Jede*r weiss es besser Über 9/11 und Wahrheit

Politik

1. November 2017

Im folgenden Text erinnert sich ein Genosse daran, wie er 9/11 erlebt hat und wie die hiesige Linke auf die Terroranschläge reagierte.

Reste des zerstörten World Trade Centers.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Reste des zerstörten World Trade Centers. Foto: Preston Keres (PD)

1. November 2017
3
2
20 min.
Drucken
Korrektur
Dazu zeichnet der Autor zuerst die politische und militärische Vorgeschichte des 11. Septembers 2001 auf. Der Text ist aber vor allem ein Versuch, die Mythen- und Legendenbildung anzugreifen und den Fokus stattdessen auf eine Staatskritik zu richten. Sich über Aufgabe und Funktionsweise des Staates zu verständigen, dürfte nämlich jenen helfen, die mit der sogenannt «wahrheitssuchenden Bewegung» und ihren Koryphäen wie dem Basler Daniele Ganser noch immer nicht abgeschlossen haben:

In diesem Text geht es um die Anschläge des 11. Septembers in New York City und Washington DC. Obwohl das jetzt schon 16 Jahre her ist, scheint dieses Ereignis in vielerlei Hinsicht eine Art Wendepunkt gewesen zu sein. Nicht nur kamen Verschwörungstheorien aller Art auf und sind seither hoffähig geworden, auch ist der Dschihadismus im Westen zu einer realen greifbaren Bedrohung geworden und gewann dementsprechend an Zulauf. Innerhalb der radikalen Linken, die gerade noch gegen den G8-Gipfel in Genua auf die Strasse ging, kamen nun stärker Positionen auf, die sich kritisch mit antiglobalistischen und antiimperialistischen Positionen auseinandersetzte. Im Zuge des Kriegs gegen den Terror wurde der Überwachungsstaat eifrig ausgebaut und die verfassungsmässigen Grundrechte in einigen Staaten stark beschnitten, während es auf militärischer Ebene einen neuen Feind gab, der sich nicht mehr von den alten Staatsgrenzen einengen liess. Auch die Rechte konnte sich mit dem Feindbild Islam ein neues politisches Steckenpferd zu Nutze machen.

Schock und US-solidarische Welle

Die meisten von uns wissen wahrscheinlich noch genau, wo sie zum Zeitpunkt der Einstürze der Twin Towers waren. Ich sass in einem Bus auf dem Nachhauseweg von meiner Lehre, in der ich damals feststeckte. Als ich dann am Abend im Fernsehen die apokalyptischen Bilder sah, war ich geschockt. Es war sogleich klar, dass die Anschläge gravierende Folgen haben werden, dass Konsequenzen folgen werden, ja dass die US-Regierung entsprechend antworten würde. Der grausame Tod derjenigen Menschen, die sich in den Twin Towers, im Pentagon und in den Fliegern aufhielten, würde gerächt werden. Eine US-solidarische Welle gewann in diesen Tagen die Oberhand. Die meisten Menschen verstanden den Angriff als einen, der ihnen selbst galt. Wohl auch deshalb konnte der schlagartige und massive Ausbau des Überwachungsstaates sowie die Aushebelung von verfassungsmässigen Grundrechten derart reibungslos durchgesetzt werden. Am 7. Oktober 2001 marschierten schliesslich die US-Armee und ihre Verbündeten in Afghanistan ein und stürzten das Taliban-Regime.

Während in der Linken kurz nach den Anschlägen darüber gestritten wurde, ob man den islamischen Fundamentalismus oder die US-Aussenpolitik als Ursache für den Terror verurteilen soll, breiteten sich im Internet schnell erste Theorien aus, welche behaupteten, die Anschläge auf das WTC und das Pentagon seien inszeniert gewesen, um einen Einmarsch in Afghanistan zu ermöglichen. Dies gegen einen Feind, der noch kurz zuvor der Verbündete gewesen sei, die Taliban. Auch gäbe es die Al-Qaida nicht, sie wäre eine Erfindung der US-Geheimdienste, um ihr die Anschläge in die Schuhe zu schieben und damit die Taliban zu diskreditieren, weil sie ihr Unterschlupf böten.

