Imperialistische Gegensätze und mediale Scharfmacherei Gerangel um die Ukraine

Politik

Das erste, was ins Auge springt, ist die – mit wenigen löblichen Ausnahmen – sehr uniforme Hetze der Medienwelt, die sich auf Russland als Aggressor einschiesst und damit so tut, als wäre dieses Land das einzige Problem für das friedliche Zusammenleben der Völker.

Kriegsspuren im Donbass.
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Kriegsspuren im Donbass. Foto: Reporteros Tercerainformacion (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

12. März 2014
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I. Die Meinungsmacher und die Opposition

Dafür werden dann sogar Schöngeister aufgeboten: „In tausend Jahren hat Russland nie jemanden befreit, sondern immer nur erobert.“ (Frederick Forsyth in „El País“, 6.3.)

Wer sich hier an die Zeiten des Kalten Krieges erinnert fühlt, täuscht sich. Damals war die Medienhetze gegen die Sowjetunion dem Systemgegensatz geschuldet – eine einige freie Welt, in der Kapital und Marktwirtschaft blühten, stand einer anderen gegenüber, die Eigentum und Profitmacherei geringschätzte und keinen freien Lauf liess. Heute jedoch handelt es sich um einfachen Nationalismus, der sich das imperialistische Anliegen des eigenen Staates bzw. Staatenbundes auf die Fahnen schreibt und unter Anrufung aller möglicher aus dem Ärmel geschüttelter Werte gegen eine andere imperiale Macht zu Felde zieht. Es ist die ganz einfache primitive Kriegshetze, die das, was dem eigenen Staat zugestanden wird, beim feindlichen als „Provokation“ verteufelt, die Aggression des eigenen Staates als blosse „Reaktion“ verharmlost und bei allen Akten des Angriffs und der Einmischung der eigenen Seite nur von „Verteidigung“ spricht, während die andere, feindliche Seite ständig Verträge und Völkerrecht „bricht“.

In dieser Hetzpropaganda sind die Medien der Politik in den meisten Fällen einige Schritte voraus. Wenn Politiker „Interessen“ geltend machen, „Warnungen“ aussprechen und ihre geopolitischen Positionen abklären, sind die Medien schon da, um ihnen „Schwäche“, „Unentschlossenheit“, ja sogar Feigheit vor dem Feind vorzuwerfen. Die freie Presse lechzt nach Krieg und Blutvergiessen, sie kann es gar nicht erwarten, Kriegsberichterstatter zu entsenden, um den Nationalismus und das Sendungsbewusstsein der eigenen Bevölkerung aufzupeitschen und den Feind das Fürchten zu lehren. Wenn es nach den Zeitungsfritzen der grossen bürgerlichen Zeitungen Europas und vor allem Deutschlands ginge, so wäre der Dritte Weltkrieg auszurufen und das Armageddon um die Weltherrschaft auszufechten.

Nicht fehlen darf in diesem Konzert der Scharfmacher die Opposition. Die deutschen Grünen erinnern sich wehmütig daran zurück, wie schön es war, Serbien zu bombardieren und sich als Humanisten, die die Welt vor einem neuen Hitler schützen muss, aufzuspielen. Eifrig wird in der Menschenrechtskiste gewühlt und nach Einmischungstiteln gesucht, um die eigene Regierung an ihre vermeintlichen „Aufgaben“ zu erinnern.

Ebenso bringt sich „die Linke“ in Position. Ihre Propagandapostille, die TAZ fordert Sanktionen und beklagt die „Gespaltenheit“ der EU und die Zögerlichkeit der eigenen Regierung, die ein geschlossenes und entschlossenes Auftreten verhindern. Die Linke möchte sich selber einmischen und bietet ihre „Vermittlerdienste“ an – so sieht alternative deutsche Aussenpolitik im Schatten von EU und NATO aus.

Die Sozialdemokraten lancieren über alternative Medien und Sympathisanten eine Kampagne, bei der die USA als Buhmann, und die EU-Politiker, die bei den Ereignissen der letzten Monate aktiv waren, als deren verlängerter Arm hingestellt werden sollen. Sie fordern „De-Eskalation“, um sich dann als die wahren Ordner darzustellen, und werfen ausgerechnet den Scharfmachern der EU mangelnde Souveränität vor. Damit wollen sie sich als Ordnungsstifter ins Spiel bringen, um die Lage vor Ort zu „entschärfen“ – wie, das wissen sie wahrscheinlich selber nicht.

In dieser ganzen Anti-Russland-Front geht der Umstand unter, dass die westlichen Hegemonialmächte sich in der Frage der Handhabung der Lage überhaupt nicht einig sind.

