Die konservativen Werte von Fidesz und Jobbik Ungarn auf dem Weg zum „wahren Ungarntum“

Politik

Die Bahn fährt durch malerische Landschaften, vorbei an Wäldern, Dörfern und der sanft geschwungenen Donau auf die ungarische Hauptstadt Budapest zu. Im Hintergrund geht langsam die Sonne auf.

Wahlveranstaltung der ungarischen Reigierungspartei Fidesz.
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Wahlveranstaltung der ungarischen Reigierungspartei Fidesz. Foto: Derzsi Elekes Andor (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

18. Februar 2012
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Das Ganze wirkt schon fast ein bisschen kitschig. Wer Kitsch mag, braucht in Budapest auch sonst nicht lange suchen. Die Innenstadt ist herausgeputzt, die imposanten Gebäude aus der Zeit der k.u.k. Monarchie in den Nachtstunden umfangreich illuminiert. Doch bei all der scheinbaren Idylle bleibt ein mulmiges Gefühl nicht aus. Ungarn hat wie die meisten postsowjetischen Staaten nach dem „Aufbruch in den Kapitalismus“ grosse Probleme mit Armut und Verelendung. Besonders hart trifft es die Angehörigen der Roma-Minderheit, die in Ungarn zusätzlich unter einer massiven gesellschaftlichen Diskriminierung zu leiden haben.

Wie in vielen postsowjetischen Staaten ist aktuell ein Erstarken nationalistischer Bewegungen und Tendenzen zu beobachten. Dabei stechen äusserst gewaltbereit agierende neofaschistische Organisationen, wie etwa mordende Neonazis in Russland oder florierende Blood & Honour- Strukturen in Kroatien besonders hervor. Doch bei den wiederholten Pogromen gegen Roma in Tschechien und Ungarn nahmen nicht nur organisierte Neonazis teil.

An den Angriffen auf Menschen und Siedlungen beteiligten sich Bürger_innen oder flankierten die Ausschreitungen als jubelnde Zuschauer_innen. Gerade in Ungarn ist die Etablierung nationalistisch- revisionistischer Positionen in der Gesellschaft zu beobachten. Seit der Wahl im April 2010 regiert ein Wahlbündnis unter der ultrokonservativen „Fidesz“ Ungarn mit einer Zweidrittel- Mehrheit. Mit knapp 13 % zog ausserdem die Partei „Jobbik“ in das Parlament ein. Diese vertritt nationalistischvölkische Positionen und hetzt gegen die Roma-Minderheit, Jued_innen, Linke, Schwule/Lesben und tritt darüber hinaus für ein „Grossungarn“ ein.

Konservative Familienwerte

Die „Jobbik“ ist der politische Arm, der inzwischen verbotenen „Magyar Garda“ (Ungarische Garde), einer paramilitärisch und uniformiert auftretenden Gruppierung. Das Auftreten der „Magyar Garda“ ähnelt dem Auftreten der sogenannten Pfeilkreuzler. Unter dem Ministerpräsidenten Viktor Orban (Fidesz) wurde eine neue Verfassung verabschiedet. Die Umbenennung der „Republik Ungarn“ in ausschliesslich „Ungarn“ mag hierbei noch harmlos wirken, gibt aber die allgemeine Marschrichtung der neuen Verfassung wieder. Deutlich stärker als zuvor treten nationalistisch- konservative Elemente - wie etwa die Konstruktion Ungarns als „Kulturnation“ und hier enthalten das Primat der ungarischen Kultur, Identität und Sprache - als elementare Grundwerte der Verfassung in den Vordergrund.

Dabei erhalten konservative Lieblingsdomänen wie Gott, Familie und Nation als Stützen der Gesellschaft zu Ungunsten individueller Freiheiten eine besonders herausgehobene Position. Daneben wurden zum Beispiel die Rechte des Verfassungsgerichtes und die Pressefreiheit stark eingeschränkt, was zu Protesten im In- und Ausland führte. Kritiker_innen fürchten durch die neue Verfassung die Etablierung eines autoritären politischen Systems. Gänzlich unbegründet scheinen diese Sorgen nicht zu sein, schaut man sich die Anklagen gegen kritische Journalist_innen auf der Grundlage des neuen Mediengesetzes an oder die Absichten der „Fidesz“- Mehrheit die Sozialdemokratische Partei mit Hilfe sogenannter „Sozialistengesetze“ für das Tun ihrer Vorgängerpartei in der Sowjetunion verantwortlich zu machen.