Dass solche Behauptungen nur schwer zu halten sind, versuche ich nun im Folgenden aufzuzeigen. Ebenso möchte ich die damaligen Debatten innerhalb der Linken ein wenig beleuchten, um meine eigenen Positionen zu verteidigen. Dazu beginne ich beim Abzug der sowjetischen Armee 1989. Auf antisemitische Theorien werde ich hier aber nicht eingehen, etwa der Behauptung, es wären zum Zeitpunkt der Anschläge keine Jüdinnen und Juden in den Gebäuden gewesen, weil sie alle davon gewusst, aber ihren nicht-jüdischen Kolleg*innen nichts gesagt hätten. Wer an sowas glaubt, ist nicht Adressat, der mit diesem Text überzeugt werden soll, sondern schlicht ein Feind, der geschlagen werden muss.

Kriegerisches Vorspiel in Afghanistan

1979 begann die regierende sozialistische Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) damit, die politische Opposition (die Mudschahedin) niederzuschlagen, um eine Säkularisierung des Landes zu erzwingen. Dies führte zu einem Bürgerkrieg. Um einem Nato-Einsatz in Afghanistan zuvorzukommen, marschierte die Sowjetarmee an der Seite der DVPA ins Land ein. Der Widerstand der Mudschahedin gegen den russischen Einmarsch in Afghanistan konnte in zehn Jahren (Guerilla-)Krieg nicht gebrochen werden und die Sowjetarmee sah sich schliesslich zum Rückzug gezwungen. Dabei wurden die Mudschahedin von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützt.

Auch nach dem Abzug der Sowjetarmee setzte sich der innere Zerfall Afghanistans fort. Es kam zum Bürgerkrieg zwischen verschiedenen Teilen der Mudschahedin, die vorher noch gemeinsam gegen die russische Armee gekämpft hatten.1 1994 traten dann die Taliban in Erscheinung und gründeten 1996 ihr «Islamisches Emirat Afghanistan» das offiziell nur von Saudi-Arabien, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan anerkannt wurde. In diesem Emirat galt eine der strengsten je eingeführten Auslegungen der Scharia. Darüber hinaus konnte sich die Terrororganisation Al-Qaida im Land niederlassen. Gegen die Taliban schlossen sich die übrig gebliebenen Gebiete (also ehemalige Feinde) ebenfalls im selben Jahr in der Nordallianz (Vereinigte Front) unter der militärischen Führung von Ahmad Schah Massoud zusammen, welcher die Sympathie des Irans, der USA und der westlichen Regierungen genoss.

Bereits seit 1997 geht die CIA gegen die Al-Qaida in Afghanistan vor. 1998 nach den Anschlägen auf die US-Botschaften in Kenia und Tansania mit 224 Toten werden u.a. in Afghanistan Trainingscamps der Al-Qaida mit Marschflugkörpern angegriffen, und bereits 1999 versuchte man, Osama Bin Laden gezielt auszuschalten, was aber durch einen Militärputsch Musharrafs in Pakistan verhindert wurde. Die Taliban konnten ihr Territorium bis zum September 2001 über die grössten Teile des Landes ausdehnen.2 Sollte das US-Militär einen Einmarsch schon länger geplant haben, so wäre dies wohl der ausschlaggebende Faktor gewesen. Durch das sehr grausame Vorgehen der Taliban kam es zu grossen Fluchtbewegungen in den Norden Afghanistans, wo sich die Nordallianz bis zum Schluss halten konnte.3

Ahmad Schah Massoud, ein ehemaliger Mudschaheddin sowie überzeugter Demokrat und gemässigter Muslim, der als einziger erfolgreich gegen die Taliban kämpfte (wie zuvor schon gegen die sowjetische Armee) und von dem Human Rights Watch behauptete, dass dessen Truppen seit 1996 keine Menschenrechtsverletzungen begangen hätten, wurde am 9. September 2001 bei einem Attentat getötet, also zwei Tage vor den Anschlägen in New York City und Washington DC. Massoud warnte bei einem Besuch in Europa im Frühjahr 2001 noch davor, dass ein grossangelegter Anschlag auf US-amerikanischen Boden unmittelbar bevorstünde, wobei er sich auf seinen Geheimdienst bezog.

