Von Schweden zur Türkei Ungleichheiten in der Dynamik der Ära der Aufstände

Politik

Dieser Text wurde vor den Ereignissen in Brasilien geschrieben. Diese Ereignisse umfassen die vierte Dynamik der „Ära der Aufstände“ und werfen die Frage auf, in welcher Etappe der Krise wir uns befinden (Brasilien und die Türkei waren die Wunder des internationalen Währungsfonds). Doch dieser Text geht natürlich nicht auf die Analyse dieser Korrelation ein.

Zweiter Tag der Husby Riots in Stockholm am 20. Mai 2013.
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Zweiter Tag der Husby Riots in Stockholm am 20. Mai 2013. Foto: Telefonkiosk (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. Juni 2013
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Die soziale Explosion in der Türkei verpflichtet uns, genauer hinzuschauen, was geschieht, was entsteht, welche neuen Grenzen hervorgebracht werden in der Zeit, die wir Ära der Aufstände genannt haben und wie sie überwunden werden. Die Kombination der Ereignisse in Schweden und in der Türkei, ihr zeitliches Aufeinandertreffen, bestätigt die Existenz zweier Dynamiken in den Klassenkämpfen, die sich relativ autonom voneinander entwickeln. Es ist klar, dass das Aufeinandertreffen dieser Praktiken sich nicht erfreulich ankündigt, denn es wird die Frage der Verhältnisse zweier entstehender Subjekte stellen, welche bis anhin keinen gemeinsamen Horizont in ihrer Aktivität haben. Das Problem von einem revolutionären Standpunkt aus ist, wie auf der Grundlage ihres Aufeinandertreffens ihre notwendige Überwindung hervorgebracht wird: Die Transformation des Kampfes in das Ergreifen von kommunistischen Massnahmen gegen das Kapital, d.h. in die Infragestellung aller Rollen, welche die Gesellschaft konstituieren, in die Kommunisierung.

Es gibt zudem eine dritte Dynamik: Die fordernden Lohnbewegungen, welche sich hauptsächlich in jener Peripherie abspielen, welche der historische Neoliberalismus in seine internationalisierte Akkumulation integriert hat, in China und in Südostasien; die sich abspielenden Ereignisse erlauben allerdings kein Aufeinandertreffen dieser Dynamik mit den anderen. Und es gibt auch eine vierte Dynamik, jene, welche jene südamerikanischen Länder betrifft, welche den Widerstand gegen den Neoliberalismus in den Staat integrieren konnten (Chile ist eine erwähnenswerte Ausnahme: Die Bewegung der gesellschaftlich konstruierten Kategorie der Jugend steht eher den Dynamiken des Aufstands nahe). Diese vierte Dynamik ist im Moment noch autonomer, obwohl sie uns in Zukunft betreffen kann, besonders in Griechenland. Im folgenden geht es um die zwei ersteren.

Einerseits haben wir eine Reihe von Aufständen der „Ausgeschlossenen“; andererseits taucht seit 2011 eine Abfolge von Aufständen auf, während welchen das Hauptelement, was ihre Zusammensetzung betrifft, das Engagement der sogenannten „Mittelschichten“ ist, deren „demokratischer“ Diskurs die hervorgebrachten Bewegungen formt. Die Aufstände der Ausgeschlossenen finden in Ländern statt, die in der kapitalistischen Hierarchie oben platziert sind. Die Aufstände, in welchen der demokratische Horizont vorherrscht, welche vom politischen Standpunkt aus die Mittelschichten strukturiert und der Bewegung „der Plätze“ ihre Form gibt, finden hingegen hauptsächlich in Ländern der zweiten Zone und in den „aufstrebenden Volkswirtschaften“ statt. Die Tatsache, dass ein Land, welches nicht zu dieser Kategorie gehört, Teil davon ist, nämlich Spanien, ist ein Element, das zeigt, dass die Krise die Untergrabung dieser Stratifikation bestätigt, welche schon während der Entwicklung dieses Zyklus der Akkumulation aktiv war (seit der Krise der 1970er Jahre bis ungefähr 2008).

Der Kern schlechthin (USA und Deutschland) ist von diesen Dynamiken noch nicht berührt worden. Die Bewegung Occupy Wall Street, obwohl sie der zweiten Dynamik den Namen gab, gehört nur auf sehr marginale Art und Weise dazu: Es handelte sich um eine Bewegung von Aktivisten (wie übrigens Blockupy in Deutschland), nicht um eine Massenbewegung wie jene in Spanien, Griechenland, des „arabischen Frühlings“ oder in der Türkei.