Wer durch die ungarische Hauptstadt läuft, kommt nicht umhin die jungen Männer in Jobbik-Kaputzenpullovern zu bemerken und muss schon sehr genau wegschauen, um die unzähligen antisemitischen Graffities im jüdischen Viertel Budapests zu übersehen. Jüdische Einrichtungen wie Schulen oder die Synagoge werden von privaten Wachleuten und Polizist_innen bewacht. Eine lakonische Antwort auf die Frage, wie denn die aktuelle Situation mit der Jobbik und der ungarischen Regierung eingeschätzt wird lautete: „Es gab hier noch keine Toten“. Der zu verzeichnende Rechtsruck in Ungarn braucht eine ideologisch Begleitung, einen Moment der sich zum propagandistisch ausschlachtbaren Ideal herauf stilisieren lässt.

Tief verwurzelter Antisemitismus

Ungarn war als Teil der k.u.k.-Monarchie, einer Doppelmonarchie bestehend aus dem Österreichischen Kaisertitel und dem ungarischen Königstitel, als einer der Verlierer aus dem ersten Weltkrieg hervorgegangen und musste in diesem Zuge massive Gebietsabtrennungen akzeptieren. Einem kurzen räterepublikanischen Sommer folgte im Jahr 1919 die Machtübernahme durch den Offizier Miklos Horthy und das Ausrufen des Königreiches Ungarn. Horthy übernahm hier die Funktion des Reichsverwesers und hatte diese bis zum Oktober 1944 inne. Die ungarische Regierung verfolgte eine enge Anbindung an Nazideutschland, um in diesem Zuge die abgetretenen Gebiete zurückzuerhalten. Antikommunistische und antisemitische Einstellungen waren tief in der ungarischen Gesellschaft verwurzelt.

Ungarische Truppen beteiligten sich ab 1941 an den Überfällen auf Jugoslawien und die Sowjetunion. Durch massive Verluste und das offensichtlich werdende Scheitern des Angriffs auf die Sowjetunion versuchte Horthy in Verhandlungen mit den Alliierten zu treten. Als Folge marschierten deutsche Truppen im März 1944 in Ungarn ein und installierten eine Kollaborationsregierung unter Döme Sztojay. Sztojay wurde im Oktober 1944 von Horthy entlassen, was wiederum zur Absetzung und Verhaftung von Horthy selbst durch deutsche Truppen führte. Die neue Regierung wurde unter Führung der nationalsozialistischen Pfeilkreuzlerbewegung um Ferenc Szalasi gebildet. In der kurzen Phase der Räterepublik nach 1919 waren viele Jüd_innen in führende Positionen eingebunden und gesellschaftlich weitgehend gleichgestellt. Nach der Machtübernahme Horthys wurden diverse antijüdische Gesetze eingeführt, die etwa die Anzahl der Jued_innen an der Hochschule, in der Verwaltung und in der Wirtschaft regelten.

Diese Gesetze waren die ersten antijüdischen Gesetze im Europa neuerer Prägung und wurden in den 1930er Jahren noch weiter verschärft. Auch beteiligte sich die ungarische Armee unter anderem an Vertreibungen von Jued_innen aus den annektierten Gebieten und lieferten sie so deutschen SS-Verbänden aus. Doch trotz der antisemitischen Gesetze und der Zwangsarbeit für jüdische Menschen weigerte sich das Horthy-Regime bis zum Einmarsch der deutschen Truppen Anfang 1944, sich an der „Endlösung“ zu beteiligen. Erst im Zeitraum Mitte Mai bis Anfang Juli 1944 begann eine massive Deportationswelle ungarischer jüdischer Menschen in die Vernichtungslager. In diesem kurzen Zeitraum wurden über 430 000 Menschen deportiert und ermordet. Horthy stoppte diese Deportationen Anfang Juli. Nach der Machtergreifung der Pfeilkreuzler im Oktober 1944 begann eine weitere massive Terrorwelle gegen die noch verbleibenden jüdischen Menschen, wie etwa die Ermordung von über 7.000 Menschen im Budapester Ghetto.

Der Volksaufstand in Ungarn von 1956

Hinzu kommen antiziganistische Gesetzte, die bereits unter Horthy erwogen wurden, aber letztendlich vor allem unter den Pfeilkreuzlern durchgesetzt wurden. Es wurden vermutlich über 6.000 Roma ermordet. Seit September 1944 rückte die Rote Armee massiv auf ungarisches Gebiet vor, allerdings zogen sich die Kämpfe aufgrund des Widerstandes der deutschen Truppen und ungarischer Kollaborateur_ innen sehr lange hin. Erst am 18. Januar 1945 befreite die Rote Armee das Budapester Ghetto. Nach der Befreiung vom Faschismus wurde in Ungarn eine Regierung nach dem Vorb ild der Sowjetunion installiert. Diese orientierte sich in der Hochphase des Stalinismus auch an dessen Vorgehensweise und brachte u.a. diverse Schauprozesse und einen Personenkult um Matyas Rakosi hervor. Erst nach dem Tod Josef Stalins begann eine Phase der vorsichtigen Liberalisierung unter Imre Nagy.