Sollte der Einmarsch der US-Armee in Afghanistan schon länger beschlossene Sache gewesen sein, so hätte der Anschlag auf die Zwillingstürme 2001 seine Legitimierung ermöglicht (vielleicht genauso wie Pearl Harbor den Kriegseintritt der USA in den 2. Weltkrieg ermöglicht hatte). Die Al-Qaida wären diejenigen gewesen, die das besiegelt hätten. Kriege, die ohnehin feststehen, müssen irgendwann noch begonnen werden. Der Krieg könnte aus Besorgnis der US-Regierung über die bevorstehende Niederlage der Vereinigten Front in Afghanistan – vor allem schliesslich durch den Tod Massouds – besiegelt gewesen sein.

Die Islamisten der Al-Qaida hingegen begingen die Anschläge wahrscheinlich gar nicht mit dem Ziel, die US-Regierung in einen Krieg mit Afghanistan zu verwickeln. Sehr wohl aber nahmen sie dies in Kauf. Mit den Anschlägen vom 11. September stachen sie direkt ins Herz der westlichen Gesellschaft und griffen die USA stellvertretend für die westliche Weltordnung an. Aus der Sicht der Al-Qaida führt der Westen einen Krieg gegen den Islam und ist deshalb zu bekämpfen. Erklärtes Ziel ist es, einen Krieg zwischen den Religionen vom Zaun zu brechen zwecks Schaffung eines islamischen Weltstaates innerhalb der Grenzen aller jemals durch muslimische Herrscher kontrollierten Gebiete. Indem man die USA direkt angriff, versuchte man den Westen dazu zu bringen, sich in (weitere) Kriege in islamischen Ländern zu verwickeln, da man davon ausging, dass man sie so militärisch besiegen könnte.

So viele Kriegsgründe

Die deutsche Bundesregierung und ihre Bündnispartner (Regierung Chirac) begründeten den Einsatz in Afghanistan mit Frauen- und Menschenrechten, die von den Taliban mit Füssen getreten wurden. Offiziell war Demokratisierung auch das Zauberwort der US-Regierung. Aber viele liessen sich nicht von derartigen Begründungen abspeisen, eine Regierung führt schliesslich keine Kriege aus Nettigkeit. Wenn es nicht die Besorgnis vor den Taliban und der Al-Qaida war, was war es dann? Wollte die US-Regierung eine saudi-arabische/pakistanische Dominanz in der Region verhindern oder fürchtete sie sich gar davor?

Man vermutete Pipelineprojekte, die multinationale Unternehmen durch Afghanistan bauen wollten oder eine Nato-Mission zur weiteren Einkreisung Russlands. Andere argumentierten mit einem sich verselbständigenden militärisch-industriellen Komplex, der nur im Interesse des Wachstums der Militärausgaben agieren würde. Wieder andere dachten an einen Krieg, der hauptsächlich geführt würde, um von drängenden Problemen im eigenen Land abzulenken.4