II. EU und USA – Der Gegensatz imperialistischer Mächte

EU und USA befinden sich seit der Wende 1989/90 in einem Wettstreit darüber, welcher Einflusssphäre die vom Joch des Kommunismus befreiten Gebiete Osteuropas einzuverleiben sind. Während die USA über „Partnership for Peace“ und die NATO ihren Fuss in die Tür gesetzt haben, arbeitet die EU mit wirtschaftlicher Integration, Beitritt und dem gar nicht harmlosen „Handel und Wandel“, um sich mit Ost- und Südosteuropa ihren Hinterhof zu schaffen und auszubauen und damit an Gewicht gegenüber den USA zu gewinnen.

An der Ukraine sind beide Ambitionen bisher gescheitert. Während 2004 noch in schöner Eintracht, mit Hilfe von Soros-Stiftung, Beresowskis Geld, Otpor und polnischer Aussenpolitik – Polen war damals, unter der Regierung Kwaschniewski die Speerspitze der pro-orangen EU-Diplomatie – die westorientierten Politiker der „Orangen Revolution“ in den Sattel gehievt wurden, so ziehen die beiden feindlichen Brüder heute keineswegs an einem Strang. In dem EU-Assoziations-Abkommen, der Kampagne für die Freilassung Timoschenkos, dem Aufbau der UDAR-Partei Klitschkos durch die Adenauer-Stiftung und der Unterstützung der Krawallmacher in Kiew erkannten die USA unschwer den vorbehaltslosen Willen der EU, sich die Ukraine unter den Nagel zu reissen. Die Bemerkung Nulands „Fuck the EU“ ist genau aus dieser Unzufriedenheit geboren, dass die EU hier gegen die USA nach Osten expandieren und sich einen geopolitischen Vorsprung verschaffen will, – koste es, was es wolle. In der Ukraine-Politik der EU erkennen die USA den unbedingten Willen, sich gegen die Weltmacht Nr. 1 zu stärken und ihr die Stirn zu bieten.

1. Die EU

Jetzt, nachdem es gelungen ist, eine ohnehin mehr als wacklige ukrainische Führung zu stürzen und eine noch viel wackligere ins Amt zu befördern, ist die EU nach anfänglichem Triumphgeschrei und freudestrahlenden Verlautbarungen ein wenig verlegen geworden. Die Politiker erkennen ein Stück weit, was für ein Spiel mit dem Feuer die Destabilisierung der Ukraine und die daraus folgende Konfrontation mit Russland war. Dementsprechend herrscht grosse Ratlosigkeit, wie die EU weiter vorgehen soll. Darüber können irgendwelche Versprechungen für Finanzhilfen an die Ukraine und Drohgebärden gegenüber Russland nicht hinwegtäuschen, im Gegenteil – sie machen diese Verlegenheit erst so richtig sichtbar.

2. Die USA

Bei der Regierung Obama herrscht eine gewisse Häme über die Scherereien, die sich die EU mit ihrer Hau-Drauf!-Politik eingewirtschaftet hat. Sich einfach zurücklehnen und schauen, was weiter geschieht, will die US-Regierung jedoch auch nicht. Schliesslich hat erstens der ganze Zirkus um den Sturz der Regierung einen Gegner auf den Plan gerufen, zu dem die USA einen ganz anderen Gegensatz haben als zur EU. Ähnlich wie schon in Mittelasien und vor allem in Georgien hat Russland eindeutig klargestellt, dass es die Ukraine als ihren Einflussbereich betrachtet und auch bereit ist, Teile davon heim ins Reich zu holen, wenn es denn gar nicht anders geht. Dem einfach zuzusehen, käme einer Abdankung als Weltmacht gleich. Also müssen die USA Stellung beziehen und Russland gegenüber klarstellen, dass sie auf die Ukraine Anspruch erheben.

Auch hier muss sich die Regierung von der republikanischen Opposition vorwerfen lassen, sie trete gegenüber Russland zu lasch auf und würde Amerikas Ansehen als Weltmacht verspielen.

Zweitens will sich Washington gegenüber der EU keine Unentschlossenheit leisten. Die jetzige Pseudo-Regierung der Ukraine wird von den USA ebenso hofiert wie von der EU. Die Hampelmänner Jatseniuk und Turtschinow werden durch heftigen Besuchsverkehr und Händeschütteln mit Anerkennung bedacht, um damit einen Schein von Legitimität zu erzeugen – und zwar einer solchen, die von den USA verliehen wird.

