Vom Ende des politischen Subjekts und dessen Neuanfang als Staatenloser Ohne Papiere?

Politik

28. März 2017

Will man das politische Subjekt neu bestimmen, sollte man zunächst dessen Tod zur Kenntnis nehmen. Der Tod des politischen Subjekts, das ist das Ende eines Verfahrens, das politische Subjekt ‚zu bilden‘.

Vom Ende des politischen Subjekts und dessen Neuanfang als Staatenloser.
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Vom Ende des politischen Subjekts und dessen Neuanfang als Staatenloser. Foto: Lamiot (CC BY-SA 4.0 cropped)

28. März 2017
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Das Ende kommt dort zum Vorschein, wo Netzwerkangehörigkeit und Staatsangehörigkeit ununterscheidbar werden; wo der zentrale Bezugspunkt des Subjekts sich verflüssigt. In seinem Essay geht Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki der Frage nach, welche Rolle Staatenlose bei einer Neubestimmung des politischen Subjekts spielen können:

Als Staatsangehörigkeit noch nicht dermassen entdifferenziert war wie heute, konnte das Subjekt im Angesicht des Staates ein politisches Subjekt werden. Der Staat steckte die Parameter für das Politisch-Sein ab: Parteien, Parlamente, Wahlen und andere Instrumente, die politische Willensbildung abverlangten und politische Einflussnahme ermöglichten. Jetzt, da sich diese Instrumente im zunehmenden Masse als wirkungslos erweisen; jetzt, da der Staat nicht mehr gleichrangiger Partner, sondern Zuarbeiter von Finanz- und Netz-Giganten ist – jetzt konditioniert der Vernetzungszusammenhang zwischen Wall Street und Silicon Valley sein Wirken.

Somit steht ein zentrales demokratisches Staatsformmerkmal eines Landes wie Deutschland auf dem Spiel: Volkssouveränität. Der Idee nach geht alle „Staatsgewalt (…) vom Volke aus. Sie wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen und durch besondere Organe der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt.“, wie es in Artikel 20 Absasatz 2 im Grundgesetz heisst. Doch die Idee von der Selbstbestimmungsfähigkeit des Staates wird im Vernetzungszusammenhang ad absurdum geführt. Die Souveränität der Staaten ist durch den stetig wachsenden Einfluss des internationalen Systems von zwischenstaatlichen und supranationalen Organisationen sowie durch die zunehmende politische und wirtschaftliche Interdependenz der Staaten immer weiter ihrer Grundlagen beraubt worden.

Veränderungen im Verborgenen

Es sind Veränderungen, die weitgehend im Verborgenen bleiben. Sind sind aber nicht ohne Wirkung. Indirekt zeigt sich die Wirkung in autoritären Gesten und disziplinarischen Massnahmen des Staates gegenüber der Bevölkerung: Radikale Spar- und Spionageprogramme für die eigene Bevölkerung, Tränengas und andere Waffen gegen Demonstranten, Fussfesseln für Gefährder, Mauern gegen Flüchtende, Deportationen von Schutzsuchenden, etc. So sind es vor allem zwei Tendenzen, die dem politischen Subjekt den Bezugspunkt entziehen und gewissermassen seinen Tod herbeiführen. Erstens, die Schwächung der Volkssouveränität. Zweitens, die Zunahme staatlicher Repression, die wiederum mit einer Destabilisierung von Bürgerrechten einhergeht.

Wenn im Rahmen dieser kritischen Tendenz Netzwerkangehörigkeit und Staatsangehörigkeit ununterscheidbar werden, wenn sich im Zuge dessen der Tod des politischen Subjekts ereignet; dann kommt die Tragweite dieses Prozesses auch dort zum Vorschein, wo fehlende Staatsangehörigkeit durch Netzwerkangehörigkeit ‚kompensiert' wird. Dies betrifft beispielsweise Staatenlose.