Dann folgten die Vorbereitungen für den Irakkrieg. Die Begründungen der Regierungen der Vereinigten Staaten und Grossbritanniens für einen weiteren Einmarsch – es könnten Massenvernichtungswaffen, die der Irak besitze, an die Al-Qaida gelangen – waren aber von Anfang an international stark umstritten und gingen auch den meisten Nato-Bündnispartnern zu weit. Letztlich wurden im Irak doch keine Massenvernichtungswaffen gefunden und so wird bis heute über die Gründe dieses Krieges spekuliert.5 Schnell wurde auch hierbei wieder das Öl ins Spiel gebracht. Die Parole «Kein Blut für Öl» machte die Runde und man mutmasste, das Regime Saddam Husseins sei entmachtet worden, weil es seit 2000 seine Ölverkäufe mit dem Euro abrechnete, was zu einer Legitimationskrise des Dollars führte. Und da dies den Europäern genutzt habe, hätte die US-Regierung sie auch nicht für den Irakkrieg gewinnen können. Mit Ausnahme von Polen, Spanien, der Ukraine und Grossbritannien.

Kurz vor Beginn des Krieges stand eine grosse Antikriegsbewegung bereit. Der Krieg begann am 21. März 2003, doch schon am 12. Januar desselben Jahres gingen in Los Angeles an die 12 000 Leute auf die Strasse. Von da an wuchs die Bewegung stark an. So gingen am 15. Februar weltweit Millionen auf die Strasse, allein in Bern sollen an die 40 000 Leute gegen den Angriffskrieg demonstriert haben. Doch der Krieg wurde trotzdem geführt, notabene ohne dass die USA diesmal kurz davor einen islamistischen Terroranschlag erlebt hätten. Als nach dem Sturz des Regimes die irakische Armee entwaffnet und aufgelöst wurde, trat auch hier die Al-Qaida auf den Plan. Sie befeuerte einen Bürgerkrieg, indem sie Sunnit*innen und Schiit*innen mittels grausamster Anschläge gegeneinander aufhetzte.

Die Risse, die den Nahe Osten seit langer Zeit durchziehen, sind damit grösser geworden. Das begünstigte wiederum neue sinnstiftende Theorien. Es ginge dem Westen gar nicht darum, loyale Regimes zu etablieren, sondern die Region instabil zu halten, um zu verhindern, dass sie zu einem starken Machtblock wird. Die Welt sei viel zu sehr von ihr und ihrem Öl abhängig, als dass man sich von ihnen hätte Preise diktieren lassen.

Mit Sicherheit gibt es nicht den einen Grund, welcher die US-Regierung dazu verleiten liess, einen Krieg zu beginnen. Eher war es eine Vielzahl an Faktoren, welche die Bush-Regierung abgewägt hatte und so schliesslich einen Beschluss fasste. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass innerhalb eines Staates nicht bloss die Regierung massgebend für politische Entscheide ist, sondern dass stets verschiedene Interessengruppen und Fraktionen ihren Einfluss geltend machen.

Linke Orientierungskrise

Innerhalb der Linken entbrannte schnell ein Streit über den Islamismus und seine Anschläge. Die ersten Reaktionen sahen in den Anschlägen ein nicht-beabsichtigtes Produkt US-imperialistischer Aussenpolitik. Es wäre nicht weiter verwunderlich, dass da mal einer zurückschlage, schliesslich würden die USA ja auch austeilen. Kritisiert wurde an einer solchen Position, dass man damit den reaktionären Charakter des islamischen Fundamentalismus der Al-Qaida unter den Teppich wischen würde. Es würde der Al-Qaida eben nicht darum gehen, sich vom Imperialismus zu befreien (dies wäre nur Mittel zum Zweck), sondern nur darum, selber zum Imperialisten zu werden. «Während sich die Terroristen selbst über ihre Motive in Schweigen hüllen, versuchen 'linke' Kommentatoren und Kommentatorinnen [...] ihnen eine Begründung zu liefern», schrieb die marxistisch-humanistische Zeitschrift News & Letters zwei Wochen nach den Anschlägen.