Jene, welche vom offiziellen Kreislauf der Mehrwertproduktion radikal ausgeschlossen sind (was ihre Integrationsweise in die kapitalistische Gesellschaft darstellt: Integration mittels Ausschluss), äussern keine Diskurse; ihr einziger Diskurs sind Plünderungen und Zerstörungen. Sie fordern nicht, denn es ist klar für sie, dass es nichts nützt (sonst täten sie es). Sie wissen schon, dass der Staat sie nicht integrieren, sondern versuchen wird, sie als überschüssige Bevölkerung zu verwalten. Soweit die seit 2008 andauernde Krise/Restrukturierung die „Sozialausgaben“ noch mehr reduziert, wissen sie sehr gut, dass diese Verwaltung nur immer repressiver werden kann. Eigentlich wissen sie, dass sie in einem „Gefängnis ohne Gitter“ fast ersticken (wenn man nicht genug Geld hat, um seine Strassenecke zu verlassen und man, wo immer man auch sein mag, permanent von der Polizei belästigt wird, so befindet man sich sehr wohl in einem Gefängnis). In diesem „Gefängnis“ ermöglichen es die gemeinschaftlichen Verhältnisse nicht, dem Elend zu entkommen und sie werden in einem gewissen Masse in eine private Tauschwirtschaft integriert, d.h. die Kleinkriminalität, in informelle Institutionen, wo sich eine unflexible repressive Hierarchie reproduziert (um nicht von der Situation der Frauen zu sprechen...) Somit greifen sie ihr Gefängnis an, sie greifen alle staatlichen Institutionen an, welche sie als jene konzipieren, welche ihren Status als lebenslange Gefangene bestätigen und somit stellen sie im Moment der Revolte auch alle ihre sozialen Rollen in ihrem „Gefängnis“ in Frage.

Die Mittelschichten revoltieren, weil sie zusammenbrechende Mittelschichten sind (Griechenland, Spanien), weil man sie sich nicht als solche konstituieren lässt (arabischer Frühling) oder weil sie viel mehr Repression und Druck erdulden müssen als vor der Krise (Türkei) – das impliziert nicht nur ein geringeres Einkommen als sie haben „müssten“, sondern auch alle anderen gesellschaftlichen Verhältnisse, die Vermarktung und Schliessung öffentlicher Plätze aller Art, Gender, Politik oder Politik/Religion (im Falle der arabischen Länder zwei Seiten einer Medaille), Ethnie usw. Die Frage der Mittelschichten ist vom theoretischen Standpunkt aus offen.

Sogar ihre Definition ist ungewiss: Die anerkannte Definition der Mittelschichten implizierte die Kategorien des Kleineigentums der Produktionsmittel und die traditionellen individuellen Berufe (Ärzte, Anwälte, Notare usw.). Doch wie könnte man heute die Mittelschichten definieren? Die Stratifikation zeigt sich heute in einem grossen Masse innerhalb der Lohnarbeiter und der unabhängigen Arbeiter (also Lohnarbeiter, die ihre Beiträge zur sozialen Sicherheit selbst bezahlen) und sie formiert sich auf der Grundlage der Position in der Hierarchie des Produktionsprozesses, des Einkommens, des Zugangs zu Kredit usw. Damit ziehen die Massen der verarmten Arbeitslosen, Junge, welche ipso facto Arme sind, sowie die prekären Arbeiter das „Niveau“ der Mittelschichten gegen unten und diese Tatsache verringert ihren politischen Einfluss im Staat.

Diese beiden Dynamiken – die Aufstände der Ausgeschlossenen und die Massenbewegungen der Besetzungen öffentlicher Plätze mit den Mittelschichten mit ungenauen Umrissen als zentrale Akteure – sind sich im Februar 2012 in Griechenland begegnet (doch in diesem Fall waren die Mittelschichten schon dabei, zusammenzubrechen). Dieses Aufeinandertreffen resultierte aus den Besonderheiten Griechenlands, wo es übrigens neben der Bewegung „Syntagmaplatz 2011“ auch die Bewegung „Dezember 2008“ gab. Die Aufstände im Dezember 2008, genau wie jene der Studenten in Chile und in Kanada, sind Teil eines Spektrums von Praktiken, die zwischen diesen beiden Dynamiken einzuordnen sind. Was aus den betreffenden Aufständen herausragt, ist die „Jugend“ als gesellschaftlich konstruiertes Subjekt, welches jene mit einschliesst, welche vor lauter geschlossenen Türen stehen, für welche der Aufstieg in der gesellschaftlichen Hierarchie keine Perspektive ist, welche jedoch auch nicht, im Gegensatz zu den Aufständischen in Stockholm oder England, strukturell ausgeschlossen sind.