Am 23. Oktober 1956 begann ein Volksaufstand in Ungarn, der von einer Grossdemonstration Budapester Studierender ausgelöst wurde, die demokratische Reformen und u.a. auch die Wiedereinführung ungarischer Nationalfeiertage und der Nationalfahne forderten. Die Demonstrationen breiteten sich rasch aus. Als Reaktion schossen sowjetische Truppen auf die Demonstrationen. Imre Nagy, jetzt mit Unterstützung einer Mehrparteienregierung, rief die Unabhängigkeit Ungarns aus, trat offiziell aus dem Warschauer Pakt aus und forderte die sowjetischen Truppen zum Abzug auf. Ab dem 4. November begannen sowjetische Truppen gegen die Aufständischen vorzugehen, wobei sich in Budapest und einigen anderen Teilen des Landes die Kämpfe zum Teil noch wochenlang hinzogen. Während der Kämpfe starben 2500 Ungar_innen und 750 Soldat_innen der Roten Armee. Nach der Zerschlagung des Aufstands wurden 350 Menschen, unter ihnen Imre Nagy, wegen der Teilnahme am Aufstand hingerichtet und weitere Menschen inhaftiert.

Der Aufstand von 1956 ist in Ungarn heute so präsent wie nie zuvor. Neben den unzähligen Einschusslöchern, die überall in den Häuserwänden zu sehen sind, lassen sich in fast allen Strassenzügen in der Innenstadt Gedenkplaketten finden. Auch an den öffentlichen Plätzen der Stadt stehen Statuen, Denkmäler und Plaketten. Der Aufstand ist zum zentralen Moment des aktuellen ungarischen Nationalismus geworden und nimmt in der Rezeption den Moment des Aufbäumens des „wahren Ungarntums“ in einer Geschichte der fortwährenden Unterdrückung ein. An kaum einer Stelle in der Hauptstadt tritt diese Konstruktion so deutlich zu Tage, wie im sogenannten „House of Terror“ - der propagandistisch in Stein gegossenen Extremismustheorie oder wie es die FAZ ausdrückt: „Wie das grosse „Museum der Okkupation“ in Riga hat es [das House of Terror] sich zur Aufgabe gemacht, die totalitäre Epoche des zwanzigsten Jahrhunderts aus der Perspektive eines unterworfenen Volkes aufzuarbeiten und in ein neues Geschichtsbild einzufügen.“

Unkritisch und aus konservativer Warte lässt sich wohl auch so charakterisieren, was das Wesen dieser Ausstellung ist. Kritischer gesagt handelt es sich bei der Ausstellung um ein propagandistisches Zurechtbiegen der ungarischen Geschichte unter der Leitthese: „Ungarn wurde von ausländischen Mächten fremdbestimmt und unterdrückt – einzige Ausnahme ist der Aufstand von 1956.“ Um diese These nicht wissenschaftlich sondern in erster Linie emotional zu untermauern, wird in der Ausstellung tief in die mediale Trickkiste gegriffen. Der Weg durch die Eingangstür führt direkt auf zwei Marmorsteelen zu: die eine rot, die andere schwarz. In der einen Steele ist ein halber Stern und in der anderen die Hälfte des Pfeilkreuzlersymbols zu sehen.

Das „wahre Ungarntum“

Zusammen erwecken die beiden Steelen den Eindruck Teil ein und der selben Sache zu sein. Der Weg durch die Ausstellung führt weiter an einem sowjetischen Panzer vorbei, der in einer Wanne steht, durch die beständig Öle gepumpt wird, durch Räume die schwarzrot gestrichen sind und in der zu dramatischer Musik sowjetische und deutsche Truppen durch ungarische Landschaften marschieren. Nach einem recht inhaltsleeren Raum in dem einige Pfeilkreuzleruniformen an einer mit Nazitellern gedeckten Tafel aufgereiht sind, bricht die „Thematisierung“ der faschistischen Pfeilkreuzlerbewegung gänzlich ab. Die Besucher_in befindet sich unversehens in einem Raum, in dem die Musik nochmals an Dramatik zulegt, auf dem Teppich eine Karte mit sowjetichen Gulags.

In den folgenden Räumen werden sowjetische Plakate - unter den Ausstellungstücken auch Werbung für Waschmittel und Sowjet-Cola -, Götzenbilder sowjetischer Führer, riesige Blöcke Kautschuk, Gerätschaften aus Aluminium, Akten des ungarischen Geheimdienstes, Galgen und Fotos von Hinrichtungsopfern wild durcheinander ausgestellt. Spätestens nach dem sechsten Raum dieses Unfugs fällt einem die chronisch dramatische Musik auf die Nerven und die traurigen Einzelschicksale, die von den omnipräsenten Bildschirmen flimmern, verschwimmen völlig zu Brei. Die komplette Darstellung und Konzeption der Ausstellung ist derart undifferenziert, überemotionalisiert und geradezu bösartig propagandistisch, dass ein Zugang zu menschlichen und individuellen Schicksalsschlägen geradezu unmöglich wird. Wer mag, kann durch die Ausstellung gehen, ohne auch nur einen einzigen Text zu lesen.