Einige Linke zeigte sich zuweilen sogar solidarisch mit den Attentätern. Weil man, um einen in permanentem Kriegszustand verharrenden Gegner wie die USA zu schlagen, auf jegliche Hilfe angewiesen wäre, müsse man halt auch mit den finstersten Zeitgenossen der Al-Qaida zusammenarbeiten. Ganz nach dem Grundsatz «der Feind meines Feindes ist mein Freund». Bei solchen Positionen wird davon abstrahiert, dass jener neue Freund in seinem eigenen Einflussbereich nicht weniger unterdrückerisch ist gegenüber jenen, die für soziale Fortschritte kämpfen. Dieser neue «Freund» ist genaugenommen gar keiner, da es ja nur eine einseitige, imaginäre Freundschaft ist. Hätte er die Möglichkeit dazu, würde der islamische Fundamentalismus die gesamte Linke ohne zu zögern auslöschen.

Mit dieser zynischen Taktiererei verlor ein Teil der Linken jene aus den Augen, die für wirkliche Veränderung kämpfen und kein Interesse am Paktieren mit Reaktionären haben: Die Unterdrückten jener Länder, die Klasse der Lohnabhängigen, die ebenfalls gegen die Taliban und andere Schlächter kämpfen, um ihre Lebensbedingungen zu verbessern, während sie in internationale Arbeitsteilung (Textilgewerbe, Opiumanbau, Ölraffinerien) integriert sind oder in Substistenzwirtschaft vor sich hinsiechen. Es geht also um jene Unsichtbaren, die sich vielleicht zwar nicht mit dem Kürzel «Kommunist*in» versehen, deren Praxis aber durchaus radikal ist, obwohl sich um sie keine einzige bisher genannte Fraktion schert. Es geht um die Beibehaltung einer Klassenperspektive, um die Solidarität mit jenen von unten, die nicht vertauscht werden darf mit einem falsch verstandenen Antiimperialismus, der auf einem Denken in staatlichen und geopolitischen Machtblöcken beruht. «Wahrheitssucher*innen» von rechts Weiter traten nach 9/11 immer mehr Kreise auf, die sich mit dem Label «Wahrheit» (sogenannte Truther) schmückten und dann zunehmend auf dem politischen Parkett auftraten. So zum ersten Mal sichtbar an den Occupy-Protesten. Sie konkurrierten damit die antiglobalisierungs- und zinskritische Rechte oder verschmolzen mit dieser.

Der Basler «Friedensforscher» und Historiker Daniele Ganser ist einer davon. Im Nachgang der Anschläge inszenierte sich Ganser als Opfer: «Feuer oder Sprengung? Daraufhin hat mich die US-Botschaft in der Schweiz umgehend als 'Verschwörungstheoretiker' angegriffen. Das war unfair.» Doch Ganser erlangte in der Linken einige Sympathie mit seiner Auseinandersetzung mit den Nato-Geheimarmeen (Gladio und anderen Stay-behind-Organisationen). Auch wenn Fachexpert*innen schon früh Gansers Methodik kritisierten, galt seine Studie vielen als verlässlich und deckte sich mit den Erfahrungen der damaligen Linken. Seit einiger Zeit jedoch nähert sich Ganser immer mehr der wahrheitssuchenden Bewegung an und fordert eine «unabhängige Untersuchung» zu den Geschehnissen vom 11. September 2001. Inzwischen gehört er zu den prominentesten Kritiker*innen der offiziellen Zusammenbruchstheorien der Zwillingstürme und dem WTC7.

So fühlt er sich unfair behandelt, ja gar diffamiert, wenn er von einer Regierung getadelt wird, deren eigene Version er anzweifelt. Aber was erwartet er, wenn er ihr vorwirft, den Tod von etwa 3'000 ihrer eigenen Bürger*innen zu verantworten. Auch wäre interessant zu wissen, wer gemäss Ganser eine solche «unabhängige Untersuchung» leisten soll. Mal angenommen, er hätte recht und das World Trade Center wurde gesprengt (MIHOP Make it happen on purpose, «9/11 was a Inside Job»), oder zumindest wurden die Anschläge nicht verhindert (LIHOP Let it happen on purpose). Sollte dies publik werden würde das die US-Regierung in eine gewaltige Legitimationskrise stürzen. Das Vertrauen in das politische System wäre auf einen Schlag dahin, die Folgen eines solchen Szenarios wären unabsehbar. Die innere Stabilität wäre nicht mehr länger garantiert, und dies würde sich auch global bemerkbar machen. Dass dies keine Regierung zulassen kann, ja auch nur in Betracht ziehen würde, steht ausser Frage. Und trotzdem wird genau dies gefordert.

