Prosa über den sozialen Abstieg Qual und Erlösung

Prosa

Es verging mindestens ein Jahr bis ich im Geschäft nicht mehr ertragbar war. Als ich die Stelle verlor, begann der soziale Abstieg schleichend einzusetzen. Den Kontakt zu meiner Mutter brach zuerst ich, dann auch sie. Die Freunde wurden weniger, Treffen seltener.

4. Juli 2008
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Die Verluste waren verkraftbar, sind verkraftbar. Ich fühle mich wohl als Aussenseiter. Ich bin immer schon ein Einzelgänger gewesen. Jetzt entschlüpfe ich den Feldern der sozialen Kontrolle und fliege durch die Wolken der Anonymität. Ich zelebriere das Rauchen von Sugar.

Draussen dämmert es ein und ich kann nicht sagen, wie lange ich schon wie gelähmt vor meinem Spiegelbild verharre.

Ein Bild, das ich nicht scharfsinnig oder konzentriert, aber bestimmt und kritisch betrachte, weil es mich befremdet, weil es mich aller meiner Initiativen entmächtigt.

Ein gewichtiges Bildnis von einem jungen Mann, der resigniert scheint wie ein Sterbender nach seinem letzten, todsicheren Seufzer. Mein bildlicher Abklatsch schaut nicht gesellschaftskonform aus, nicht Milieukompatibel weder hier noch dort, weder gestern noch morgen, er ist nicht einer euresgleichen.

Er ist ich, ich bin er. Selbstverschulden, werdet ihr parolieren, du hast es nicht anders verdient, er hat es nicht anders verdient werdet ihr in den Dörfern verlauten lassen.

Ich habe es nicht anders verdient, es ist wahr, ich wollte nie eure Sitten bejahen, geschweige denn eure Anstalten annehmen, ich wollte nie einer von euch sein, eure Haltungen kopieren oder mir diese Frechheiten erlauben. So seid ihr mir - weil ich die gewaltigeren Wellen ritt - Du schaust mich an, es wird Nacht über den Dächern und der Mond ist rund. Ich beobachte dich, mein Lichtschatten, wie du mich nachäffst. Wie du dich in mir wieder erkennst. Hast du denn keine Scham vor dir selbst?

Es ist mein Schicksal, dem ich erliege, wie ein Strom dem Bachbett folgt.

Wie von einer brutalen Vergewaltigung gemartert erkenne ich dein reines Gewissen innerer Verzweiflung, dein Gesichtsausdruck ist von lebenslanger Demütigung gepinselt, wirkt aber auf eine seltsame Weise einverstanden und vor allem schön, wie ein Gletschertopf, der über Jahrtausende von kiesigen Wildbächen drangsaliert, Rundungen von feinster Sanftheit offenbart.

Gelächter prallt wie Hagelkugeln aus einem Maschinengewehr an die bornierten, stock-konservativen Fassaden aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert, und verhallen wieder. Es ist Samstag Nacht. Einmal mehr. Das florierende Geschäft der Mainstreamkultur reisst die Jungen aus der Vernunft und die älter werdenden aus dem Schlaf. Die Klubszene wütet in der Innenstadt, müde Tanzbeine schlendern umher in Richtung nirgendwohin, im Zeitalter der funktionstüchtigen Selecta-Automaten. Ein Bouquet Teenies pferchen sich im Hauseingang zusammen und trinken sich Rausch.

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Bild: Kadyrova Strasse. / Кокшаров Александр Александрович (PD)

Die Autos stöhnen sporadisch, Strassenlampen erleuchten den bodennahen Dunst der ersten Herbstnacht und in den Nachbarhäusern wandeln Gestalten in Pyjamas durch Wohnzimmer und Küchen, suchen nach revitalisierendem Schlaf in gleichzeitig begründeter Angst vor der kämpferischen Insomnie.

Ich warte. Denn ich weiss, sie lässt sich niemals bezwingen.

Der Schlaf ist unerzwingbar, er gehorcht keinen Befehlen und kennt keine Bezwinger ausser dem teuflischen Methadon. Ich warte.

Derweil tummeln Menschen unten durch, feuchtfröhlich geladen, vergessen zwischen Zeit und Raum. Ich warte noch, doch es nützt nichts, der nächste Hitzeschwall überkommt mich, ein Schweisser hämmert auf meinen Stahlschädel ein, jeder Schlag ein Blitz, es dröhnt und pfeift in meine Ohren, die Schläfen surren über meinen versteiften Wangenknochen. Meine Nackenmuskeln erheben die Fäuste und schwellen zu kartoffelgrossen, pulsierenden Nachtfaltern an.

Gedankenflattern, sich störrisch reckende Zuckungen in den Synapsen beirren meinen Geist. Ich erdulde es, versuche zu geniessen, denn ich bin Nahe am Ursprung, nahe am Tod, der Quelle des ewigen Lebens.