Staatenlose, weltweit soll es rund vier Millionen geben, entbehren einer properen Staatszugehörigkeit, doch da immer mehr Menschen auch in den ärmeren Regionen wie selbstverständlich mit Mobiltelefonen ausgestattet sind, können sie sich einer Netzwerkzugehörigkeit erfreuen. Man könnte auch sagen: Der Staat wird hier durch das Netz ersetzt – nichts anderes propagieren Facebook-Evangelisten, wenn sie das transnationale Netzwerk über den Nationalstaat stellen, frei nach dem widersprüchlich klingenden Motto: lang lebe die Facebook-Nation! Deutlicher noch als andernorts stellt sich hier also die Frage: Ist das Ende des politischen Subjekts besiegelt? Ist eine Neubestimmung fällig?

Eine Politik des Weltbürgertums scheint hier nahe zu liegen. Wer keinen Staat findet, der ist in der Welt zu Hause. Transnationale Institutionen wie der IWF spielen eine zunehmend wichtige Rolle für Wirtschaft und Staat, warum sollte es nicht analog dazu, transnationale Einrichtungen geben, die sich Weltbürgern annehmen? Die Narrativisierung und Imaginierung des Weltbürgertums lässt sich bis in die Antike zurückverfolgen. Bis heute ist der Diskurs geprägt von Visionen, die Philosophen, Künstler, Unternehmer sowie Jet-Setter entwickelt haben. Kurz, Menschen mit Privilegien; Profiteure des Vernetzungszusammenhangs; Elitaristen im rechtsfreien Raum.

Bislang scheint die Politik des Weltbürgertums keine passende Perspektive entwickeln zu können auf Staatenlosigkeit, die Menschen nicht aus freier Wahl, sondern aus einer Notlage heraus erfahren. Die Rohingya beispielsweise, die im mehrheitlich buddhistischen Myanmar als muslimische Minderheit verdrängt worden sind – ins Niemandsland zwischen Myanmar und Bangladesch. Oder die Bidun, die nach der Gründung von arabischen Staaten wie Kuwait aufgrund ihrer nomadischen Lebensweise keine nationalstaatliche Zuordnung bekommen haben.

Staatenlose sind aussen vor

All das sind Beispiele für Staatenlosigkeit, die mit einem radikalen Verlust an Rechten sowie sozialen und ökonomischen Teilhabe-Optionen einhergeht. Mehr noch: Es geht nicht nur um einen Verlust von Rechten und Teilhabe-Optionen, sondern auch von Möglichkeiten, eigene Vorstellungen in den Diskurs einzubringen. Die vielbeschworene Vielstimmigkeit der digitalen Welt offenbart sich in solchen Momenten als Vielstimmigkeit der Bürger – allerdings auch nur jener, die es sich leisten können. Denn selbst als Bürger muss man Zeit und Geld haben, um am politischen Diskurs teilnehmen zu können. So oder so: Staatenlose bleiben aussen vor.

Das hat auch mit der Dominanz der imaginierten Gemeinschaften zu tun – jenen kollektiven Phantasmen, die Nationalstaaten im Inneren zusammenhalten konnten und die heute in neuer, weitaus fragmentierterer Weise, Netzwerke zusammenhalten können. Heute, da sich die Frage stellt, ob und wie Nationalstaaten als imaginierte Gemeinschaften reanimiert werden können, sollten wir zugleich die Aufmerksamkeit darauf lenken, worin die blinden Flecken dieses Verfahrens bestanden haben. Sicherlich, das passt nicht in das rechtspopulistisch geprägte Klima der Gegenwart.

Doch wenn Staatsbürger ernsthaft nach einer Neubestimmung ihrer politischen Subjektivität fragen, dann müssen sie die Perspektive der Staatenlosen in Betracht ziehen. Ihre Existenz sowie die wachsende Anzahl von Asylsuchenden, Geflüchteten und illegalisierten Migranten, die häufig ohne eindeutige staatliche Zuordnung sind, zeugt von ungeheuerlichen blinden Flecken in der Geschichte jener imaginierten Gemeinschaften, die Nationalstaaten zu Grunde liegen. Reproduzieren wir das Verfahren, wie die Rechtspopulisten es vorschlagen, so reproduzieren wir die blinden Flecken und werden kaum in der Lage sein, eine Neusbestimmung der Staatsbürgerschaft und der politischen Subjektivität vorzunehmen.