Ganser tummelt sich heute bereits ohne jegliche Berührungsängste bei rechten und verschwörungstheoretischen Publizisten wie Ken Jebsen oder Jürgen Elsässer. In Elsässers «TV»-Format quatschte Ganser auch schon angeregt mit dem neofaschistischen ehemaligen Paramilitär Karl-Heinz Hoffmann über dessen «Wehrsportgruppe» und das Oktoberfest-Attentat von 1980. Der vermeintlich seriöse Wissenschaftler Ganser, der den Support einer Reihe liberaler, linksliberaler und grüner Persönlichkeiten aus der Schweiz geniesst, normalisiert und legitimiert so einen militanten Rassisten. Querfronten aller Art sind ein zentrales Merkmal der Truther-Bewegung.

In einem Artikel auf Hintergrund.de, wo auch Ganser schreibt, heisst es: «Um ihre Ziele zu erreichen, muss die entstandene Aufklärungsbewegung aus der Nische heraus und mit ihren Ideen und Aussagen in die Mitte der Gesellschaft hineinwirken. Natürliche Bündnisse mit Friedens-, Menschenrechts- und globalisierungskritischen Bewegungen, aber auch der Umwelt- und Antiatom-Bewegung (Stichwort Depleted Uranium) bieten sich an, um eine gemeinsame einflussreiche Oppositionsfront gegen den aktuellen Missbrauch der Macht aufzubauen.» Wenn wie hier geschrieben wird, man wolle den aktuellen Missbrauch der Macht bekämpfen, wird eine Verschwörung ja auch bereits vorweggenommen.

Genauso wie kaum jemand daran glaubt, dass die US-Regierung Krieg führt, ohne davon zumindest einen geostrategischen Nutzen zu haben, genausowenig glaube ich daran, dass diejenigen, welche die offizielle Ursache des Einsturzes der Zwillingstürme anzweifeln, dies tun, nur weil ihnen offensichtliche Unwahrheiten aufgefallen wären. Man könnte also geneigt sein, zu behaupten, dass jene die die USA physisch angegriffen haben, mit jenen, die den USA eine Verschwörung vorwerfen, sich ideologisch überlappen. In ihrem Ziel, die US-Regierung zu schwächen, würden sie sich nur in der Wahl ihrer Mittel unterscheiden.

So könnte man eben auch all jenen, die behaupten, die US-Regierung hätte eine Verschwörung zu verantworten, und dabei allen anderen zu verstehen geben, sie wären gutgläubig, weil sie das Offensichtliche nicht sähen, selbst Gutgläubigkeit vorwerfen. Man müsste ihnen sagen, dass sie sich möglicherweise in die Fänge von antiamerikanischen oder diffus antiimperialistischen Agitator*innen begeben hätten und womöglich im Interesse anderer Staaten handeln. Staaten, die selbst hin und wieder Verschwörungstheorien verbreiten. Sie wären somit selbst Teil einer Verschwörung, die zum Ziel haben könnte, den US-Staat zu schwächen und eine Opposition an die Macht zu befördern, der es sicher nicht um «die Wahrheit» geht.

