Die Ermordung einer politischen Aktivistin Brasilien: Marielle Franco, presente – Marielle Franco ist hier!

Politik

9. April 2018

Am 14. März 2018 wurde die Stadträtin Marielle Franco in Rio de Janeiro auf offener Strasse erschossen. Ihre Ermordung zeigt, vor welchen Herausforderungen die Menschenrechtsarbeit in Brasilien steht.

Marielle Franco auf einer Veranstaltung in Rio de Janeiro, August 2016.
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Marielle Franco auf einer Veranstaltung in Rio de Janeiro, August 2016. Foto: Mídia NINJA (CC BY-SA 2.0 cropped)

9. April 2018
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Die Hinrichtung von Marielle Franco, Stadträtin der Partei Sozialismus und Freiheit (PSOL) in Rio de Janeiro und ihrem Fahrer, Anderson Gomes, mitten im Stadtzentrum von Rio am 14. März 2018 zeigt überdeutlich, vor welchen Herausforderungen die Menschenrechtsarbeit heute in Brasilien steht.

Marielle war eine schwarze, aus einer Favela (Elendsviertel) stammende, lesbische Frau. Die 46.502 Stimmen, mit denen sie 2016 in Rio de Janeiro zur Stadträtin gewählt wurde (damit lag sie bei der Stimmenauszählung auf dem 5. Platz aller gewählten Stadträt/innen in jenem Jahr) machten sie zu einer Führungskraft neuen Stils. Mit ihrer Politik war sie nah an ihren Wähler/innen; sie beteiligte sich an Diskussionen mit Gruppen und Kollektiven, die in den letzten Jahren neu entstanden waren und die eine ganz neue Zivilgesellschaft bilden. Nicht nur in Brasilien, sondern auch auf den Strassen und Plätzen überall auf der Welt: Occupy Wall Street, die Empörten in Chile und Spanien, der arabische Frühling, die Juni-Demonstrationen und der Frühling der Frauen in Brasilien.

Der Mord an Marielle hat weltweit Aufsehen und Aufmerksamkeit erregt. International bekannte Künstler/innen haben sich mit den Trauernden in Rio de Janeiro solidarisiert und Gerechtigkeit und Aufklärung gefordert. Überall in Brasilien und an vielen Orten weltweit gab es Demonstrationen, überregionale Medien aus aller Welt berichteten über den Fall. Ein Manifest, das u.a. von Edward Snowden, Noam Chomsky, Angela Davis, Chimamanda Ngozi Adichie unterschrieben ist, fordert die Einrichtung einer unabhängigen Untersuchungskommission für die Aufklärung des Falles; brasilianische Spitzenpolitiker/innen, auch solche, die gänzlich anderer Meinung als Marielle waren, haben ihrer Bestürzung Ausdruck verliehen.

Marielle lehrte uns solidarisch zu sein

Aber warum sind so ausgesprochen viele Menschen auf die Strasse gegangen, wenn doch die offizielle Politik sich beeilt hat zu beteuern, sie werde alles für eine Aufklärung tun? Hier wird ein Ruf nach Gerechtigkeit und Teilhabe laut, gegen wachsende Ungleichheit und Diskriminierung, gegen die Konzentration von Reichtum, die in den letzten Jahren weltweit immer neue Multimilliardäre hervorgebracht hat. In einer Zeit, in der die extreme Rechte in vielen Ländern an Stärke gewinnt, was viele sehen und fürchten, sind alle aufgerufen sich öffentlich zu äussern: die Verteidiger/innen der Rechte genauso wie jene, die auf die Zunahme von Konflikten und Diskriminierung aufmerksam geworden sind.

Marielle lehrte uns noch etwas: Es ist möglich und notwendig, solidarisch zu sein und unsere Stimme für die Ärmsten und Rechtlosen zu erheben, ganz gleich ob wir selbst betroffen sind oder nicht.

Gleichzeitig kritisieren Marielle und einige wenige andere aber auch die brasilianische Linke. Welche Rolle nehmen deren Vertreter/innen im Spiel der politischen Parteien wirklich ein, wenn es um die Anliegen von Minderheiten und Benachteiligten geht? Mit diesen Fragen, die Frauen und Schwarze immer wieder gestellt haben - und besonders die schwarzen Frauen - konnte die Linke noch nie gut umgehen. Trotz der Schaffung von thematischen Arbeitsgruppen innerhalb der Parteien und der Fortschritte im Sinne der Themensetzung, hatten Schwarze und Frauen nie wirkliche Macht bei den Entscheidungen, die in den traditionellen Parteien getroffen wurden.

Marielle, ihre Art zu kämpfen und ihr Engagement dafür, scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, hat den Parteiführungen keine andere Wahl gelassen, als Verantwortung zu übernehmen und eine tatsächliche Debatte über diese Themen anzuregen und die Aufstellung einer grösseren Anzahl von Kandidat/innen aus diesen Teilen der Gesellschaft zu erreichen. Die Schaffung eines nationalen Projekts, das die Einbeziehung aller und die Gerechtigkeit zum Ziel hat und nicht nur ein Machtprojekt ist, ist keine einfache Aufgabe - zumal ein solcher Ansatz heute weltweit politisch an Akzeptanz verliert.

„Wie viele müssen noch sterben, damit dieser Krieg aufhört?“

Es verwundert nicht, dass die Empörung und das, wofür Marielle steht, die Fakenews-Maschinerie sofort anlaufen liess. Mit Hilfe Sozialer Netzwerke wurde versucht, das Vermächtnis der Stadträtin zu zerstören und ihre Biographie zu beschmutzen. Der Inhalt dieser Informationen verbindet die Figur Marielle mit einem Stereotyp, das sich in der Gesellschaft hartnäckig hält, dass Favela-Bewohner/innen mit Drogenhandel zu tun haben, kriminelles Handeln tolerieren und letztlich freiwillig arm bleiben, sich einfach „nicht genug Mühe geben“, um ihre Situation zu ändern.