Die Tapeten blättern ab und entblössen das nacktgraue Gestein der vereinsamten Wände. Herkunftslose Windzüge zerblasen die Spinnfäden hinter den beigemelierten Radiatoren und schieben dicke, willenlose Staubknäuel über den Boden, die sich an Spänen der vergilbten Parkettlatten verfangen.

Das einzige Bild des gekreuzigten Jesus hängt schief und verwahrlost an der Wand und der Gottessohn staunt ungläubig in die Leere meines Schlafzimmers hinaus. Der Spiegel, etwas zu tief doch robust angenagelt, schleierhaft ungepflegt eine Realität reflektierend, lässt mich meine eigene und doch seltsam fremde Büste erkennen, und rahmt bei leicht gesenktem Schädel auch meinen fragenden Blick mit ein.

Es sind dunkle Fragen, wie im Koma, lebendig und bewusstlos. Ungestellte Fragen, die auf keine Antworten bangen. Ehrliche, leidvolle, tiefgründige, klaustrophobische und der Sachlage gemäss durchaus vernünftige Fragen. Existentielle, an eine höhere Macht gerichtete Fragen, die durch lautes Aussprechen gleichwohl ihre Auflösung enthüllen würden.

Denn ja, ich lebe doch noch, ich atme noch, intensiver als je zuvor. Ich bin von einer negativen galaktischen Energie durchdrängt, in eine Aura vollkommener Bitternis gehüllt am Ersticken in der von Kupfergas geschwängerten Luft. Ein lebhafter Todeskampf geprägt von substantieller geistiger Wachsamkeit. Körper und Geist driften auseinander. Mein zernagter Körper zerfällt.

Nun erinnere ich mich an früher. Ich habe mich schon stärker gefühlt, es ist noch nicht allzu lange her, vernunftorientierter und zielgerichteter. Damals konnte ich mich noch auf meinen Ehrgeiz besinnen. Ich hatte eine Aufgabe, eine Verantwortung, einen Lebenssinn. Ich erinnere mich, wie deine Haut angenehm duftete, ein Geruch der mich gefangen nahm. Ein Elixier für erstickende Lungen. Ich erinnere mich, als meine glühenden Hände dich streichelnd heilten, dich behüteten in deinen schwierigen Phasen.

Als die Liebe selten wie Sternschnuppen am Himmel wie ein Amorspfeil durch mein Herz schoss, durch mein Herz das gewillt war zu leiden. Nun sehne ich mich nach dir zurück. Ich sehne mich nach deinen Knorpeln zurück und daran, wie deine Fingergelenke sanft in meine Hände flössten, so wie die Gischt das Land mit dem Wasser verbindet. Es ist lange her. Ich bin schon mager aus Kummer.

Ich sehne mich nach den Schmerzen die du mir (mich beurteilend) zugefügt hast durch deine mündlichen Ohrfeigen. Du bist nicht die einzige Schuldige, nein du bist mein eigenes unermüdliches Schuldgefühl. Ich habe dich nicht halten können und wurde verkauft.

Wie der verlorene Sohn, von der mir am nächsten Stehenden, von der Hüterin der rechten Ordnung, aus ihrer egoistisch gekünstelten Weltanschauung verbannt.

Endlich bin ich alleine, rausgedrängt an den Abhang, weit über die Brüstung geneigt, erwarte ich deine rettende Hand nicht mehr. Ich habe jede Hoffnung verloren.

Umso tiefer ich meinen Hinterkopf in den Nacken versenke, desto weniger Augen, Nase, Mund kann ich im Spiegel erschielen und sich verkleinernde Ohren, jedoch einen umso überzeichneteren spirituellen Bart.

Ich atme ruckartig und spüre die Verspannungen wieder, Blasen auf meinen Fusssohlen brennen ätzend wie ein Durchlauferhitzer, und zellular winzig kleine Schweisskristalle quellen aus meinen Handinnenflächen empor.

Eine erdrückend hitzige Schwere, der Gedanke an eine ungewollte Schwangerschaft überkommt meinen knochigen Leib, der wie versandet auf dem Grund des kalten Entzugs Anker legt. Einen Augenblick schaudert und schüttelt es meinen Körper, und wie auf Geheiss fallen meine Lider, diese fesselnden Scheuklappen, die durch ihre Schliessung eine scheinbar grundlos verzweifelte Angst in mein Gehirn schiessen.

Ist es wirklich Angst oder ist es nur das Fehlen von Zärtlichkeit, wie sich die Dunkelheit durch einen Mangel an Licht manifestiert? Ein tiefes Einatmen, von einem kühlenden Zischen begleitet, relativiert meinen undefinierten Schrecken, und ein gedehntes, erwärmendes Aushauchen löst die subsumierte Angst in Luft auf. Meine Augenläden klappen automatisch wieder auf, ohne Anstrengung.

Die Vision der Erlösung von der Qual nistet sich in meinem Bewusstsein, in meinem Brustkasten ein. Es ist die freudige Geburt des Todes.

Abidjan Belouadah