gegen den Durst ... Aber was liegt an einer Stunde mehr? Da gibt er auch schon wieder auf und kriecht zurück in das Fleisch, das ich bin. - Gott! Wenn es dich gibt, dann lache ich über dich! Wenn es eine Seele gibt, die als Vogel davon flattert, dann möge sie schneller sein als die Vögel des Mülls!

Was konnte uns passieren? Die Meere sind voll von Schiffen. Ein Netz von Funksprüchen, Routen, Leuchtsignalen. Zwei, drei Tage, höchstens, und ein Schiff würde uns aufnehmen. Wir assen und tranken, was das Schiff hergab. Wie im Rausch. Wir machten Ferien von der Welt. Es gab keine Verantwortung, keine Entscheidung, es gab nur ein Warten. Ein orgiastisches Warten. Ohne Moral. - Eine Woche verging, eine zweite. Niemand meldete sich. Das Schiff trieb zwischen Sonne und Ozean durch einen Raum ohne Antwort.

Unsere Stimmen hallten in einem riesigen Saal mit Wänden aus Luft und Wärme. Wir waren verhext. Das Fest bröckelte. Erst verschwand einer aus dem Kreis und suchte sich eine Ecke, in der er allein sein konnte. Dann der nächste. Jede leere Flasche, die über Bord ging, wurde von einem leisen Fluch begleitet. Noch tanzten wir und sangen unflätige Lieder. Sie übertönten nicht das kristalline Raunen der Frau Rusalka unterm Kiel der BREAK OF DAWN.

Von Stunde zu Stunde wurden wir uns fremder. Wir kannten uns. Beinahe jeder von uns hatte sich schon mit jedem anderen geprügelt. Ein Gleichgewicht der Kräfte. Jeder von uns hatte von jedem anderen schon Geld geborgt und zurückgezahlt. Es gab nur zwei Ausnahmen. Der erste Offizier, dessen Namen ich vergessen habe. Er machte seine Jungfernfahrt. Armer Kerl. Er wurde in der vierten Woche nach der Explosion und ein paar Tage nach Duffy St. Pierres Verschwinden wahnsinnig. Mit dem Ruf: "Elvira, ich komme!" sprang er ins Wasser. Wir winkten ihm nach. - Die zweite Ausnahme ist Johann Wolfgang. Er hiess eigentlich Ludwig, kam aus einer vorpommerschen Landschaft.

Er war der Ansicht, dass aus Deutschland keine bedeutenden Dichter kommen. Das gesamte Gebirge der Weltliteratur - kccch! ein Verrückter! - sei Lug und Trug. Es habe keinen Goethe gegeben, keinen Schiller, keinen Heine. "Das hat die Loreley getan." Er selber, Ludwig, war ein Dichter, der sich seiner Heimat schämte. Was für ein Unfug! Heimat - was ist das schon. Ich schäme mich, wenn ich eine Frau anmache und ihn dann nicht hochkriege. Ich komme mir vor wie ein Betrüger. Aber Heimat? - Johann Wolfgang, wie wir ihn nannten, war der furchtloseste Mann, den ich je gekannt habe. Ich sah, wie er auf Männer zuging, die Messer in den Händen hielten und blutige Köpfe hatten.

Er ging auf sie, seine grünen Augen liessen nicht von den Gesichtern der Kampfhähne, die nach kurzem Zögern fluchend von ihren mörderischen Absichten liessen und bei einer Flasche Schnaps zu schunkeln anfingen. Ausserdem hatte Johann Wolfgang, pickliges Gesicht und rotes Haar, einen enormen Schlag bei Frauen. Weiss der Geier, warum die Huren scharf auf ihn waren! - Ich bezeichne ihn als Ausnahme, weil ihn niemand so recht verstand. Er kam als letzter und schreckensbleich an Bord. Ich hörte ihn flüstern: Ich habe eine Ahnung! Später trug er ein Gedicht vor, ein Sonett nannte er es, und es war am Abend vor dem Motorschaden. Die letzten Zeilen habe ich noch. DAS SCHIFF, DAS SEELENVOLLE, SCHLINGERT SCHWER, ES RUFT NACH IHM DER TOTE GRUND VOM MEER. Er sei, rief er ins Gelächter der Kameraden bescheiden, selber noch nicht damit zufrieden.

Ich komme ins Schwatzen. Es erheitert mich, an die Menschen zu denken, die das Schiff verliessen.

Der plötzliche Hass zwischen uns. Die Gier zu überleben. Johann Wolfgang wurde als erster geschlachtet; das Los hatte es entschieden. Er war mager, sein Fleisch war zäh. Bald gab es die Demokratie des Loses nicht mehr. Wir trauten uns nicht zu schlafen. Wer schlief, wurde erschlagen und gefressen. Ich vergesse die Nacht nicht, da Jack und Werner, Namen ohne Gesichter inzwischen, ein Jagdbündnis eingingen, um Louis zu töten. Sie waren Freunde gewesen, dicke Freunde! Kccch! Die Zweideutigkeit des Wortes.

Ich bin der letzte. Der Übriggebliebene. Ein Einzelfall. Das Leben war mir gegeben, jetzt wird es mir genommen. Müll. Es ist ganz einfach. Ich schliesse die Augen und sehe eine Bibliothek oder einen Waschsalon oder einen Wasserfall. Tosende Stille. Ich sehe die Bären in den Wäldern von Saskatchewan, und ich lasse mir von Johann Wolfgang eine Widmung in seinen zehnten Gedichteband schreiben. Die Küste Johann Wolfgangs besteht aus Steinen, Millionen und Milliarden Steinen. Die Vorstellungen sind rein. Seit Tagen schlafe ich auf Deck, verdöse die Tage und lasse den Ozean in mich hinein.

Er war schon immer in mir. Er war schon immer da. Aber ich bin der Mensch, der ihn zum ersten Mal sah. Der seinen Kopf hob, aus dem Wald trat und das Wasser schaute. Ich bin der Mensch, der ihn zum letzten Mal sieht. Wie die Sonne. Jetzt reisst sie aus ihrer Verankerung.

Eckhard Mieder