Die Begleittexte zu den emotionalen Bildern befinden sich an den Eingängen der Räume in kleinen Ständern, machen das Desaster aber keineswegs erträglicher: Horthy und seine antisemitischen Gesetzgebungen finden keine Erwähnung, der Holocaust ist kein Thema, Teilnahme am Angriffskrieg auf die Sowjetunion wird quasi unter die Naziteller auf der Tafel gekehrt, das Wort Roma fällt kein einziges Mal im Kontext der Ausstellung, eine Befreiung vom Faschismus gibt es nicht - nur das Austauschen der diktatorischen Okkupant_innen. Die Gewichtung und Ausrichtung der Ausstellung macht klar, es geht hier nicht in erster Linie um „totalitäre Regime“, es geht um die Beweisführung, dass der Sowjetkommunismus ein Verbrechen war. Der Faschismus dient hier nur als Blaupause des ultimativ Bösen. Am Ende der Ausstellung erscheint dann auf einmal, wie das Licht am Ende des Tunnels, das wahre Gute in Form des ungarischen Volksaufstandes von 1956 und bildet den Kontrast zu den vorher gezeigten Bildern und Ausstellungsstücken.

Zwar muss auch dieser Aufstand an den bösen Mächten scheitern, aber nur um als besonders mahnende Lehre für die Gegenwart da zu stehen und als Lehrstück des „wahren Ungarntums“ herzuhalten. Im Kontext des aktuellen Rechtsrucks in Ungarn scheint es zwingend notwendig zu sein, einen positiven Fixpunkt in der ungarischen Geschichte zu finden und auszuschlachten. Sowohl der Faschismus, als auch der Sowjetkommunismus eignen sich dafür denkbar schlecht. Also muss die Beweisführung gelingen, dass Ungarn völlig unverschuldet jahrzehntelang unter fremder Herrschaft gehalten wurde. Eigenverantwortung wird dabei nicht übernommen. Verantwortlich waren höchstens einige wenige Kollaborateur_innen.

Wer aus dem „House of Terror“ tritt und vor der Tür zwischen einer Installation Namens „Eisernem Vorhang“ und einem Stück Berliner Mauer auf das „Biermobil“ mit saufenden jungen Männern trifft, kann auch das nicht wirklich absurder finden als die Ausstellung selbst. Nachdenklich stimmt allerdings der Umstand, dass die Ausstellung der derzeitige Staatsdoktrin entspricht und Teil des Versuches ist ein neues ungarisches Nationalbewusstsein zu kreieren. Die Ultrakonservativen um die „Fidezs“ arbeiten an einem grundlegenden gesellschaftlichen und staatlichen Umbau Ungarns. Dabei gehen Reformen, wie etwa die des Pressegesetzes Hand in Hand mit der Inszenierung eines neuen Geschichtsbildes.

Der Fall des ehemaligen Direktors des ungarischen Holocaustmuseums, der wegen inhaltlichen Streitigkeiten hinsichtlich die Rolle Horthys bei der Organisation der Vernichtung jüdischer Menschen zurücktreten musste, zeigt was derzeit in Ungarn mit Personen passiert die nicht der gewünschten Linie der Fidezs entsprechen. Das Verdrängen und Mundtot machen von missliebigen Personen scheint aktuell in Ungarn eine gewisse Systematik zu haben, dies macht auch nicht vor Personen, wie etwa dem ehemaligen, sozialistischen Ministerpräsidenten halt, dem eine Anklage wegen Hochverrats droht.

Die jüngsten Entwicklungen in Ungarn lassen Schlimmes befürchten, werden aber ausserhalb Ungarns wenig thematisiert. In Ungarn findet derzeit eine Entwicklung statt, die zu einer Marginalisierung oppisitioneller Stimmen führt. In einem Klima in dem es selbst etablierten Parteien wie der „Magyar Szocialista Párt“ (Ungarische Sozialistische Partei) schwer fällt gegen die Umstrukturierung vor zu gehen, muss es für revolutionäre und emanzipatorische Stimmen ungleich schwieriger sein. Eine direkte Kontaktaufnahme mit linksradikalen Menschen aus dem Raum Budapest war uns leider nicht möglich. Auch zu den aktuellen Protesten rund um die Verfassungsänderungen können wir leider nichts sagen. Vielleicht das nächste mal.

aR