Um diese Fakenews zu stoppen, hat eine Kommission aus Anwält/innen die Sozialen Netze durchforstet und der Polizei fast siebzehntausend verunglimpfende Posts gegen die Stadträtin übergeben. Facebook hat daraufhin Seiten vom Netz genommen, die falsche Nachrichten über Marielle verbreitet hatten und YouTube hat sechzehn Videos mit solchen Inhalten gelöscht. Straflosigkeit im Netz wurde thematisiert und die Fakenews erhielten einen herben Schlag.

Die Verteidigung des Lebens als wichtigstes Gut war ein Leitthema Marielles. Sie prangerte kriminelles Handeln von Polizisten in den Favelas von Rio de Janeiro und deren Verantwortung für den Tod von hunderten von Favelabewohner/innen pro Jahr an. Marielle hat auch die Militärintervention kritisiert, die im Februar 2018 von der Bundesregierung angeordnet wurde, um der Krise der öffentlichen Sicherheit im Bundesstaat Rio de Janeiro zu begegnen. In der Woche ihres Todes hatte Marielle die Umstände des Todes eines Jugendlichen in der Favela Jacarezinho und die Brutalität der Polizeiaktionen in der Favela Acari mit folgenden Worten angeklagt: „Wie viele müssen noch sterben, damit dieser Krieg aufhört?“

In den vergangenen acht Jahren kamen in Brasilien 21.897 Personen durch die Polizei zu Tode. Exzessive Gewalt ist eine Konstante in den Aktionen der brasilianischen Polizei. Hinzu kommt die geringe Aufklärungsquote von Gewaltverbrechen. 90 Prozent der Fälle bleiben ungelöst. Gleichzeitig hat Brasilien eine der höchsten Zahlen von ermordeten Polizisten, 2016 waren es 437. Die meisten dieser Morde (70 Prozent) geschehen, wenn die Polizisten Zusatzjobs (z.B. in privaten Sicherheitsfirmen) ausführen, um ihr Einkommen aufzubessern.

Das Profil der Opfer folgt dem bekannten Muster: Es sind junge schwarze Männer und Bewohner der Peripherie. 2016 waren 81,8 Prozent der Opfer zwischen 12 und 29 Jahre alt, 76,2 Prozent waren schwarz. Diese kürzlich erhobenen Daten sind für Forschung, Entscheidungsträger/innen und die Bevölkerung in ihrer Aussage nicht neu. Brasilien ist nach wie vor ein Land voller Gewalt, selektiv in seiner Bestrafung und von abgrundtiefer Ungleichheit. Immer, wenn wir diese Zahlen bei internationalen Kongressen und Aktivitäten vorstellen, werden wir gefragt warum wir nichts dagegen unternehmen.

Warum wird so viel gemordet? Warum wird nicht bestraft? Wir haben keinen Krieg, aber die Zahlen der Getöteten kommen dem nahe. Wir leben in einer Demokratie, mit funktionierenden Institutionen, mit Gewaltenteilung, mit garantierten politischen Rechten, mit breiten und für alle zugänglichen Wahlen. Die Antwort ist nicht einfach.

Marielle hatte sich der Aufgabe angenommen, innerhalb der Legislative die Stimme der zahlreichen Opfer und der Angehörigen, die Aufklärung und Gerechtigkeit fordern, hörbar zu machen, die Verbandelung der Polizei mit den Milizen und die permissiven Beziehungen zwischen Parlamentariern und kriminellen Gruppen anzuprangern.

Nach Aussagen von Freunden und Verwandten hatte Marielle keine Drohungen erhalten. Aber gerade ein gutes Jahr im Amt, wurde sie in einer schnellen, professionellen, kriminellen Aktion ausgeschaltet. Das war nicht das Werk von Amateuren. Ihr wurde nachgestellt, die Munition stammte aus Beständen, die der Bundespolizei entwendet worden waren, und sie wurde brutal hingerichtet.

Marielle hat uns erinnert, dass wir stark sind

Marielle war mit ihrem Körper und ihrer Lebensgeschichte eine Bedrohung für das Establishment. Schwarzen Jungen und Mädchen war sie ein Beispiel dafür, dass es möglich ist, gegen das vorbestimmte Schicksal zu rebellieren und neue, andere Wege zu beschreiten. Gleichzeitig hat sie denjenigen, die Menschenrecht und Demokratie verteidigen, gezeigt, dass es möglich ist, eine andere Politik zu machen. Deswegen sind nach der Tat Tausende schockiert auf die Strassen gegangen. Auch wenn es immer riskant ist, mafiöse Strukturen anzuprangern, waren viele der Meinung, Marielles Situation sei sicherer, seit sie zur Stadträtin gewählt worden war. Bei der Tat handelt es sich um ein politisches Verbrechen, denn es hat die Demokratie getroffen, es hatte zum Ziel, die Stimme der 46.000 Menschen zum Schweigen zu bringen, deren Repräsentantin Marielle war.

Brasilien ist nach wie vor ein Land, in dem Straflosigkeit mit der Gleichgültigkeit eines grossen Teils der Gesellschaft gegenüber denen einhergeht, die die Rechte der Ärmsten verteidigen. Aber es gibt auch eine Geschichte von Widerstand, der immer wieder von unten entsteht.

Marielle hat Macht und Kraft repräsentiert. Wir verlieren eine Führungskraft und eine Freundin. Marielle hat die Orte, an denen sie auftrat, erhellt und uns daran erinnert, dass wir stark sind.

Marilene de Paula
boell.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-SA 2.0) Lizenz.