Politisches Kapital aus Stimmung der Verunsicherung und Angst Ungarn: Trendsetter Orbán?

Politik

28. Mai 2018

Der Begriff „Visegrád“ ist im westeuropäischen Sprachgebrauch zum Synonym für fehlende Solidarität und nationalistische Politik geworden.

Andrzej Duda (3 v. l.), Präsident von Polen und Viktor Orban (rechts) in Budapest, Oktober 2016.
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Andrzej Duda (3 v. l.), Präsident von Polen und Viktor Orban (rechts) in Budapest, Oktober 2016. Foto: Elekes Andor (CC BY-SA 4.0 cropped)

28. Mai 2018
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In Ungarn geht es aber auch um die Zukunft der Demokratie in Westeuropa. Wie kann die EU wieder an Strahlkraft gewinnen?

Vor einigen Jahren war nur wenigen bekannt, welche Länder der Visegrád-Gruppe angehören, mittlerweile ist der Begriff „Visegrád“ im westeuropäischen Sprachgebrauch zum Synonym für fehlende Solidarität, Engstirnigkeit und nationalistische Politik geworden. Im Osten der EU, so der Eindruck, regieren zum Grossteil unsolidarische, egoistische Europaskeptiker, die die Demokratie abbauen und jahrelang nichts Besseres zu tun hatten, als Geld aus EU-Töpfen abzuzapfen, zugleich aber nichts Konstruktives zur Zukunft des europäischen Projekts beitragen und Lasten nicht teilen möchten.

Trotz der alarmierenden Nachrichten, die uns seit längerem aus Ungarn, Polen und Tschechien sowie aktuell aus der Slowakei erreichen, sind wir gut beraten, einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen politischen Realitäten in diesen Ländern zu werfen. Anstatt zufrieden und selbstgerecht zu denken, wir Westeuropäer seien die besseren Demokraten, sollten wir aus den Entwicklungen Lehren ziehen. Denn in diesen 2004 beigetretenen EU-Mitgliedstaaten lassen sich die Beschleunigung und Zuspitzung einiger Trends erkennen, die ein gesamteuropäisches Phänomen und Problem darstellen.

Das bedeutet nicht, dass man der Regierung Viktor Orbáns Verständnis entgegenbringen sollte. Niemand, dem die Zukunft der europäischen Demokratie am Herzen liegt, darf tatenlos dabei zusehen, wenn die Regierung eines Mitgliedstaates das Ziel verfolgt, ihre Macht für die Ewigkeit zu zementieren, demokratische Institutionen auszuhöhlen, die Medien unter ihre Kontrolle zu bringen und die Opposition in und ausserhalb des Parlaments in die Bedeutungslosigkeit zu drängen. Im April 2018 gelang es Orbán, zum dritten Mal in Folge eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit der Mandate zu erzielen. Möglich wurde dies auch durch eine Wahlgesetzänderung, die die ungarische Regierung Ende 2011 verabschiedete. Von über acht Millionen Wahlberechtigten wählten 2018 rund 2,8 Millionen das Wahlbündnis aus Orbáns Partei Fidesz und der Christlich-Demokratischen Volkspartei KDNP – das ist eher eine grosse Minderheit als eine überwältigende Mehrheit.

Propagandamaschinerie der ungarischen Regierung gegen Andersdenkende

Orbán orientiert sich offensichtlich nicht an den Prinzipien einer pluralistischen Demokratie. Seine Regierung lebt von Polarisierungen und Feindbildern, von Stigmatisierungen und Verschwörungstheorien, mit denen sie die Bevölkerung in einen dauerhaften Kampfmodus versetzt. Sie – und nur sie – kann die ungarische Gemeinschaft vor Feinden im Inneren und Äusseren verteidigen und ihr wieder zu Glanz verhelfen – das ist die Erzählung hinter den Gesetzen und äusserst kostspieligen Hetzkampagnen, die für die Regierung überlebenswichtig geworden sind. Sie richten sich gegen Migranten und Geflüchtete, insbesondere Muslime, regierungskritische NGOs, George Soros, die „Brüsseler Eliten“, die Vereinten Nationen und die akademische Freiheit.