Die durch die Aktualisierung der Ära der Aufstände aufgeworfenen Fragen, wie in Schweden oder der Türkei, sind wichtig:

A) Wird der Staat fähig sein, einen Konsens für eine gegen die Ausgeschlossenen gerichtete Verwaltung im Proletariat der ersten Zone zu konstruieren? Auf der Grundlage der Ereignisse in Schweden scheint diese Tendenz hervorgebracht zu werden als fast unvermeidliche Antwort auf die Aktualisierung dieser Dynamik (in England ist das Aufkommen der English Defence League, genau wie die Vergrösserung des politischen Einflusses der UK Independence Party, direkt mit dieser Frage verbunden; ein solches Aufkommen konnte von den Aufständen 2011 nicht hervorgebracht werden, weil sie eher von der weissen Farbe geprägt waren). Die Aufstände in Schweden aktualisieren die Krise der Integration des Proletariats in den Prozess der Mehrwertproduktion als Krise der Immigration. Die Frage eines Faschismus einer neuen Art, der sich an der Kreation einer „europäischen Identität“ orientiert und somit inhärent rassistisch ist, ist von höchster Aktualität.

B) Was wird die innere Dynamik der Integration der „Mittelschichten“ ins Proletariat, nicht nur als Situation, sondern auch als Tätigkeit, sein? Ist es denkbar, dass die Praktiken der „Kommune“ jener, welche sich auf den Plätzen verteidigen und versuchen ihre Klassenzugehörigkeit zu retten, auf die zerstörerischen Praktiken der Ausgeschlossenen treffen? Im Moment ist der einzige Fall dieser Art das konfliktreiche Aufeinandertreffen im März 2006 in Frankreich während der Anti-CPE-Bewegung (doch das ist schon lange her und fand vor der Krise statt) und der 12. Februar 2012 in Griechenland (doch dieses Aufeinandertreffen war durchdrungen mit der Konfrontation bezüglich des „Memorandums“ und konnte nicht länger dauern als bis zur Niederlage dieser spezifischen Forderung). Was könnten die Resultate der „demokratischen Bewegungen“ sein, welche der Staat zumindest bis jetzt nicht integrieren konnte? Diese Bewegungen tragen einen gewissen „Kommunitarismus“ zur Schau. Der Ausgangspunkt dieses Kommunitarismus ist die Verteidigung des staatlichen Eigentums (nichts ist „gemeinnützig“, alles, was nicht privat ist, ist staatlich) durch das Mittel seiner Nutzung auf der Grundlage seiner Definition, d.h. als Element, welches die Reproduktion der Arbeitskraft unterstützt.

Die Plätze und Pärke sind Räume der „Freizeit“. Die Tatsache, dass die Krise/Restrukturierung die Arbeitslosigkeit beträchtlich vergrössert hat, erlaubt es vielen Leuten, während der Bewegung kontinuierlich in einem solchen Raum präsent zu sein, ohne dass man es merkwürdig fände, dass jene, welche arbeiten, erst nach der Arbeit kommen: Die Präsenz von Leuten ist tatsächlich am Abend und in der Nacht viel massiver. Das wesentliche ist, dass ein „gemeinsames Leben in der Besetzung“ hervorgebracht wird. Das „Leben in der Besetzung“ ist gewiss ein Bild der Zukunft, welches über den Horizont der Bewegung hinaus geht, das sich jedoch nicht in eine verallgemeinerte Praxis transformieren kann, wenn die Bewegung nicht wirklich die Struktur in Frage stellt, welche die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Raum stützt, also letzten Endes die Gesamtheit der kapitalistischen Verhältnisse. Die „Kampfgemeinschaft“, die „kommunistischen Gesten“ sollten nicht unterschätzt werden, denn in ihrer Verallgemeinerung stellen sie den positiven Horizont der Bewegung dar. Doch da, wo wir sind, sind wir gezwungen, einerseits zu erfahren, was die Bewegung erstarren lässt und verhindert, dass die Verallgemeinerung dieser Elemente versucht wird, und andererseits, welche Elemente ihres Inhalts gleichzeitig die Gründe für ihr Ende darstellen.

Jene, welche an diesen Bewegungen teilnehmen, im Gegensatz zu den Aufständen der Ausgeschlossenen, messen der Territorialisierung ihrer Präsenz eine grosse Bedeutung bei (was gewissermassen im Verhältnis steht mit der Form der Rente, welche durch den produzierten Mehrwert im gegenwärtigen Kapitalismus akzeptiert wird: Die Ausbeutung spielt eine determinierende Rolle für die Form des Klassenkampfes). Mit der „Besetzung“ fordern sie das Recht ihrer materiellen Existenz als Subjekte gegenüber dem Staat ein, von welchem sie glauben, dass „er sich um sie kümmert“. Es ist nicht unbedeutend, dass der Schutz der Kommune vor allem von einer jungen, männlichen und armen Fraktion des Proletariats garantiert wird, welche erfahren ist, was die Konfrontation mit der Polizei betrifft (diese unterschiedliche Rolle manifestiert sich auch in der Türkei und etwas weniger in Ägypten). Sie versuchen zwangsläufig, Forderungen zu formulieren, um etwas konkreteres als die „Demokratie“ auf den hypothetischen Verhandlungstisch zu stellen (sie ertragen es nicht, einzusehen, dass dieser nicht mehr existiert und sie fordern die Regierung permanent auf, dessen Existenz einzuräumen).