Doch es wird nicht reichen, die Staatenlosigkeit einfach nur ‚ins Blickfeld' der Staatsbürgerschaft zu rücken. Vielmehr sollte es auch darum gehen, die Perspektive der Staatenlosen selbst zu ‚empowern', sprich: Bedingungen herzustellen, unter denen diese weitgehend un-imaginierten und geradewegs weg-imaginierten Gemeinschaften, zu imaginierten Gemeinschaften werden können. Es geht um die Sichtbarkeit und Präsenz von Staatenlosen in Erzählungen, Bildern, etc. – und um deren Autorschaft von eben diesen Bildern und Erzählungen. Denn gegenwärtig sind Staatenlose nicht nur Teil eines Subproletariats ohne Rechte. Sondern auch Protagonisten ohne narrativen Rahmen oder bestenalls Figuren in einer Erzählung, die von anderen geschrieben, editiert, publiziert und gelesen wird.

Staatenlose sehen ein anderes Web als Staatsbürger

Das Problem der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Staatenlosen ist nicht zu unterschätzen. Im nationalen Kontext werden Minderheiten wie Rohingya oder Bidun systematisch unterdrückt. Nicht nur, was Rechte angeht, sondern auch was ihre Sichtbarkeit angeht und Möglichkeiten, am öffentlichen Diskurs teilzunehmen. Das gilt auch für Geflüchtete in Deutschland. Nur für einen kurzen Moment gab es Aussicht auf Anerkennung, gab es mediale Aufmerksamkeit. Es war das Sommermärchen des Jahres 2015. Kurze Zeit später musste man einen politischen Kurswechsel sowie einen stetig sinkenden Kurs in der Aufmerksamkeitsökonomie konstatieren. Bilder und Stimmen von Geflüchteten sind in den Massenmedien allenfalls bei Negativ-Nachrichten noch gefragt. Das verkompliziert eine ohnehin schon vertrakte Lage. Denn auch ganz grundsätzlich stellt sich die Frage, wie man sich als Staatenloser (oder Geflüchteter) verhalten soll: Soll ‚ich' mich zeigen oder verstecken?

Im Zuge dessen drängt sich die Frage auf, wer eigentlich die Bedingnugen für Sichtbarkeit absteckt. Es beginnt mit Ungleichheiten bei den Privilegien des Blicks im Internet, dessen Schnittstellen im zunehemenden Masse ‚intelligent' auf die Nutzer reagieren und nur noch ‚personalisierte' Einblicke zulassen: Wer sieht was und wen? Wen oder was darf ich sehen, bzw. muss ich nicht sehen? Es heisst, arme Menschen sehen ein anderes Netz als reiche Menschen. Man könnte auch sagen, Staatenlose sehen ein anderes Web als Staatsbürger.

Und es hört nicht damit auf, dass die Frage der Überwachung und Selbstüberwachung, oder allgemeiner noch: der Bewegungskontrolle in sozialen Netzwerken wie Facebook, eine völlig andere Bedeutung bekommt, wenn man Staatenloser oder Staatsbürger ist. Soll ich mich da präsentieren, weil Facebook ein Marktplatz ist, den ich nicht ignorieren kann? Soll ich mir ein Profil anlegen und dort unter Klarnamen und mit einem realen Bild von mir auftreten? Die Fragen haben eine politisch andere Gewichtung, weil das datenschutzrechtliche Dilemma, das sich in solchen sozialen Netzwerken ereignet, für Staatenlose und geflüchtete im Zweifelsfall weitaus schlimmere Folgen hat. Wenn es hoch kommt, bringen einen falsche Witze über heikle Themen in ein CIA-Gefängnis. Im Normalfall wird man ansonsten als Versuchskaninchen für die millardenschweren Innovationen der Sicherheitsindustrie missbraucht.