Die USA tut, was ein Staat tun muss

Dies konnte man bisher alles so lesen, als ob ich ein gewisses Verständnis für die Taten der USA hegen würde. Schliesslich habe ich bisher noch kein Wort zu Guantanamo verloren, kein Wort über die Tötungskommandos des US-Militärs (JSOC), die unzählige Zivilist*innen das Leben gekostet haben. Kein Wort über die Grausamkeiten in anderen Kriegen, etwa Laos, Vietnam oder dem Koreakrieg. Dies liegt daran, dass ich bisher versucht habe, aufzuzeigen, warum diese Verschwörungstheorien, die ich eingangs erwähnt habe, wenig Sinn machen, ja dass die Ereignisse durchaus ein stimmiges Bild ergeben. Für ein Verständnis von 9/11 und der nachfolgenden Kriege benötigt man krude Theorien schlicht nicht. Dass die USA durchaus skrupellos und verbrecherisch ihre Interessen verteidigen, steht ausser Frage. Trotzdem stellen sie nicht einen irgendwie besonders bösen Staat dar. Derartige moralische Kategorien helfen auch nicht im Geringsten weiter. Dass die USA vielen Angelegenheiten ihren Stempel aufdrücken, liegt daran, dass sie noch immer der einflussreichste Staat der Welt sind. Doch dies machen die EU, Russland oder China genauso.

Als ideeller Gesamtkapitalist betreibt der Staat in erster Linie Standortpolitik, um international wettbewerbsfähig zu bleiben und um dem nationalen wie internationalen Kapital bestmögliche Verwertungsbedingungen bereitzustellen. Und dies macht jeder Staat auf eine andere Weise. In der Schweiz mit ihrer direkten Demokratie haben die Bürger*innen z.B. ein ganzes Instrumentarium zur Verfügung, um bis zu einem gewissen Grad mitzuentscheiden, wie diese Standortpolitik betrieben werden soll. Dieser Staatsfetisch ist hierzulande derart stark, dass sich die Wähler*innen sogar mit den Interessen des Kapitals identifizieren, um dann sogar gegen mehr Ferien zu votieren!

In anderen Staaten wie im ehemaligen Irak liess sich die Stabilität nur durch eine Diktatur aufrechterhalten. Zum internationalen Wettbewerb gehört aber auch, dass die einzelnen Staaten Blöcke und Bündnisse bilden und internationale Abkommen treffen. Denn um Handel zu betreiben, braucht es einen rechtlichen Rahmen, er ist Grundvoraussetzung für den Tauschhandel selbst. Auch dient die Blockbildung dazu, um international seine Interessen besser durchzusetzen. So ist die EU als Konkurrenzprojekt zu den USA aber auch zu Russland zu sehen.

Trotz allem geht es dem Staat nicht darum, seinen Bewohner*innen ein schönes Leben und ein Mitspracherecht zu bieten (nur soweit es stabilisierend wirkt und die Produktivität fördert.) Für den Staat sind seine Bürger*innen ein Kostenfaktor und eine Ressource gleichermassen, nichts weiter. Das ist aber kein Schönheitsfehler, sondern ein Sachzwang. Und gemäss dieser Definition von Staat ist die Nation das Bindemittel, das den Bürger*innen eine Staatsidentität gibt. Die Nation ist also jenes Element, das die Bewohner*innen an den Staat koppelt und sie somit zu seiner Basis macht.

Gute Staaten, schlechte Staaten?

Ich stehe aber nicht für den einen oder den anderen Staat ein, da ich den Kapitalismus als eine der Menschheit feindliche Produktionsweise erachte. Eine Produktionsweise, die eben genau auf den Staat und sein Wohlwollen (in Form der Nation) angewiesen ist. Auch sehe ich nicht ein, dass die schwachen Staaten schlicht aus dem Grund gestärkt werden sollten, da dies dann etwas zugunsten einer gesamtgesellschaftlichen Umwälzung beitragen würde. Viel mehr finde ich, dass man damit nur in Teufels Küche hinabsteigt und dem Nationalismus die Hände reicht, und so zwar nicht den Staat an sich befürwortet, aber doch in der Praxis jenen konkreten, auf den man setzt.

