Kampf gegen den IS „Rojava ist ein kosmopolitischer Ort“

Politik

Über den Kampf der Linken aus der Türkei in Kobane, über den Charakter der kurdischen Revolution und warum eine Revolution ohne Waffen zum Scheitern verurteilt ist.

Kämpfer der MLKP in Rojava.
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Kämpfer der MLKP in Rojava. Foto: lcm

1. März 2015
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Seydo Azad ist 35 Jahre alt. Er ist Kommandeur einer Einheit mit schweren Maschinengewehren und sagt, dass er sowohl Raketenwerfer und Panzerabwehrwaffen wie auch die Panzerabwehrwaffe “Milan” bedienen kann. Seydo ist Kommunist und kein Kurde. Er ist Mitglied der Marksist Leninist Komünist Parti (türkisch für Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei, MLKP) und kommt aus der Türkei. Die Organisation gehörte zu jenen revolutionären Linken in der Türkei, die sich sehr schnell und mit grosser Bereitschaft für das kurdische Rojava in Syrien entschieden haben. Sie kämpften mit der kurdischen Bewegung zusammen und einige von ihnen starben auch dabei.

In Kobane waren von Anfang an Mitglieder der MLKP. Sie erlebten mit, wie der IS die Stadt umzingelte und sie waren dabei, als sich Kobane befreien konnte. Manche ihrer Fotos liefen auf Twitter um die Welt, mal sah man ihre Fahne oder las, dass einer von ihnen ums Leben kam, aber vielmehr war von ihnen nicht bekannt – zumindest nicht in der europäischen Öffentlichkeit. Dabei ist es gar nicht so schwer, sie zu finden – wenn man es denn geschafft hat, nach Kobane hineinzukommen.

Die Gruppe der revolutionären Linken aus der Türkei bewohnt ein Haus mit einem Innenhof in einem der wenigen Stadtteile von Kobane, der noch nicht völlig zerstört wurde. Hier sind nicht nur Kämpfer_innen der MLKP, sondern auch von anderen Gruppen wie TIKB oder TKP/ML-TIKKO untergebracht. Es sind junge Männer und Frauen, die alle Strassenkampferfahrung aus den Vorstädten von Istanbul oder Ankara haben, manche waren Journalisten bei linken Zeitschriften, andere gingen noch zur Universität. Sie alle kamen nach Kobane, um an dem teilzuhaben, was tatsächlich selten geschieht in unseren Zeiten: Dass eine Revolution nicht nur möglich ist, sondern dass es sogar eine linke und internationalistische sein kann.

Wir sitzen in einem Innenhof und trinken Tee. Es ist der fünfte Tag, nachdem Kobane am 27.1.2015 für befreit erklärt wurde. Die Stimmung ist gelöst, es wird gelacht und Transparente werden gemalt, die dann fotografiert um die Welt gehen sollen. Fotos dürfen nur in klarer Absprache gemacht werden. Alle, die hier sind, riskieren mindestens 10 Jahre Gefängnis in der Türkei, wenn sie erkannt und nach ihrer Rückkehr verhaftet werden. In Kobane dagegen sind sie frei. Sie gehen durch die Strassen wie die kurdischen Kämpfer_innen der YPG/YPJ, sie empfangen Besuch von Genoss_innen aus der Türkei und geben linken Medien, wie etwa einem Fernsehsender der Kurdischen Kommunistischen Partei im Irak, ein vermummtes Interview.

Warum bist du in Kobane?

In bin seit vier Monaten in Kobane, vorher war ich im Kanton Cizire. Seit drei Jahren nehme ich an der Revolution in Rojava teil. Ich bin nach Kobane gekommen, um mich dem Widerstand in der Stadt gegen die IS-Banden anzuschliessen. In Kobane sollte ein Volk exemplarisch vernichtet werden und es gab einen Widerstand gegen diese Vernichtung. Ich kam hierher, um mich diesem Widerstand anzuschliessen.