Dumpfe Hasstiraden gegen regierungskritische Stimmen gehören mittlerweile zum politischen Alltag. Offensichtlich konnte Orbán seine Wählerschaft damit mobilisieren und sein Ergebnis sogar verbessern. Im Vergleich zu 2014 gewann Fidesz-KDNP ungefähr fünf Prozentpunkte. Die Vorlage und Verabschiedung von Gesetzen sind zu einem wesentlichen Bestandteil der Propagandamaschinerie der Regierung geworden. Mit dem neuesten Gesetzespaket, das „Stop Soros“ heisst und nach dem landesweiten Wahlsieg Orbáns wahrscheinlich bald verabschiedet werden wird, plant die Regierung „Organisationen, die Migration unterstützen“, die Arbeit schwer bis unmöglich zu machen.

Nur wenige Tage nach der Wahl erschien in der regierungsnahen Wochenzeitung Figyelő ein Artikel, in dem namentlich Personen aufgelistet und als „Söldner von Soros“ diffamiert werden. Die Bekanntmachung der Open Society Foundations von dieser Woche, dass ihr Büro in Budapest aufgrund des zunehmend repressiven politischen und rechtlichen Umfelds nach Berlin verlegt werde, kommt nicht überraschend.

Unkoordinierte Mitte-links Parteien

Zur Analyse der Wahlergebnisse gehört aber auch, dass die Mitte-links Parteien ihre Chance, eine Zweidrittelmehrheit der Regierung zu verhindern, nicht genutzt haben. Die Mitte-links Opposition ist seit Jahren fragmentiert, wodurch sie es Orbán erleichtert, seinen Alleinvertretungsanspruch zu propagieren. Über die Zweitstimmen schafften insgesamt fünf Landeslisten den Einzug ins Parlament, wovon drei dem Mitte-links-Lager zuzuordnen sind (Wahlbündnis MSZP-P der Sozialistischen Partei und der Partei „Dialog“, LMP – Politik kann anders sein, Demokratische Koalition DK). Zusammen erhielten diese Mitte-links Parteien ungefähr ein Viertel der abgegebenen Zweitstimmen.

Stärkste Oppositionskraft wurde mit über 19 Prozent der Zweitstimmen die rechtsextreme Partei Jobbik, Fidesz-KDNP erhielt knapp 50 Prozent. Von den 106 Direktmandaten, die über die Erststimmen vergeben werden, erzielte Fidesz-KDNP über 90. Die Mitte-links Opposition konnte fast nur in Budapest punkten. Es ist eine traurige Tatsache, dass die Regierung von den 88 Direktmandaten, die ausserhalb Budapests gewählt wurden, 85 Mandate gewann. Möglich wurde dies vor allem auch dadurch, dass die Mitte-links Parteien nicht in der Lage und bereit waren, ihre Kandidatinnen und Kandidaten frühzeitig so aufzustellen, dass in allen aussichtsreichen Wahlkreisen nur eine Kandidatin oder ein Kandidat dieser Parteien antrat. Dabei wäre nur ein Direktmandat ausreichend gewesen, um die verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit der Regierung von 133 Mandaten aufzuhalten. In Anbetracht des Ernstes der Lage war das unkoordinierte Handeln der Mitte-links Parteien, das auf ein stark ausgeprägtes Konkurrenzdenken und inner- sowie zwischenparteiliche Konflikte zurückzuführen ist, schlicht und ergreifend unverantwortlich.

Rechtsnationale Parteien auch im Westen der EU keine Randerscheinungen

Die Demokratien in Westeuropa sind natürlich widerstandsfähiger als in Mittel- und Osteuropa, was im Hinblick auf die unterschiedlichen historischen Entwicklungen nicht überraschend ist. Die westeuropäischen demokratischen Institutionen sind den osteuropäischen um Jahrzehnte voraus. Demokratische Erziehung ist in Westeuropa ein fester Bestandteil der Schulcurricula. Die Aufarbeitung der totalitären Vergangenheit ist in den postsozialistischen Ländern weniger fortgeschritten. Es gibt zudem grosse Qualitätsunterschiede in der Medienlandschaft.

