Weder Überraschung, noch Einzelfall Locarno: Ein Verletzter nach Nazi-Messerangriff

Politik

Grosses Schweigen nach faschistischem Messerangriff in Locarno. Tessiner Medien berichten wenig, deutschschweizerische gar nicht.

Ort des Geschehens. Die Piazza Grande in Locarno.
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Ort des Geschehens. Die Piazza Grande in Locarno. Foto: Adrian Michael (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

5. Dezember 2017
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Der folgende Artikel basiert auf einer Mitteilung der Redazione Rossa e Nera (RRN). Allein den Genoss*innen dieser dreisprachigen Informationsplattform ist es zu verdanken, dass der Vorfall auch nördlich des Gotthards bekannt wurde.

Am Freitag, dem 17. November, ist in Locarno ein 25-jähriger Mann von einem Nazi angegriffen worden. Der gleichaltrige Angreifer trug einen gut sichtbaren Aufnäher der Crew 38, dem Unterstützungsnetzwerk der Hammerskins. Die Auseinandersetzung begann vor der Bar Castello, als mehrere Anwesende dem Neonazi klar machen wollten, dass in Locarno Nazis nicht willkommen sind. Auf der Piazza Grande ist der Streit schliesslich eskaliert. Der Neonazi zückte ein Messer und verletzte einen Anwesenden an der Schulter, nahe dem Hals.

Die Polizei fand das Tatmesser später in einem Mülleimer: Eingraviert ein Hakenkreuz und die Aufschrift «Sieg Heil». Trotz diesen eindeutigen Hinweisen auf ein faschistisches Tatmotiv, spricht die Polizei lieber von einem Streit, der in einer Körperverletzung geendet habe. Einen politischen Hintergrund gebe es keinen. Wie in solchen Fällen üblich, wurde ein Strafverfahren eingeleitet, doch zu einer Verhaftung ist es bisher offenbar nicht gekommen.

Schon wieder eine Bagatelle?

Der Messerangriff ist nicht die erste Gewalttat des Nazis aus Biasca und seiner Gruppe, sagen Jugendliche aus der Region gegenüber tio.ch. Doch bisher hatten Betroffene keine Anzeigen erstattet – offenbar aus Angst vor Vergeltung. Die Behörden versuchen die Tat kleinzureden oder geben überhaupt keinen Kommentar zum Ereignis ab. Wenn aber alles nicht so schlimm ist, drängen sich folgende Fragen auf: Warum ist der Anwalt der Familie des Naziskins sofort nach der Tat am Ort des Geschehens und bei der Polizei aufgetaucht? Warum schweigt sich die Staatsanwaltschaft unter John Noseda (SP) aus? Unbequeme Episoden versanden zu lassen, scheint im Tessin sehr in Mode zu sein.

Weder Überraschung, noch Einzelfall

Die Tat ist kein isolierter Fall. Über die Tessiner Fascho-Szene und die Gesellschaft, die diese hervorbringt, wurde bereits berichtet. Die Tessiner Onlinezeitung tio.ch schreibt nun sogar von einem in der Region Biasca herrschenden «Gesetz der Angst». Schon im Januar hatte die Antifa Bern darauf hingewiesen, dass die Zentralschweizer Sektion der Crew 38 im nördlichen Tessin Mitgliederwerbung betreibt und eine enge Verbindung zu mindestens drei jungen Männern aus Biasca aufgebaut hat. Unter den von der Antifa Bern genannten Namen ist gemäss einer Recherche von tio.ch auch jener des Angreifers zu finden. Zeugen und Tessiner Antifaschist*innen bestätigen das gegenüber ajour.

Die faschistische Präsenz im Tessin «wächst und gedeiht seit einiger Zeit recht störungsfrei», so die Redazione Rossa e Nera. Neonazis könnten ihre Ideologie nahezu ungestört verbreiten und Gewalttaten verüben. Im Mai wurde ein Konzert des afro-italienischen Rappers Bello Figo abgesagt, nachdem Veranstalter und Künstler auf Plakaten bedroht worden waren. Die Behörden zeigten schon damals wenig Interesse an der Strafverfolgung und verklärten die Drohungen und Hakenkreuze zu einem «Lausbubenstreich».

In der Folge häuften sich Gewalttaten wie auch rassistische Inhalte und Drohungen in sozialen Medien. Den entsprechenden Seiten wie «Ticino non conforme», «Ossessione antifascista» oder «Resistenza autoctona» folgen auch verschiedene Tessiner Politiker*innen. Kein Wunder also, wird die faschistische Präsenz von Teilen der Bevölkerung bagatellisiert, toleriert und zum Teil sogar angefeuert. Ein Blick in die Kommentarspalten in sozialen Medien zeigt, wie derzeit viele Menschen ticken: Graffitis lösen mehr Empörung aus als rechte Messerangriffe, Neonazis werden als «immer noch besser» als «rote Zecken» oder «Autonome vom Molino» betrachtet, schreibt die Redazione Rossa e Nera.

Antifaschistische Strukturen aufbauen!

«Was in Locarno passierte ist der x-te Beweis, dass ein antifaschistischer Kampf aufgebaut werden muss, der auch die schweigende Mehrheit thematisiert», folgert die Redazione Rossa e Nera, «wir akzeptieren nicht, dass die faschistische Ideologie toleriert und normalisiert wird. Um dem braunen Brei entgegenzuwirken sind kollektive Anstrengungen und Zivilcourage nötig. Solidarität und Information sind wichtige Waffen. Es muss ein solides antifaschistisches Netzwerk, ein überregionaler gemeinsamer Widerstand aufgebaut werden, der den Rechtsextremismus auf der Strasse, hinter den Bildschirmen, in der Mitte der Gesellschaft und in den Behörden aufdeckt und bekämpft.»

ajour-mag.ch