Was denkt ein revolutionärer Linker aus der Türkei, wenn er hier im kurdischen Kobane kämpft?

Was sollen wir denken? Die Dinge sind nicht so kompliziert, wie es immer scheint. Unsere Haltung ist klar: Diese Revolution hier ist auch unsere Revolution. So sehen wir das. Wir sind Kommunisten und deshalb müssen wir dort sein, wo die Revolution ist, wo die Freiheit ist und wo eine Befreiung des Volkes stattfindet. Und in Rojava findet eine Revolution statt. Es ist ein Aufstand des Volkes im besten Sinne. Als MLKP, als Marxisten und Kommunisten, konnten wir demgegenüber nicht gleichgültig bleiben. Deshalb beteiligten wir uns an der Verteidigung von Kobane.

Was hast du in der Türkei gemacht, bevor du hierhin gekommen bist?

Natürlich habe ich bereits in der Türkei Politik gemacht. Ich war im antifaschistischen Kampf in den Reihen der MLKP. Dann ging ich nach Rojava. In unserer unmittelbaren Nähe wurde ein Volk massakriert, man sprach ihm die Anerkennung ab und verfolgte seine Sprache. Mich berührte das sehr, und ich entschied mich dem Kampf um Rojava anschliessen.

Was ist das Besondere dieses Ortes? Was unterscheidet Rojava von der Türkei?

Die Besonderheit dieses Ortes liegt in der Tatsache, dass hier eine wirkliche Revolution stattfindet. Diese Revolution mag vielleicht durch den Aufstand der Kurd_innen ausgelöst worden sein, aber wir kämpfen hier nicht nur um die Freiheit des kurdischen Volkes. Wir kämpfen hier tatsächlich um mehr, manche sagen sogar, dass wir es im Namen der Menschheit tun. Und auch wenn das sehr gross klingt, ist da wirklich etwas dran. Rojava ist ein kosmopolitischer Ort; hier leben Christ_innen, Araber_innen, Turkmen_innen und Kurd_innen. Und dass alle diese Völker unter einem Dach frei leben können, dass Religions- und Sprachunterschiede kein Problem darstellen und alle gemeinsam eine neue Gesellschaftsordnung zu schaffen versuchen, all das macht das Besondere in Rojava aus.

Wie sieht die MLKP, eine antiimperialistische Organisation, die US-amerikanischen Bombardements?

Als erstes können wir sagen: Auch wenn die USA heute den IS unter Feuer nehmen, so gehören sie doch zu den Kräften, die ihn im Nahen Osten erst ermöglicht haben. Sie haben den IS gross werden lassen, solange er nur dem irakischen oder syrischen Staat geschadet hat. Aber ab einem gewissen Punkt begann die IS-Bande auch für die US-amerikanischen Interessen schädlich zu werden. Aus diesem Grund begannen die USA ihn anzugreifen. Aber auch das ist nicht umsonst. Die USA, oder ein anderes imperialistisches Land, würden keinen Ort bombardieren, keiner anderen politischen Kraft helfen, wenn sie nicht selbst klare Interessen hätten. Rojava stellt das Erdölfördergebiet Syriens dar und im Kanton Cizire sind die wichtigsten Quellen. Die USA werden ein Mitspracherecht in der Produktion und Bewirtschaftung haben wollen. Diese Forderungen existieren noch nicht, aber sie werden sich in der Zukunft hier zu Wort melden, wenn es darum geht, das Erdöl zu fördern und zu vermarkten. Kein imperialistisches Land geht irgendwo hin, ohne da Interessen zu haben. Das würde seinem Wesen widersprechen.

Was denkt ihr über das Assad-Regime? Manche revolutionäre Linke in der Türkei unterstützen ja ganz offen die syrische Armee.