Ebenso halte ich die Annahme für absurd, dass wenn die starken dominanten Staaten zusammenbrechen würden, dann auch der Kapitalismus an sein Ende käme. Das geht auch an die Nazis der Neuen Rechten, die eben nicht mehr wie Hitler ein Grossreich wollen, sondern wieder auf Kleinstaaterei bauen. Dies wäre die antiimperialistische Spielweise, die sich ebenfalls dem Nationalismus hingibt, wenn man sich an die Seite nicht (oder noch nicht) imperialistischer Staaten stellt. Wo genau diese imperiale-nichtimperiale Trennlinie zu ziehen ist, bleibt freilich auch immer der eigenen Interpretation offen.

Wenn das, was 2008 während der Subprime-Krise fast passiert wäre, wieder passieren würde, nämlich wenn das Weltfinanzsystem zusammenbräche, dann würde dies alle auf der Welt in der einen oder anderen Härte betreffen. Und ein solcher Zusammenbruch wäre eben nicht auf eine antiimperialistische Praxis zurückzuführen, sondern auf einen Kapitalismus der Krisen notwendig und wiederkehrend hervorbringt. Dabei wäre es wohlbemerkt nicht das Kapital, das sich in der Krise befände. Es wäre die Arbeit! Das Kapital hat nur das Problem, dass es nicht mehr genug Profit abwirft. Das Kapital würde diese Krisen-Probleme fernab der nationalstaatlichen Grenzen lösen, indem es die Lohnkosten wieder auf ein rentableres Niveau senkt.

Verschwörungstheorien helfen den Falschen

Es ist eben jener Kapitalismus der es nicht schafft, den Ländern im Nahen Osten, den Ländern des ehemaligen Panarabismus, einen wirtschaftlichen Aufstieg zu verpassen. Dies ist eine Krisenerscheinung, in der der Kapitalismus seit den 70er Jahren steckt und die nur nicht vollends durchgebrochen ist, weil weltweit der Kredit auf ein Extrem ausgeweitet wurde. 2008 wäre dies aber fast passiert und konnte nur verhindert werden, weil die Staaten selbst sich bis zum Rande verschuldet haben, um die Säulen dieses Kreditwesens zu retten. Die failed states im Nahen Osten haben dem Islamismus den Nährboden bereitet, der ideologisch durch den Wahhabismus und materiell im Zuge des Kalten Kriegs mitunter durch US-Geheimdienste vorbereitet wurde.

Wahrscheinlich waren die Anschläge nicht inszeniert, auch wenn der US-Staat seinen Anteil an der Entstehung und am Erstarken des fundamentalistischen Islam hatte. Die Geister die sie riefen, haben sich nun gegen sie gewandt, und wurden derart stark, dass man sich gezwungen sah, in Afghanistan zu intervenieren. Die Al-Qaida hat ihr Etappenziel erreicht, sie hat den Westen in weitere Kriege hineingezogen. Doch ihrem Endziel, einen islamischen Weltstaat zu schaffen, ist sie nicht näher gekommen. Trotz hoher Kosten eröffneten sich dem Westen dennoch auch lukrative Chancen, die es am Schopf zu packen gilt um sich weiteren Einfluss zu sichern.

Die Kriege und der Terror dauern derweil bis heute fort, während die Grenzen neu gezogen werden. Der Terrorismus wiederum spielt der extremen Rechten in die Hände, die so langsam in Fahrt kommt und in Zukunft auch Europa weiter destabilisieren dürfte. Hierbei spielen die besprochenen Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle. In dieser Situation gilt es für die Linke eine klare Trennlinie zu ziehen. Denn wenn es die Linke nicht fertigbringt, sich von diesem «wahrheitssuchenden» Milieu abzugrenzen, wenn sie sich sogar ähnlichen Argumentationsmustern bedient, so macht sie sich selbst definitiv überflüssig.

Georg Hinkebein / ajour-mag.ch