Das System überschreiben

Die Politik des Sichtbarmachens, Narrativsierens und Imaginierens ist vertrakt. Doch das Entscheidende ist, dass man die kollektive Vorstellungskraft stimuliert und die politischen Fragen darin – eben auch bezüglich des Verfahrens des Vorstellens selbst – nicht aussen vor bleiben. Da mögen selbst Blockbuster-Filme nicht unwillkommen sein. In Neill Blomkamps „Elysium“ (2013) etwa ist die Menschheit in zwei Lager gespalten: Auf der einen Seite stehen Bürgerinnen und Bürger eines buchstäblich überirdischen Refugiums des Wohlstands namens Elysium – die Architektur der künstlichen Welt ist inspiriert durch den Stanford Torus, die Austattung orientiert sich an der Superreichen-Nachbarschaft Bel Air in L.A., erinnert aber auch an The World, jene künstliche Inselgruppe in Dubai, die einige Kilometer vor der Küste des Stadtteils Jumeirah liegt.

Auf der anderen Seite stehen mehr oder minder rechtlose Bewohnerinnen und Bewohner der Erde, die von Elysium träumen. In einem technologisch hochgerüsteten Moment der Geschichte kann nur eine Gruppe von Hackern Widerstandsbewegungen organisieren, die in ihrem Erscheinungbild deutlich an Bilder von Fluchtbewegungen aus der jüngsten Gegenwart erinnern: Bei einem der Fluchtversuche über die ‚Mauer', stranden die Flüchtenden auf der Suche nach medizinischer Grundversorgung im Vorgarten einer Villa – eine Variation des massenmedial bekannten Bildes von afrikanischen Geflüchteten, die auf der Mauer einer Golfanlage kauern oder an einem Strand vor Anker gehen, der von betuchten Touristen bevölkert wird.

Als einer der Protagonisten zu Spider kommt, dem Anführer der Hacker-Widerstandsbewegung, weil er einen Datensatz entwenden konnte, der den Reboot von Elysium möglich macht, sagt Spider: „They will hunt you to the edge of the Earth for this“. Sein Gegenüber entgegnet: „What is it?“ Darauf Spider: „It's a reboot programme for Elysium. Whoever has this has the power to override their whole system. Open the borders. Make everyone a citizen of Elysium.“ Im Showdown kommt das Reboot-Programm tatsächlich zur Anwendung und wir sehen Spider an seinem Laptop. Er kann Eingriffe im Code vornehmen und tauscht an der entscheidenden Stelle „illegal“ mit „legal“ aus und macht auf diese Weise alle Bewohnerinnen und Bewohner der Erde zu Staatsbürgern von Elysium. Das bedeutet hier in erster Linie: Zugang zu medizischner Grundversorgung für alle.

Die Vorstellung, das Unterpriveligierte per Knopfdruck zu ihrem Recht kommen, wird in der gesellschaftlichen Realität beispielsweise durch Security Research Labs stimuliert. Das von Hackern gegründete Unternehmen konnte demonstrieren, dass es gar nicht so schwer ist, bereits bezahlte Flüge unerkannt umzubuchen und sich so die Tickets unwissender Reisender anzueignen. Frei nach dem Motto: „Freiflug unter fremden Namen“. Einen Mausklick entfernt scheint auch die Manipulation von ID-Daten. Sollten Aktivisten wie Anonymous kostenlose Buchungscodes und entsprechend gehackte Reisepapiere nicht an die Herrscharen Flüchtender weiterleiten, damit sie nicht länger in Schlauchbooten nach Europa kommen müssen?

Wenn wir heute solchen politischen Träumereien nachhängen, dann ist das auch ein Zeichen dafür, wie akut der politische Handlungsbedarf inzwischen geworden ist.

Krystian Woznicki
berlinergazette.de

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