Sowohl das Saddam-Regime als auch das Assad-Regime sind oder waren Diktaturen. Manche Kreise in der Türkei mögen Kontakte zu Assad haben, aber sich nur den USA entgegenzustellen, bedeutet noch nicht, dass man ein Antiimperialist ist. Dieser antiwestliche Gestus dient allein dem Überlebensinteresse des Regimes. Assad stellt sich vielleicht dem US-Imperialismus und den europäischen imperialistischen Staaten entgegen, aber gleichzeitig unterhält er beste Beziehungen zu russischen und chinesischen Imperialismen und steht am Ende unter deren Kontrolle. In unseren Augen ist Assad nur eine Marionette. Er ist ein Diktator, wie Saddam auch einer war.

Auch in Europa verfolgen viele Linke das politische Experiment in Rojava. Was können sie tun?

Die revolutionären Linken in Europa rufen wir dazu auf, hierher zu kommen und gemeinsam ein neues Rojava aufzubauen. Wir hatten bereits dazu aufgerufen, gemeinsam internationale Brigaden zu gründen. Im Kanton Cizire haben wir damit sogar schon begonnen. Es sind kommunistische, sozialistische, revolutionäre Genossen aus Italien, Spanien und sogar aus Deutschland gekommen. Das sollte etwas Beständiges werden. So wie im revolutionären Spanien internationale Brigaden gegen den Franco-Faschismus gegründet wurden, können wir heute in Rojava internationale Brigaden für die Zukunft einer Gesellschaft gründen. Wir können uns direkt am Aufbau und an der Verteidigung dieser Perspektive beteiligen.

Vor fast fünfzig Jahren gingen europäische Militante in den Nahen Osten und unterstützten palästinensische Revolutionäre. In was für einem Zusammenhang steht das mit eurem Kampf hier? Wie sollte die europäische Linke von heute Rojava betrachten?

In der Geschichte gibt es Beispiele wie Che Guevara, es gibt Spanien und es gibt die palästinensische Erfahrung. Wenn wir Palästina betrachten, dann sehen wir, dass Gruppen aus Deutschland, etwa die RAF, aber auch andere, auch viele Organisationen aus der Türkei und anderen Ländern, kamen, um dort zu kämpfen und Palästina in einen Widerstandsherd gegen die israelische Unterdrückung zu verwandeln. Es ist letztlich die eigentliche Aufgabe eines jeden Revolutionärs. Überall dort, wo ein Volk unterdrückt wird, müssen wir handeln oder um die Möglichkeit der Solidarität kämpfen. Heute im Nahen Osten trifft das auf Rojava zu. Und wir sind hier. Der Geist der internationalen Solidarität, dessen Spuren wir in der Geschichte der revolutionären Bewegungen 1945 und in den 1960er und 1970er Jahren finden, wird hier wieder lebendig. Gleichzeitig erhalten wir so die Chance, uns gegenseitig besser kennen zu lernen. Weil wir aus unterschiedlichen Traditionen und Organisationen kommen, haben wir verschiedene Erfahrungen, die wir miteinander teilen können: die Erfahrungen revolutionärer Linker aus Deutschland, die der MLKP, die einer spanischen Bewegung, die Erfahrungen, die uns eine Organisation aus Lateinamerika weitergeben könnte. Wenn das alles zusammen kommt, können wir gemeinsam eine neue und stärkere Dynamik freisetzen.

In Kobane wurde ein Sieg errungen, aber ist die Zukunft von Rojava gesichert?

Ja, in Kobane haben wir gewonnen, aber die Bedrohung ist noch längst nicht besiegt. Der IS setzt seine Angriffe weiter fort. Kobane ist belagert und der IS bekommt seinen Nachschub noch immer aus Tall Abyad und Raqqa. Diese Belagerung muss jetzt durchbrochen werden. Andererseits muss der Shingal endgültig befreit und die ständige Bedrohung des Kantons Cizire beseitigt werden. Unser erstes Ziel ist die Verteidigung zu verstärken. Die Zukunft der Revolution hängt ansonsten vom Wiederaufbauprozess ab, denn Rojava hat den tatsächlichen Anspruch, im Nahen Osten ein neues gesellschaftliches Miteinander zu schaffen. Darum geht es und wir als Revolutionäre wollen zu diesem Aufbau möglichst viel beitragen. Wir sind wirklich bereit alles zu tun, bis zu unserem letzten Atemzug. Viele von uns sind mit diesen Gefühlen und Gedanken hier aktiv. Ich denke also, dass Rojava eine blendende Zukunft erwartet.