Dieser Prozess führt durch die Verweigerung der Regierung, irgendwas zu verhandeln, natürlicherweise zur Anfechtung der Regierung. Eine Bewegung, deren Zusammensetzung von den Mittelschichten dominiert ist, fordert notwendigerweise den Fall der Regierung – und diese Forderung bedeutet, aufgrund der Abwesenheit einer „Partei der Arbeiterklasse“ welche die Bewegung zur „Machtergreifung“ führen würde, die Auswechslung der Regierung durch eine andere (welche die Existenz und die Reproduktion der Lebensqualität, die sie zu verdienen glauben, unterstützen könnte). Diese endogene Tendenz steht nicht im Widerspruch zu den kommunitaristischen Zügen der Besetzungen, welche jedoch nebensächlich werden als konstitutives und formierendes Element der Bewegung, wenn sich das politische Ziel konkretisiert. Ägypten und Tunesien haben eindeutig gezeigt, dass der Fall der Regierung für diese Bewegungen das Ende bedeutet. Natürlich erwies sich, das, was anfänglich als Sieg erschien, als eine Niederlage, denn neue Polizeistaaten haben sich konstituiert und die Restrukturierung geht fröhlich weiter mit der Reduzierung der Sozialhilfe, Erhöhungen der Lebensmittelpreise usw. Doch die Bewegung in Ägypten und Tunesien konnte nicht wieder belebt werden, weil ihr anfängliches Ziel, welches ihrer Einheit entsprach, erreicht worden ist.

Die Bewegung in der Türkei – deren prägender Faktor, dieser Dynamik folgend, ebenfalls, trotz allen Unterschieden, auch Teil dieses Schemas ist – steht einem weiteren Element gegenüber. Die politische Macht der Regierung ist grösser als jene der ägyptischen oder tunesischen Regierung. Die Einheit der Bewegung gründet auf der Transformation dieses Staates in einen repressiven Polizeistaat während den letzten Jahren. Folgende Frage wird dadurch aufgeworfen: Werden die Mittelschichten sich in das Proletariat als Tätigkeit der Infragestellung des Kapitals integrieren können, wenn diese Bewegungen zuvor in ihrem politischen Sieg (der in Wirklichkeit ihre Niederlage ist) enden? Ihre Niederlage, welche durch ihren politischen Sieg führen, bringen die existierenden Spaltungen notwendigerweise zurück an die Oberfläche. Eine Fraktion der Bewegung versucht, weiter zu revoltieren, verliert jedoch die Unterstützung des Volkes (d.h. eine interklassistische Unterstützung, denn die Klasse ist ein Verhältnis, nicht eine Kategorie). Wie kann ein solcher Prozess der Revolte weitergehen ohne die massive Beteiligung der Ausgeschlossenen und der Armen? Wäre dies möglich?

Während diese Zeilen geschrieben werden, geht die Bewegung in der Türkei weiter. Ihre Besonderheit, kombiniert mit der Tatsache, dass es sich um ein Ereignis mit einer weltweiten Reichweite handelt, determiniert den Punkt, wo wir uns befinden. Hier befinden wir uns: Gegenüber einer weiteren Revolte gegen einen Polizeistaat. Eine Revolte mit geringen Chancen auf den „Sieg“ auf der Grundlage ihres Inhalts und aufgrund dieser Tatsache sehr wichtig.

Übersetzt aus dem Französischen von Kommunisierung.net

Die Praktiken der „Kommune“, welche notwendigerweise eine bessere Verwaltung des bürgerlichen Staates als Horizont haben, doch welche sehen, wie dieser Horizont verschwindet, treffen auf die Revolten der Ausgeschlossenen hinsichtlich der Tatsache, dass letztere keinen Horizont irgendeines „Sieges“ haben. Das Resultat dieses Aufeinandertreffens – welche sich in der Interaktion zwischen den Praktiken der „Kommune“ und den alltäglichen Überlebenspraktiken jener, welche strukturell ausgeschlossen sind aus dem offiziellen Kreislauf der Mehrwertproduktion – wird in einem grossen Masse den Ausgang des Klassenkampfes in der Ära der Aufstände determinieren.