3. Die militärische Seite

Die EU ist militärisch nicht existent ohne die NATO. Das Entsenden von OSZE-„Beobachtern“ ist lächerlich und wird auch von allen Seiten so gesehen. Die NATO-Führung selber überlegt sich begreiflicherweise gut, hier allzu sehr vorzupreschen. Eine militärische Intervention in der Ukraine käme einer Kriegserklärung an Russland gleich und würde den nächsten Weltkrieg entfachen – einen Weltenbrand, den die Menschheit voraussichtlich nicht überleben würde.

Dass sich eine solche Option von den Führern der NATO genau überlegt und im Augenblick nicht ergriffen wird, heisst nicht, dass sie aufgegeben worden ist. Mit der voraussichtlichen Desintegration der Ukraine wird sie stets wieder neu erwogen werden.

Es ist auch nicht so, dass bisher nichts geschehen wäre. Die NATO verlegt Flugzeuge an die Grenzen Russlands und der Ukraine und hält Manöver ab. Die USA schicken Kriegsschiffe ins Schwarze Meer. Der Schutz der US-Botschaft in Kiew wird mit einem Haufen Marines verstärkt. Es ist ein ständiges Ausreizen der Situation, wie weit Russland gehen und was es sich gefallen lassen wird.

Die Ukraine selbst verfügt zwar auf dem Papier über ein Militär, das aber de facto nicht existiert. Vor einigen Tagen wurde eine General-Mobilmachung ausgerufen, von der man inzwischen nichts mehr hört. Weder haben sich Reservisten in nennenswerter Menge gestellt, noch ist das Offizierskorps bereit, sich für eine nicht souveräne Regierung und nicht definierte Ziele einzusetzen – noch dazu womöglich gegen die inzwischen wieder halbwegs gut ausgerüstete Armee Russlands. Eine Rückeroberung der Krim oder anderer Territorien, die sich womöglich auch abspalten wollen, ist daher für die Ukraine ausgeschlossen – sofern sie nicht von auswärts Unterstützung erhält.

Der Führer des „Rechten Sektors“, Jarosch, hat verkündet, eine Freiwilligen-Miliz aufstellen zu wollen. Es ist durchaus möglich, dass seine und andere Gruppierungen von sympathisierenden Kasernen Zugang zu Waffenlagern erhalten, und sich daraus bewaffnen können. Das lässt ein Bürgerkriegsszenario entstehen, das sehr an das der Auflösung Jugoslawiens erinnert. Ebenso wie in Ex-Jugoslawien ist die Anwerbung von Söldnern möglich, teilweise aus der ukrainischen Emigration, teilweise in der Ukraine selbst, teilweise aus anderen Teilen der Ex-Sowjetunion. Es fragt sich, wer die finanzieren wird. Ukrainische Oligarchen? Westliche Quellen? Die Türkei?

4. Die ökonomische Seite

Was die zu ergreifenden Massnahmen gegen Russland und für die Ukraine betrifft, ist die EU ebenso gespalten wie ratlos. Die mehr als zwei Jahrzehnte seit der Wende hatten eine sehr umfassende Integration Russlands in die Weltwirtschaft zur Folge. Aus verschiedenen Gründen wäre die EU von etwaigen Sanktionen viel stärker betroffen als die USA.

Die eine ist die Abhängigkeit von russischen Energieträgern, die um so mehr ins Gewicht fällt, als die Energiepolitik der EU seit der und durch die Krise in eine Sackgasse geraten ist. Die erneuerbaren Energien wurden zwar mit Hilfe von Subventionen gefördert, sind aber nach wie vor viel teurer als die herkömmlichen Energieträger Öl, Gas, Kohle und Atomenergie. Ein verstärkter Einsatz der Solar-, Erd- und Windenergie würde die Waren der EU verteuern und auf dem Weltmarkt ins Hintertreffen geraten lassen.

Dazu kommen russische Investitionen in die europäische Bauindustrie und in den Finanzmarkt. Russische Touristen beleben den Fremdenverkehr in diversen europäischen Staaten. Eine Konfrontation mit Russland würde die ohnehin krisengeschüttelte europäische Wirtschaft vermutlich kippen und das ganze EU-Projekt der Eroberung des Weltmarktes zu Scheitern verurteilen. Es stellt sich heraus, dass dieses Projekt ohne die Beteiligung Russlands nicht möglich ist.