Du bist jetzt schon länger hier. Welche Wirkung habt ihr auf das hiesige Geschehen? Hatten die Revolutionär_innen aus der Türkei und die Internationalist_innen einen Einfluss auf den Sieg über den IS?

Nein, ohne uns wäre der Sieg nicht später gekommen. Das darf niemand denken. Aber man darf sagen, dass unser Hiersein die kurdischen Kämpfer_innen wirklich motiviert hat. Hier mit den YPG-Kämpfern und YPJ-Kämpferinnen Schulter an Schulter an vorderster Front zu kämpfen, ist eine Ehre – sowohl für uns wie auch für sie. Unser Lebensstil sowie unsere Weltanschauung und Haltung haben natürlich auch einen gewissen Einfluss, das leugnen wir nicht. Dass wir den Kämpfer_innen Mut machen konnten und ihre Moral stärkten, weil wir als Revolutionäre aus der Türkei und als MLKP zu ihnen kamen und ihnen beistehen wollten, dass konnten wir sowohl spüren als auch sehen.

Kämpft ihr in einer speziellen Einheit der YPG?

Ich bin Teamkommandeur einer Brigade mit schwerer Bewaffnung. Unsere Genoss_innen kämpfen in verschiedenen Einheiten, egal ob es sich um spezielle Aufgaben, schwere Waffen wie Raketenwerfer oder Sabotageeinheiten handelt. In jedem Bereich haben wir Genoss_innen, die sich auskennen, die die entsprechenden Waffen benutzen können und damit auch eine tatsächliche Fähigkeit zu militärischen Operationen besitzen. Wir können daher wirklich in jeder Phase des Krieges kämpfen. Die im Aufbau befindliche internationale Brigade im Kanton Cizire steht auch an der Front und nimmt an den Kämpfen teil.

Habt ihr logistische Unterstützung von aussen?

Nein, wir versuchen trotz technischer Probleme unsere Angelegenheiten selbst zu lösen. Zum Beispiel reparieren wir die defekten Waffen ausschliesslich auf eigene Faust. Wir bauen auch gepanzerte Fahrzeuge, indem wir um unsere Geländewagen eine Panzerung aus Eisen schweissen, um Verwundete vom Schlachtfeld holen zu können. Im Kanton Cizre haben wir gepanzerte Wagen mit Doschkas darauf produziert. Wir kümmern uns selbst um unseren Nachschub an Waffen oder Werkzeugen. Der Fortschritt in Rojava kommt also aus den eigenen Kräften und nicht von aussen durch die Unterstützung irgendeines Landes. Hier werden wir auch richtig kreativ und können aus einem Eisenhaufen wirklich etwas neues schaffen. Wir bauen unsere Mörser selbst und haben eine Munitionswerkstatt. Daran sieht man aber auch, dass wir mit sehr begrenzten Mitteln diesen Krieg führen müssen. Auf der anderen Seite steht der IS und mit ihm Panzer und Waffen aus vielen Ländern.

Hier in Kobane kämpfen Linke aus der Türkei gemeinsam mit kurdischen Genoss_innen gegen den IS? Ändert das eure Beziehung auch in der Türkei? Der aktuelle Dialogprozess zwischen der kurdischen Bewegung und der AKP wird ja von vielen Linken sehr kritisch gesehen?

