Ausschaffungen «sicherstellen», die jahrelang unmöglich waren Die Gemeinde als Gefängnis

Politik

Unter der Hand der Zürcher Sicherheitsdirektion hat sich in den vergangenen Monaten eine perfide Politik entwickelt, die Frauen und Männer, die sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben, in ihrer Gemeinde einsperrt – und ihnen mit Gefängnis und einer hohen Geldstrafe droht, wenn sie sich der Regelung widersetzen und ihr Recht auf Bewegungsfreiheit einfordern.

Gemeinden im Kanton Zürich.
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Gemeinden im Kanton Zürich. Foto: Tschubby (CC BY-SA 3.0 cropped)

11. April 2017
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Das wirklich Erschreckende daran ist aber der breite Konsens, dem diese Massnahme begegnet: Wir sind offenbar in einer Zeit angekommen, in der es zum Mainstream geworden ist, gewissen Menschen systematisch ihre Grundrechte zu verweigern.

Das Leben der Sans Papiers in der Schweiz ist ein Leben in Bitterkeit. Wer in der Hoffnung auf eine bessere Zukunft die Landesgrenze überquert hat, über keine gültigen Dokumente verfügt oder dessen Asylgesuch in einer bürokratischen Prozedur abgewiesen wurde, wer aber nicht ins Herkunftsland zurückgehen oder zurückgeschafft werden kann, fristet fortan ein rastloses Leben in äusserster Armut. Zahlreiche Sans Papiers sind Notunterkünften (NUK) zugewiesen, wo sie von 8.50 Franken Nothilfe pro Tag leben und die Angst, dass die Polizei sie abholt und ins Gefängnis bringt, sich in ihren Körpern festbeisst. Ihre Rechte kennen diese Menschen nicht mehr: Ihnen wird der gesellschaftliche Zugang und die Teilnahme am demokratischen Diskurs systematisch verweigert. Ihre Bedürfnisse finden in der Gesellschaft kaum Gehör.

Nun hat der Kanton eine Praxisänderung verfügt, die diese Sans Papiers zusätzlich unter Druck setzt und psychisch beugen will. Das Migrationsamt spricht in zunehmendem Masse Eingrenzungen aus, also Bewegungsverbote für Menschen ohne legalen Aufenthaltsstatus: Sie dürfen sich nur noch auf dem Gebiet jener Gemeinde aufhalten, die ihnen zugeteilt wurde. Ausnahmen sind nur im Rahmen gerichtlicher oder amtlicher Vorladungen, bei Terminen für gemeinnützige Arbeit sowie bei Arztbesuchen möglich. Wer sein Gemeindegebiet verlässt – für Einkäufe oder um den Kontakt zu Familienangehörigen und Freund*innen zu pflegen –, macht sich strafbar und wird mit einer Busse von 800 Franken sowie bis zu drei Jahren Gefängnis geahndet. Es versteht sich von selbst, dass niemand, der von der Nothilfe abhängig ist, diese Busse begleichen kann. Von wem reden wir überhaupt? Einige Beispiele

Meet Ivana*! Ivana, eine alleinerziehende Mutter mit fünf Kindern, hat nie in ihrem Leben Dokumente zu Gesicht bekommen. Vor vier Jahren hat sie in der Schweiz Asyl beantragt. Ihr Antrag wurde abgelehnt. Drei Mal hat sie seither die Unterkunft gewechselt, jetzt fristet sie ihr Dasein in einer NUK einer Zürcher Gemeinde, in der sie kaum Einkaufsmöglichkeiten hat und vereinsamt. Vor dem letzten Umzug erlitt sie einen Infarkt, sie leidet unter Depressionen. Ihre Kinder, alle zwischen zehn und 16 Jahren, müssen nicht nur bei jedem Umzug die Schule wechseln, sondern auch ein neues Umfeld aufbauen. Durch die Eingrenzung ihrer Mutter sind sie auf sich selbst gestellt, sobald sie den Rayon verlassen.

Meet Yeshe*! Yeshe ist in einem Dorf in Tibet auf die Welt gekommen. 2012 gelang ihm die Flucht – im Wissen, dass eine Rückreise für ihn Folter und unmenschliche Behandlung bedeuten würde. Er beantragte Asyl in der Schweiz, das SEM zweifelt jedoch am Wahrheitsgehalt seiner Aussagen und legt fragwürdige Argumente vor, um sein Gesuch letztlich abzulehnen. Yeshe müsste ausreisen, als Tibeter ist es ihm aber unmöglich, seine heimatlichen Papiere zu beschaffen, ohne dabei seine eigene Familie in Gefahr zu bringen. Auf legalem Weg kann er die Schweiz also sowieso nicht verlassen. Jetzt lebt er in einer Zürcher NUK und hat vor kurzem eine Eingrenzung erhalten, obwohl er nie ein Delikt verübt hat. Nur schon, wenn er seine Freundin besucht, macht er sich strafbar – wenn sie ihn besucht, fehlt den beiden jede Privatsphäre.