Ein zweiter Faktor ist die Wirtschaft der Ukraine selbst. Die Ukraine ist völlig von Russland abhängig, das ihm die praktisch nicht bezahlbaren Energielieferungen seit Jahrzehnten zum Teil stundet. Der Haupt-Exportmarkt ukrainischer Produkte ist Russland. Ukrainische Gastarbeiter stellen das grösste Kontingent von ausländischen Arbeitern in Russland. Sie jobben auch in Weissrussland. Darüber hinaus werden viele Familien in der Ukraine von Verwandten in Russland unterstützt, da die ökonomische Situation in Russland zwar nicht gut, aber immer noch besser ist als in der Ukraine. Die Ukraine ist verschuldet – in Russland, beim IWF, aber auch bei westeuropäischen Institutionen und Banken. Würde die Ukraine zahlungsunfähig, so würde das im europäischen Finanzsektor Ausfälle verursachen.

Sollte Russland seine Zahlungen und Lieferungen an die Ukraine einstellen und die EU müsste dafür einspringen, um das Land vor dem Zusammenbruch zu bewahren, so wären Summen fällig, die die läppischen Rettungsaktionen für Griechenland oder Portugal in den Schatten stellen würden – und das für ein Land, das über eine Pseudo-Regierung verfügt, die die eigene Ökonomie im Grunde nicht in der Hand hat.

III. Russland – Aggressor oder legitime Schutzmacht?

Russland ist aufgrund seiner Lage und Grösse dazu verurteilt, Grossmacht zu sein. Die russische imperiale Politik, an die sich die der Sowjetunion anschloss, war stets auf Selbsterhalt ausgerichtet. Um seine Grenzen zu sichern, verschob sie das zaristische Russland immer weiter – Eroberung der Schwarzmeerküste, Eingliederung Mittelasiens, Eroberung des Kaukasus, Einverleibung des Transkaukasus, Verträge mit China um Überlassung von Territorien usw. Als das Imperium für die zentrale Verwaltung zu gross wurde und die Kasse nach dem verlorenen Krimkrieg leer war, verkaufte Russland Alaska.

Die sowjetische Expansion schloss sich dieser Politik an. Angesichts der Feindschaft des Westens schuf die SU neben Angliederung von Grenzgebieten einen Cordon sanitaire durch die Vormacht über Osteuropa und die Schaffung von neutralen Staaten an seinen Grenzen, wie Finnland und der Mongolei. Damit soll nicht gesagt sein, dass die russisch-sowjetische Expansion friedlicher oder harmloser war als die Europas oder die USA. Auch nicht, dass sie für die Bevölkerung der betroffenen Gebiete angenehmer war. Sie diente nur einem anderen Zweck. Russlands imperiale Politik bewegte ein politisch-militärischer Gesichtspunkt, nicht ein ökonomischer. Russland schuf keine Kolonien. Es plünderte nicht andere Länder und Kontinente aus, um die eigene Kapitalakkumulation zu befördern. Vom Standpunkt des weltweit agierenden Kapitals war und ist Russland Peripherie, nicht Zentrum. Bis heute ist es in erster Linie Exporteur von mineralischen und agrarischen Rohstoffen.

Seit der Wende und dem Zerfall der Sowjetunion ist Russland ständig auf dem Rückzug. Es verlor seinen Cordon sanitaire und grosse Teile des Staatsgebiets der ehemaligen SU. Manche Gebietsverluste kompensierte es durch Unterstützung separatistischer Bewegungen in den abhanden gekommenen Reichsteilen: Abchasien, Südossetien, Transnistrien. Bis heute unterstützt Russland Armenien und dessen Annexion von Berg-Karabach. Diese Unterstützung ist sowohl militärischer als auch ökonomischer Natur, sie stellt Abzug von den Einkünften des russischen Staates dar – es sind Subventionen, nicht Investitionen, die sich irgendwie amortisieren würden.

Die Ukraine ist ein eigener Fall. Vom Standpunkt Russlands war es bisher ein besonders grosser Ausgabeposten. Die Öl- und Gaslieferungen wurden nur zum Teil bezahlt, zum Teil kreditiert. Die Produkte der ukrainischen Industrie, sofern die noch in Betrieb ist, gingen auf den russischen Markt. Alle Versuche ukrainischer Regierungen, sich nach Westen zu orientieren, scheiterten an der ökonomischen Abhängigkeit von Russland. Auch die Miete für den Hafen von Sewastopol für die russische Schwarzmeerflotte sind reine unproduktive Kosten für Russland und ein wichtiger Budgetposten für die Ukraine. Russland hat bisher immer gezahlt und geseufzt, um dieses strategisch und politisch wichtige Territorium als Staat aufrechtzuerhalten und in seiner Einflusssphäre zu behalten.