Es stimmt auch, dass Wahlerfolge rechtsnationaler Parteien in Ungarn und Polen zu eindeutigen Mehrheitsverhältnissen geführt haben, die es Orbán und Kaczyński ermöglichen, den Staat umzubauen und dessen Institutionen unter ihre Kontrolle zu bringen. Die niederländische PVV (Partei für die Freiheit) und der französische Front National sind aber keine europäischen Randerscheinungen. Von den italienischen und österreichischen Rechten ganz zu schweigen. Auch in Westeuropa hat die EU an Strahlkraft verloren. Die nationalistischen Töne der Brexit-Befürworter stiessen gerade in den Visegrád-Ländern gehörig auf, da das Leave-Lager gegen die Arbeitsmigration aus dem Osten der EU wetterte. Und noch vor einigen Jahren wäre kaum vorstellbar gewesen, dass die AfD stärkste Oppositionskraft im Bundestag wird. Die politischen Verhältnisse in der EU haben sich ganz offensichtlich verändert – im Osten und im Westen.

Politisches Kapital aus Stimmung der Verunsicherung und Angst

In einer Welt, die durch die Globalisierung und Digitalisierung immer komplexer wird, hält sich bei zunehmend mehr Menschen die Bereitschaft, sich an neue Umstände anzupassen, in Grenzen. Vor allem bei denjenigen, die in den letzten Jahren abgehängt wurden oder dies in naher Zukunft befürchten müssen. Die Angst vor einem Verlust des Status quo ist in der EU allgegenwärtig. Der Glaube an eine bessere Zukunft ist vielen abhanden gekommen, das Vertrauen in die Fähigkeit und Glaubwürdigkeit politischer Eliten wurde in zahlreichen Ländern aufgrund multipler Krisen erschüttert. Es ist keine neue Erkenntnis, dass in ganz Europa bestimmte Politikerinnen und Politiker daraus politisches Kapital schlagen.

In den Visegrád-Ländern heissen sie Orbán, Kaczyński und Okamura, in Westeuropa Wilders, Le Pen, Farage, Strache und Gauland. Die Ursachen für deren Erfolge ähneln sich auffallend. Die um sich greifende Stimmung der Verunsicherung und Angst nutzen sie alle für ihre eigenen Zwecke. Unisono behaupten sie, das kulturelle Fortbestehen Europas sei in Gefahr. Sie befeuern die Krise europäischer Flüchtlingspolitik, wodurch ihre Umfragewerte nach den Ereignissen des Jahres 2015 teilweise rasant anstiegen. In den Visegrád-Staaten verstärken sich diese Trends nicht zuletzt, weil es sich um jüngere Demokratien handelt. Man sollte aber nicht einfach davon ausgehen, dass diese Ungleichzeitigkeit in Stein gemeisselt ist. Wer kann heute mit absoluter Sicherheit ausschliessen, dass wir uns in ein paar Jahren im Rückblick eingestehen müssen, dass Orbán ein europäischer Trendsetter war? Das Risiko, dass diese Dystopie Wirklichkeit wird, nimmt nicht ab, indem Trennlinien durch die EU gezogen werden.

Eigene Akzente für Zukunft der Demokratie

In Ungarn geht es auch um die Zukunft der Demokratie in Westeuropa – denn wenn es nicht gelingt, den offenkundigen Demokratieabbau in Ungarn aufzuhalten, wird vergleichbaren Entwicklungen im westlichen Teil des europäischen Kontinentes kaum mehr entgegensetzt werden können. In den nächsten Jahren wird es darauf ankommen, den Brandstiftern in Ost wie West den Wind aus den Segeln zu nehmen. Es ist naiv zu glauben, man könne dies erreichen, indem man ihre Aussagen übernimmt. Überzeugte Demokratinnen und Demokraten sollten sich nicht wie im Hamsterrad an Slogans abarbeiten, die mit der Absicht verbreitet werden, Angst und Hass zu säen, um unsere Gesellschaften zu spalten.

Sie sollten vielmehr selbstbewusst eigene Akzente setzen, strategisch ihre Kräfte bündeln und den zunehmend verunsicherten Bürgerinnen und Bürgern glaubhaft das Wesentliche vermitteln: Die EU als eine Gemeinschaft offener und toleranter Gesellschaften ist nicht die Ursache der multiplen Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, sondern im Gegensatz zu autoritären Systemen in der Lage, Antworten auf die komplexen sozioökonomischen und sicherheitspolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu entwickeln. Dann wird die EU wieder an Strahlkraft gewinnen – im Westen und im Osten.

Eva van de Rakt
boell.de

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