Meet Mouhamed*! Mouhamed lebt seit fast 15 Jahren in der Schweiz. 2005 stellte man ihm für drei Jahre eine F-Bewilligung aus. Seither hat er immer gearbeitet und lebte in einer eigenen Wohnung in Zürich. Für drei Jahre stand er auf eigenen Beinen, bis ihm seine Bewilligung mit dem Argument entzogen wurde, der Nordirak sei nun wieder eine sichere Region. Mit dem Verlust des legalen Aufenthalts landete er in der Nothilfe und lebt seither mit Dutzenden weiteren Gestrandeten in verschiedenen NUK. Die Eingrenzung schneidet ihn nun vollends von seinem einstigen sozialen Umfeld ab. Ausschaffungen «sicherstellen», die jahrelang unmöglich waren

Dass diese Rayonverbote als Druckmittel verwendet werden dürfen, ist im Ausländergesetz des Bundes (AuG) festgehalten. Die Eingrenzung bewirkt eine Freiheitsbeschränkung und kann dann angeordnet werden, wenn die betroffene Person «die öffentliche Sicherheit und Ordnung stört oder gefährdet», oder aber wenn sie weggewiesen werden soll und «konkrete Anzeichen befürchten lassen, dass die betroffene Person nicht innerhalb der Ausreisefrist ausreisen wird, oder sie die ihr angesetzte Ausreisefrist nicht eingehalten hat». Wie das AuG umgesetzt wird, obliegt wiederum den Sicherheitsdirektionen der Kantone. Da viele der oben beschriebenen Personen eine Ausreisefrist gar nicht einhalten können, ist diese Regelung praktisch willkürlich auf sie anwendbar.

In Zürich stützt sich das Migrationsamt auf eine Weisung über Rayonverbote, die am 1. Juni 2016 in Kraft getreten ist und auf der Website abrufbar ist. Die Eingrenzung fungiere als polizeiliches Kontrollinstrument, heisst es da. Sie soll den Verbleib der betroffenen Person kontrollieren und ihre Verfügbarkeit für die Vorbereitung und Durchführung der Ausschaffung sicherstellen – einer Ausschaffung, die mangels Papiere in den meisten Fällen schon in den Jahren zuvor nicht möglich war. Ausserdem wird der Rayon im automatisierten Fahndungssystem des Bundes RIPOL eingetragen, sodass für die Polizei bei einer Personenkontrolle sofort ersichtlich ist, wenn sich jemand ausserhalb seines Rayons aufhält.

Seit dieser Praxisänderung haben eine Gruppe aus Anwält*innen und der Sans Papiers-Anlaufstelle Zürich (SPAZ) sowie Aktivist*innen der Autonomen Schule Zürich und der Freiplatzaktion vermehrt den Kontakt zu den Betroffenen gesucht und in ihrem Namen systematisch Beschwerden formuliert, um auf juristischem Weg gegen die Verfügungen vorzugehen. Sie werden diese Praxis weiterführen, weil sie nicht tolerieren, dass die Bewegungsfreiheit der Sans Papiers derart eingeschränkt wird. In diesem Rahmen haben sie auch Ivana, Yeshe und Mouhamed kennengelernt. Allen ist bewusst, dass es sich bei den Eingrenzungen nicht um eine schlichte Kontrollmassnahme handelt – denn dafür reicht das Nothilferegime, das die Sans Papiers zur regelmässigen Präsenz in den NUK verpflichtet – sondern um Schikane. Um eine Methode, die das Leben dieser Menschen noch unangenehmer machen soll. Selbst ein NUK-Mitarbeiter bezeichnete die neue Politik als Terror. Die Methode erweckt den Eindruck, den Sans Papiers einen Käfig bauen zu wollen, der gleich effizient, aber weniger teuer ist als ein herkömmliches Gefängnis. Reichen 7.62 Quadratkilometer zum Leben?

Sehen wir uns den Alltag genauer an, den es mit einer Einschränkung zu bewältigen gilt. Die fünf NUK des Kantons Zürich stehen in den Gemeinden Adliswil, Kemptthal, Kloten, Urdorf und Uster und werden von der Ors AG verwaltet. Je nach Gemeinde sind die Sans Papiers mit einer Eingrenzung mit unterschiedlichen Hindernissen konfrontiert. Die Gemeinde Kemptthal respektive Lindau umfasst 12 Quadratkilometer (Urdorf sogar nur 7.62 Quadratkilometer). Das einzige Lebensmittelgeschäft, der Volg in Tangelswangen, ist für nothilfeabhängige Menschen zu teuer, doch die Reise zum Lidl oder Aldi nach Winterthur ist strafbar. Kemptthal verfügt ausserdem über keine Poststelle, die eingeschriebene Briefe entgegennimmt. Auch Sportaktivitäten oder Deutschkurse werden nicht angeboten. Die Angst vor einer Verhaftung frühmorgens, etwa um vier Uhr, ist hier so gross, dass einige Insassen lieber im Wald schlafen als in der Unterkunft.