IV. Die Ukraine selbst

1. Der ukrainische Nationalismus

Das zaristische Russland war zentralistisch, sein Staatsgebiet war aufgeteilt in Gubernien. Ungefähr 10 Gubernien machten den damaligen Teil der heutigen Ukraine aus. Die Ukrainer wurden als „Kleinrussen“ und „H-Sprecher“ belächelt und verspottet. Die ukrainische Sprache war gegen Ende der zaristischen Herrschaft jahrzehntelang als Schriftsprache verboten, sie wurde in der Schule nicht unterrichtet und als Amtssprache nicht anerkannt. Bücher auf Ukrainisch durften in Russland nicht gedruckt werden.

Der ukrainische Nationalismus entstand im österreichischen Galizien. Gegen den polnischen Adel, der die Wiedervereinigung Polens anstrebte, wurden die Ukrainer von der österreichischen Regierung als Gegengewicht aufgebaut. Hier durften ukrainische Bücher und Schriften gedruckt und das Ukrainisch als Schul- und Amtssprache verwendet werden. Auch die Rom unterstellte griechisch-katholische Kirche wurde als Kirche der Ukrainer gefördert. Nach dem Sieg der Oktoberrevolution bildete sich eine aus dem Ausland geleitete ukrainische Nationalbewegung, die „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ (OUN), die sich nach dem Einmarsch der Wehrmacht mit dieser verbündete. Die Aktionen der von ihr gebildeten Einheiten waren anti-sowjetisch, anti-polnisch und antisemitisch. Sie waren an zahlreichen Pogromen und Vernichtungsaktionen an Juden und Polen beteiligt. Nach 1945 führten sie einen jahrelangen Partisanenkrieg gegen die Sowjetmacht. Die Führer dieser ukrainisch-faschistischen Einheiten im II. Weltkrieg, Stepan Bandera und Roman Schuchewitsch, stammten aus Galizien.

2. Die Ukraine als territoriale Einheit ist eine Schöpfung der Sowjetmacht.

Der russische Bürgerkrieg wurde grösstenteils auf dem Territorium der heutigen Ukraine ausgefochten und entschieden. Nachdem die junge Sowjetmacht im Frieden von Brest-Litowsk die Ukraine den Achsenmächten überantwortet hatte, plünderten die österreichischen und deutschen Einheiten das Gebiet aus, unter der Schirmherrschaft Skoropadskis, eines zaristischen Offiziers und Grossgrundbesitzers. Danach kam die Herrschaft des Direktoriums, das sich auf die Interessen der ukrainisch-russischen Bourgeoisie stützte und die ausländische Einmischung begrüsste. Die Interventionen Denikins und Wrangels wurden vor allem von den ukrainischen bäuerlichen Anarchisten, den Machnowzys zurückgeschlagen. Später wurden die Machnowzy von der Sowjetmacht liquidiert. Um die ukrainische Bevölkerung für die Sowjetmacht einzunehmen, wurde nach 1921 die Ukrainische Sowjetrepublik eingerichtet.

Dies geschah im Rahmen der allgemeinen sowjetischen Nationalitätenpolitik, wo die Anerkennung von Partikular-Nationalitäten die solchermassen mit Selbstverwaltung Beglückten für die Sowjetmacht einnehmen und an sie binden sollte. Dieser Ukrainischen SR wurde auch die hauptsächlich russischsprachige Schwarzmeerküste zugeteilt. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt erhielt die Ukraine 1940 Teile des annektierten Bessarabiens: den Budschak und die Region um Hotyn. Nach 1945 – wiederum als Versuch, den antisowjetischen ukrainischen Nationalismus durch Geschenke zu besänftigen – wurden der Ukrainischen SR die vormals polnischen Teile Galiziens (Lemberg, Rowno, Ternopil usw.), die vormals tschechoslowakische Karpatoukraine (Uzhgorod, Mukatschewo, Chust usw.) und die vormals rumänische Bukowina (Tschernowitz und Umgebung) zugeschlagen.

Schliesslich überreichte der aus dem – inzwischen ukrainischen – Donbass stammende Chruschtschow der Ukrainischen SR 1954 feierlich die Krim. Gegen Ende der 80-er Jahre setzte ein Rückzug der Tartaren, die während des II. Weltkrieges deportiert worden waren, auf die Krim ein. Solange diese Ukrainische Republik Teil der Sowjetunion war, wurden alle diese verschiedenen Nationalitäten und Kulturen im Rahmen des proletarischen Internationalismus gewürdigt und als Beitrag zum Grossen Ganzen auch subventioniert und mit eigenen Institutionen ausgestattet. Nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine waren diese Landesteile auf einmal kultureller und kostenintensiver Ballast. Die Minderheiten-Subventionen wurden gekürzt oder ganz gestrichen, so auch gegen Ende der 90-er Jahre die spezielle Unterstützung der Krimtartaren.