Die Beurteilung dieser Politik mag zu gewissen Problemen geführt haben, aber das hat nie unsere Beziehung zum kurdischen Volk in Frage gestellt. Vielmehr wurde auch hier in Rojava die seit Jahren existierende Beziehungslosigkeit zwischen der türkischen revolutionären und der kurdischen Befreiungsbewegung überwunden. Wir wachsen wirklich zusammen und das Band zwischen uns wird immer stärker. Je besser uns die Leute hier kennenlernen, desto mehr sympathisieren sie auch mit uns. Unsere Standhaftigkeit in Kobane, aber auch woanders in Rojava wird einfach respektiert. Das gilt vor allem für unsere Märtyrer, die hier gefallen sind. Serkan Tosun war der erste MLKP-Kämpfer, der in Serekaniye sein Leben lies. Dann kamen auf dem Hügel Mistenur in Kobane unser Genosse Paramaz Kızılbaş und unsere Genossen und Genossinnen Saniye, Kader Ortakaya, Algan und Erkan hinzu. Durch ihr Märtyrertum wurden wir in einem anderen Lichte gesehen.

Die Sympathie mit uns vergrösserte sich, weil wir es tatsächlich auch ernst meinen. Vor allem, dass unser Genosse Algan halb Araber und halb Kurde war, führte dazu, dass sich hier für viele nochmal eine ganz andere Perspektive öffnete. Dass die Genossin Saniye als Journalistin hierher kam, dann aber den Kampf aufnahm und dabei ums Leben kam, ist einer der Beweise dafür, dass wir grossen Wert auf die Revolution in Rojava legen. Denn Saniye hätte auch eine andere Zukunft haben können. Aber sie zog den Kampf hier vor und nahm als Journalistin und MLKP-Mitglied die Waffe in die Hand. Ohne sich entmutigen zu lassen, kämpfte sie wirklich an vorderster Front. In einem Interview sagte sie: „Wir werden Kobane nicht aufgeben, wenn nötig, werden wir alle hier zu Märtyrern“. Und sie tat, was sie sagte. Wir gaben Kobane nicht auf, aber unsere Genossin ist gefallen.

Unsere Anwesenheit hier hat keinen Einfluss auf die Beziehung der kurdischen Befreiungsbewegung zur AKP-Regierung. Egal ob wir hier sind oder nicht, gibt es sowieso ständig Scherereien mit der Türkei. Am 29. November kam der IS mit einem Panzerwagen von der türkischen Seite und sprengte sich in die Luft. Wir wissen mittlerweile, dass die Türkei dem IS das Fahrzeug verkauft hat. Die AKP-Regierung unterstützt den IS also, wie sie will, und in diesem Szenario spielen wir keine grössere Rolle. Die Blockade von Kobane gehört ja auch dazu. Denn am allermeisten stört sie natürlich, dass hier Kurdistan seine Freiheit erlangt. Und jetzt setzen sie darauf, dass die Erkämpfung der Freiheit in Rojava zu Zugeständnissen in Türkisch-Kurdistan führen könnte. Denn eigentlich würden sie dieses Kurdistan in Syrien am liebsten ersticken. Zuerst versuchten sie dafür die Freie Syrische Armee zu benutzen, dann bedienten sie sich bei dem Al-Qaida-Ableger Al Nusra, aber nach deren Niederlage haben sie nur noch auf den IS gesetzt. Aber ihre Versuche wurden zum Fiasko und hatten nur zur Folge, dass die türkische Politik immer aggressiver wurde. Daher: Unsere Existenz in Rojava macht dem türkischen Staat in dieser Hinsicht nichts aus.

Dennoch sind nur wenige Linke aus Europa in Kobane. Warum kommen sie nicht?