Auch in der NUK Rohr sehen sich Sans Papiers einer besonderen Situation gegenüber. Die Unterkunft liegt zwar auf dem politischen Gemeindegebiet der Stadt Kloten, wo Einkaufsmöglichkeiten vorhanden sind – der Zugang dahin ist aber nur über die Gemeinden Rümlang oder Glattbrugg möglich. Selbst die Postadresse der NUK lautet auf Glattbrugg. Somit macht sich jeder automatisch strafbar, der einkaufen gehen will.

In der NUK Adliswil, wo vorwiegend Frauen und Familien untergebracht sind, werden sogar gegen alleinerziehende Mütter Eingrenzungen verfügt, die dann gezwungen sind, mit ihren minderjährigen Kindern im Rayon zu verbleiben oder diese allein in die Stadt fahren zu lassen.

In Urdorf und Uster wiederum sind für die NUK ehemalige Zivilschutzanlagen umfunktioniert worden – weder Tageslicht noch frische Luft dringt in diese Räume, von einem Handysignal ganz zu schweigen. Schlaf finden die dort lebenden Sans Papiers, wenn überhaupt, in einem Raum mit zwanzig bis dreissig weiteren Männern. Einige von ihnen haben psychologische Gutachten, dass das Leben in einem Bunker für sie unzumutbar ist. Tagsüber bleibt ihnen kaum mehr als Herumsitzen und Warten, ihr psychischer Zustand lässt sich mit dem Gefühl beschreiben, der Farbe an einer Wand beim Trocknen zuzusehen. «Das Schlimmste an all dem sind aber die Polizeibesuche jeden Morgen zwischen sechs und sieben Uhr», erklärt einer der dort lebenden Männer. Die Beamten wecken nicht nur alle in der Unterkunft schlafenden Leute auf, sondern pflücken ab und an einen von ihnen aus der Reihe und begleiten sie aufs Revier oder gleich ins Gefängnis. Sobald sie dort entlassen werden, erhalten sie die Eingrenzung. Sie werden also von einem Gefängnis ins nächste (und weitaus günstigere) geschickt – ohne dass ihnen dies je erklärt würde. Zürich gehört zu den Topkantonen der harten Linie

Einmal abgesehen vom erschreckenden Ausmass der ausgesprochenen Bewegungsverbote sind an dieser Geschichte drei Aspekte besonders erstaunlich.

Erstens: Im direkten Vergleich mit den anderen Kantonen fährt Zürich eine äusserst harte Linie. Dies zeigte ein Artikel, der kürzlich im Tages-Anzeiger erschien. Selbst den Migrationsämtern in St. Gallen oder im Graubünden, die sonst für eine restriktive Asylpolitik bekannt sind, käme eine so systematische Freiheitsberaubung nicht in den Sinn. Sie betonen das Prinzip der Verhältnismässigkeit. Der Leiter des St. Galler Migrationsamts fand deutliche Worte für die Praxis, welche in Zürich nun verfolgt wird: Sans Papiers «sind keine Gefangenen von uns.»

Zweitens: In einem Interview mit der Zürichsee Zeitung im Juli erklärt Sicherheitsdirektor Mario Fehr (SP), wie der Kanton die Rückweisungen bewerkstelligt und vor allem, wie er abgewiesene Personen «mit einem Mix aus Anreizen und Druck von einer freiwilligen Rückkehr überzeugen» will. Fehr zählt die Einschränkung der Bewegungsfreiheit darauf als ein Druckmittel auf, «das wirkt» – mit der Ergänzung, dass davon Personen betroffen sind, die delinquiert haben, also straffällig geworden sind. Auf Nachfrage der Papierlosen Zeitung bestätigt die Medienstelle des Migrationsamts, dass für die Verfügung einer Eingrenzung die «Störung oder Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung» vorliegen müsse. Im Gespräch mit den Betroffenen wurde dagegen deutlich, dass auch eine ganze Reihe von Personen eine Eingrenzung erhalten haben, die sich während ihrer gesamten Zeit in der Schweiz abgesehen vom Tatbestand des illegalen Aufenthalts nichts haben zuschulden kommen lassen.

Drittens: Jede grössere öffentliche Empörung über diese perfide Art und Weise, Menschen ihre Rechte zu verweigern und sie unter massiven psychischen Druck zu setzen, ist bisher ausgeblieben. Über die Publikation des Artikels im Tages-Anzeiger haben sich alle weiteren Medien ausgeschwiegen. Dabei ist die Eingrenzungspolitik, die das Migrationsamt nun verfolgt, eine krasse Form der Freiheitsberaubung, Einschränkung von Grundrechten und Rechtsverweigerung. Die Betroffenen werden kriminalisiert, gedemütigt und mit einer dem Gefängnis in nichts nachstehenden Strafe geahndet.

Wir leben in einer Zeit, in der eine breite Masse von Bürger*innen sich nicht länger über den unwürdigen Status ihrer Mitmenschen empört, sondern im Unwissen darüber gehalten wird oder sogar befürwortet, dass Sans Papiers ihrer menschlichen Grundrechte und Entwicklungsmöglichkeiten beraubt werden. Es ist höchste Zeit, dieses Schweigen zu brechen und sich klarzumachen, welches Unrecht tagtäglich in diesem Land praktiziert wird.

Rosa La Manishe / Papierlose Zeitung