3. Versuche der Schaffung einer nationalen Einheit

Die durch die Orange Revolution an die Macht gekommenen Politiker versuchten, eine ideologische Wende zu einem ukrainischen Nationalbewusstsein zu vollziehen. Sie wollten damit Unterstützung für eine EU-orientierte anti-russische Politik gewinnen. Dazu gehörte einerseits eine Glorifizierung der Dnjepr-Kosaken. Timoschenko und Juschtschenko warfen sich in ukrainische Volkstracht, nahmen an Kosaken-Treffen teil und lobten das sehr archaische Kosakentum über den grünen Klee. Der Zopf der streitbaren Dame gehört auch zu diesem Outfit. Ihre Partei nannte sie „Vaterland“. Juschtschenko bemühte sich, den ukrainischen Nationalismus der Zwischenkriegszeit wiederzubeleben. Er ernannte 2007 Schuchewitsch, 2010 Bandera zu Nationalhelden. Diese Ernennungen riefen nicht nur in der Ukraine selbst Empörung hervor, wo Millionen von Menschen dem Holocaust, der Kriegsführung und den Vergeltungsmassnahmen der Wehrmacht zum Opfer gefallen waren, ebenso wie in Russland. Sie führten auch zu Protesten der polnischen Regierung, des Europaparlaments und des Simon Wiesenthal-Zentrums.

Auf dem Mist dieses Schlagens-auf-die-nationale-Pauke ist die Swoboda gross geworden. Sie griff diese Glorifizierung des ukrainischen Unabhängigkeitskampfes auf und wurde zum Sammelbecken der von der Orangen Revolution enttäuschten Patrioten. Arbeitslose Jugendliche und Afghanistan-Veteranen, verarmte Landbevölkerung und für elende Gehälter tätige Intellektuelle nahmen dankbar das Erklärungsschema an, demzufolge der Verfall der Werte, die Abkehr von (einem vor allem griechisch-katholischen) Gott und die Herrschaft von Russen und Juden der Grund für die trostlose Situation in der Ukraine sind.

Inzwischen, wie man mitbekommt, hat die Swoboda Konkurrenz von rechts bekommen, und verschiedene andere Gruppen wetteifern mit ihr im Gestus der Russenfresser. Das sind die Leute, denen die EU und die USA den Rücken gestärkt haben und die – zum Unterschied von den restlichen Figuren in der Regierung und dem Parlament – einen gewissen Rückhalt in der Bevölkerung haben.

Der Nationalismus der Swoboda ist zwar laut und deutlich anti-russisch, aber im Hintergrund durchaus antisemitisch und anti-polnisch. Einem aufmerksamen Beobachter kann nicht entgehen, dass das Verhältnis der polnischen Regierung zur Ukraine sich seit 2004 merklich abgekühlt ist, solange die Führer der Orangen Revolution an der Macht waren, und dass auch heute in Polen weder in der Bevölkerung noch bei der Regierung besondere Freude über die Entwicklung in der Ukraine herrscht.

V. Legal und illegal – Völkerrecht, Menschenrechte, Eigentum

Auch auf dem Gebiet der Rechtskategorien setzt sich die Feindbildpflege fort. „Wir“ sind die Hüter des Rechts, „unsere“ Handlungen sind rechtmässig, der Feind „bricht“ das Recht.

Verschiedene Staaten der EU und die Schweiz frieren die Konten ukrainischer Politiker ein. Angeblich soll es sich um Summen von Hunderten Millionen Euro handeln. Schon in Zypern wurden bei der Aktion im Frühjahr Konten russischer und ukrainischer Staatsbürger (und wer weiss von wem noch) teilweise einkassiert. Der österreichische Aussenminister verkündet ebenso feierlich wie unverbindlich, dieses beschlagnahmte Geld von Janukowitsch und anderen „der Ukraine zurückzugeben“. Man rekapituliere: eine gewählte Regierung wird durch bewaffnete Demonstranten, mit Unterstützung ausländischer Politiker gestürzt. Die legal eröffneten und auf ihren Namen lautenden Konten der Politiker dieser Regierung im Ausland werden beschlagnahmt, als ob es sich um mafiöse Schwarzgelder handelt, und die Regierung eines EU-Landes erklärt, in Zukunft nach Belieben über die solchermassen einkassierten Gelder verfügen zu wollen. Ist noch irgend ein Konto irgendeines (EU- oder Nicht-EU-) Bürgers in der EU noch sicher? Wer definiert eigentlich, welches Eigentum rechtmässig ist, welches hingegen jederzeit beschlagnahmt werden kann?