Doch, manche Organisationen aus Europa sind schon hier und uns wurde gesagt, dass noch welche kommen wollen. Aber es gibt offenbar auch ideologische Probleme. In dem internationalen Zusammenschluss ICOR, in dem auch die MLKP ist und in der nahezu 40 Organisationen zusammenkommen, wird in der Zentrale in Europa offenbar darüber gestritten, ob das, was in Rojava stattfindet, eine Revolution ist oder nicht. In vielen dieser Organisationen scheint die Meinung vorzuherrschen, dass hier gar keine Revolution stattfindet, zumindest keine im klassisch marxistisch-leninistischen Sinne. Mag sein, dass sie aus diesem Grund eher eine Zurückhaltung pflegen. Aber würden sie mal hierherkommen, dann würden sehr viele ihre Meinung ändern. Niemand kann doch ernsthaft erwarten, dass eine Revolution im Nahen Osten genauso aussehen könnte wie in Europa. Denn jede Region, jedes Land hat seine eigenen Bedingungen.

Ausserdem findet hier keine sozialistische Revolution statt, sondern es ist ein nationaler, ein antiimperialistischer, ein antifaschistischer Umsturz. Diese nationale Revolution kann sich natürlich auch verwandeln, etwa in eine sozialistische. Man darf nicht vergessen: Was hier passiert ist der Aufstand eines Volkes. Da einige aber glauben eine Revolution könne überhaupt nur von einer Klasse ausgehen, verweigern sie Rojava diese Charakterisierung. Diese linke Verwirrung liegt hier begründet, wenn manche meinen, dass eine Revolution immer nur eine sozialistische sein könne, sonst wäre sie keine. Aber Rojava ist eine Revolution des Volkes und wer das nicht anerkennt war einfach noch nicht hier. Wer es hier sieht, versteht es sofort.

Was denkst du über die europäische Linke und die allgemeine Situation in Europa?

Keine Ahnung. Ich bin seit drei Jahren hier im Kampf und fern von allgemeiner Politik.

In Griechenland wurde mit Syriza eine linke Regierung gewählt. Was denkst du darüber?

Beantworte die Frage lieber selber, ich habe kaum etwas darüber gelesen. Ich glaube aber, dass dem Wahlsieg Syrizas einen wichtiger Platz zukommt, denn zumindest in der Türkei fand er ein grosses Echo. Er spendete Hoffnung, zumindest in linken, demokratie- und freiheitsliebenden Kreisen der türkischen Gesellschaft.

In Europa gibt es in den letzten Jahren auch eine Geschichte der Aufstände und massenhaften Proteste gegen eine menschenfeindliche Wirtschaftspolitik. Die Unzufriedenheit wächst. Meinst du mit deiner Erfahrung, dass auch militante Aufstände, vielleicht sogar bewaffnete, möglich wären?

Was soll ich dir sagen? Im Prinzip ist das natürlich immer möglich und ich würde keine Option ausschliessen wollen. Wenn die Massen unzufrieden sind und die soziale Klasse beginnt, sich dem Imperialismus zu verweigern, dann wird man die Situation nur gewaltsam ändern können. Auch wenn die Perspektive noch vage ist, so können wir doch sagen, dass der Imperialismus in eine Krise geraten ist und der Gedanke der Selbstbestimmung zunimmt.

Daher rufen wir natürlich auch die Leute in Europa dazu auf, ihren Widerstand zu vertiefen, um ihn vielleicht auch mal mit einer Revolution krönen zu können. Denn, wenn Rebellionen grösser werden und ein gewisser Punkt erreicht wird, muss man über die Machtübernahme und damit über die Revolution selbst nachdenken. In diesem Sinne gilt es zu fragen: Legal oder illegal? Mit oder ohne Waffen? Denn in der Geschichte haben wir gesehen, dass unbewaffnete Revolutionen von der anderen Seite zerschlagen werden. Chile stellt dafür eines der besten Beispiele dar. In Chile kam man mit einem Wahlsieg an die Macht, und man verlor sie kämpfend. Aus diesem Grund muss man jede Revolution schützen und sich vorbereiten. Eine unbewaffnete Revolution ist zum Scheitern verurteilt. Ohne Waffen wäre auch Rojava verloren gewesen.

Ernest Everhard / lcm