Russland habe angeblich völkerrechtswidrig die Krim „annektiert“, so tönt es aus allen Rohren. Dazu einiges zur Erinnerung:

Als die Ukraine auf den Besitz von Atomwaffen verzichtete und diese an Russland übergab, unterzeichneten die USA, Grossbritannien und Russland 1994 das Budapester Memorandum, in dem sich die drei Mächte verpflichteten, die Souveränität und die wirtschaftliche und politische Unabhängigkeit der Ukraine zu achten und ihre Grenzen zu respektieren. Abgesehen davon, wie diese Abmachung völkerrechtlich einzuordnen ist – sie wurde im Rahmen der OSZE vereinbart – und was geschieht, wenn die Signatarmächte sich feindselig gegenüberstehen, so ist festzuhalten: die ersten, die diese Abmachung gebrochen haben, waren die USA und Grossbritannien, das es zumindest zugelassen hat, dass die EU die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit der Ukraine missachtet und sich in sehr dreister Form in die Politik der Ukraine eingemischt hat. Es ist also durchaus nachvollziehbar, wenn sich Russland auch nicht mehr an das Budapester Memorandum gebunden fühlt.

Seit der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine ist die Stellung der vormals sowjetischen, dann russischen Schwarzmeerflotte auf der Krim Gegenstand von Verhandlungen. Meistens wurden ad hoc Vereinbarungen getroffen, von einem Jahr zu anderen. Dass sich diese Frage so lange nicht regeln liess, lag daran, dass keine ukrainische Regierung willens war, einen solchen Souveränitätsverzicht vertraglich festzulegen. Ohne Regelung war die Situation allerdings auch unbefriedigend für die Ukraine, da sie in Ermangelung eines Vertrages nicht einmal Vertragspartner war. Als die Regierung Janukowitsch 2010 schliesslich einen Vertrag bis 2042 mit Russland unterzeichnete, kam es in der Rada zu Tumulten. Die Opposition war der Regierung Landesverrat vor. Laut diesem Vertrag von 2010 darf Russland bis zu 25.000 Soldaten auf der Krim stationieren. Es verpflichtet sich, jährlich ca. 100 Millionen US-$ zu zahlen, wobei diese gegen die ukrainische Staatsschuld gegenüber Russland aufgerechnet werden sollen. Gegenüber der westlichen Beschuldigung, die Stationierung russischer Soldaten würde die Souveränität der Ukraine verletzen, erinnern russische Politiker seit Tagen daran, dass das Kontingent der 25.000 Soldaten noch lange nicht erreicht sei, die Russland im Vertrag von 2010 zugestanden worden waren.

Schliesslich hat die Ukraine auch eine Verfassung. Diese Verfassung ist zentralistisch und in vielen Punkten unklar. Bezüglich der territorialen Verwaltung, der Rechtssprechung, der Steuerhoheit usw. steht immer wieder nur drin: „entscheidet der Präsident …“, „ untersteht dem Parlament …“ Wenn jetzt der Präsident gestürzt, die bei den letzten Wahlen stimmenstärkste Partei im Parlament aufgelöst, ihre Politiker zu Gesetzesbrechern erklärt werden – welche Rechtskraft haben solche Bestimmungen dann noch? Die Krim ist als einziges Territorium der Ukraine autonom, hat also eine beschränkte Selbstverwaltung und ein eigenes Parlament. Die Entscheidungen dieses Parlaments müssen laut Verfassung vom gesamtukrainischen Parlament abgesegnet werden. Wenn aber dieses nicht legitim ist …

Wenn das Parlament der Krim ein Referendum über die Staatszugehörigkeit beschliesst, so wird das international und auch in der Ukraine als unrechtmässig betrachtet. Wenn gewalttätige Demonstranten eine Regierung wegputschen, und das Parlament eine neue ernennt, so ist das hingegen legitim. Für den Mai sind Wahlen angesagt, um durch das werte Stimmvieh wieder eine demokratisch legitimierte Regierung zu erhalten. Es ist angesichts der Entwicklungen jedoch zu bezweifeln, dass diese Wahlen erstens überhaupt stattfinden und zweitens das angestrebte Ergebnis liefern werden.

VI. Die nicht parteipolitisch gebundene linke Opposition hüben und drüben

Es scheint so etwas wie eine radikale Linke in der Ukraine zu geben, wenngleich in verschwindend kleiner Menge.

Vor einigen Tagen machte eine Erklärung der „Anarchisten und Kommunisten der Ukraine“ die Runde in sozialen Medien, in dem sich diese von der Organisation „Borotba“ distanzierten. Die Mitglieder dieses Vereins seien keine wahren Freunde der ukrainischen Arbeiterklasse, würden sich aber fälschlicherweise als solche deklarieren.

„Borotba“ ist eine Abspaltung des Jugendverbandes der Kommunistischen Partei. Sie traten aus der Partei aus Protest gegen die Unterstützung der Regierung Janukowitsch durch die KP aus. Nach eigenen Angaben hat Borotba ungefähr 1.000 Mitglieder. Um ihre Opposition zur Regierung zum Ausdruck zu bringen und bei den bewegten Volksmassen zu sein, begaben sie sich auch auf den Maidan. Von dort wurden sie von den faschistischen Organisationen gewaltsam vertrieben.

„Borotba“ heisst „Kampf“. Es mag ja sein, dass es aufgrund der Kräfteverhältnisse vernünftiger ist, sich nicht auf eine Konfrontation mit dem „Rechten Sektor“ und ähnlich gelagerten Gruppierungen einzulassen. Dann wäre es allerdings auch angesagt, sich einen weniger martialischen Namen zuzulegen. Gegen diesen Verein von kämpferischen Seelen, die eigentlich nicht wissen, was sie wollen, hielten es die „Anarchisten und Kommunisten“ – die vermutlich von einer solchen Mannstärke nur träumen können – geraten, einen eigenen Aufruf starten, um sie als Wölfe im Schafspelz zu entlarven, obwohl die Mitglieder von Borotba eigentlich das genaue Gegenteil sind.

Keine der beiden Gruppen denkt daran, die Bevölkerung der Ukraine darüber aufzuklären, was die EU ist, was ein Handelsvertrag ist, was es mit Demokratie, Macht und Legitimität auf sich hat, usw.

Nicht viel besser schaut es bei der sonstigen europäischen Linken aus. Schweigen und Ratlosigkeit breiten sich aus. Die jahrzehntelange intellektuelle Enthaltsamkeit, mit der alle gedankliche Tätigkeit als „nur Theorie!“ abgetan und ihr eine – im Grunde völlig unpraktische – „Praxis“ gegenübergestellt wurde, trägt reiche Früchte. Alle Formen des „Widerstands“, der immer schon eine blosse Selbstbespiegelung war, erweisen sich angesichts der gegebenen Situation als völlig lächerlich.

Niemand hat eine Ahnung von der Ukraine. Warum eigentlich? In Zeiten von Google, Wikipedia und Twitter kann es doch nicht so schwierig sein, sich über dieses Land Informationen zu verschaffen. Die gewohnten Freund-Feind-Schemata funktionieren nicht. Demonstranten gut – Polizei böse! Volk gut – Regierung böse! Welches Volk? stellt sich sofort die Frage – das auf dem Maidan oder das auf der Krim? Welche Regierung? Die EU-Kommission, die deutsche Regierung, die ukrainische, die russische? Welche Parolen soll man schmettern, welche Forderungen erheben? Für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Wahrung der Menschenrechte in der Ukraine, gegen Einmischung? Für den Schutz der „unschuldigen Zivilbevölkerung“, der „ethnischen Minderheiten“ und der „friedlichen Demonstranten“? An wen sollen sich diese ganzen frommen Anliegen richten?

Wo liegen Unterschriftenlisten, die man unterschreiben könnte, und gegen was? Wurden bereits Spendenkonten für frierende und hungernde Ukrainer eingerichtet, oder muss man noch warten, bis es soweit ist? Demonstrieren wäre auch gut, aber wo? Zu was soll man aufrufen, vor welche Botschaft ziehen, welche Parolen gehören skandiert? Kann man vielleicht irgendeinen Hauptplatz in Gramatneusiedl oder Mistelbach symbolisch besetzen, als Unterstützung für den Maidan oder als Protest gegen ihn? Solidaritätserklärungen abzugeben böte sich auch noch an. Mit wem nur? Mit der gestürzten Regierung Janukowitsch? Mit dem spontan gewählten und später inhaftierten Bürgermeister von Donezk? Für die Anliegen der Krimtartaren, ihre freie kulturelle Entfaltung?

Auch die Antideutschen dürften sich hier schwer tun: Während die Swoboda im Laufe der jüngeren Vergangenheit einiges an antisemitischen Ansichten in Wort und Schrift geäussert hat, die Taten von Bandera & Co. glorifiziert werden, so gibt es auch andere Meldungen: Laut einem Artikel von Haaretz vom 28.2. befanden sich auf dem Maidan auch ukrainischstämmige Israelis, Veteranen der israelischen Armee, die dort „gegen die korrupte Regierung“ kämpften …

Amelie Lanier