Der Sultan und sein Wesir Die Türkei auf dem Weg zum «Ein-Mann-Staat»

Politik

1. Juni 2016

Die neue Regierung will die Türkei mit Hochdruck zu einem Präsidialsystem nach den Vorstellungen von Staatschef Erdogan umbauen.

Von einer «dunklen Seite der Demokratie» spricht der Autor Mustafa Akyol, der sich als liberaler Muslim versteht.
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Von einer «dunklen Seite der Demokratie» spricht der Autor Mustafa Akyol, der sich als liberaler Muslim versteht. Foto: Luis Astudillo C. (CC BY-SA 2.0 cropped)

1. Juni 2016
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Die Errichtung eines «Ein-Mann-Staates» in der Türkei hat sich laut Tarhan Erdem, einem in der Türkei allgemein geschätzten politischen Analytiker, in drei Phasen vollzogen:

Die erste «Phase der Vorbereitung» setzte demnach gleich nach den türkischen Allgemeinwahlen am 12. Juni 2011 ein, als die Regierungspartei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) mehr als 50 Prozent der Stimmen erhielt. Diese Phase sei von einer zweiten «Phase des Übergangs» im August 2014 ersetzt worden, als Recep Tayyip Erdogan bei den Präsidentenwahlen der Türkei, erneut mit mehr als 50 Prozent der Wählerstimmen, zum ersten Präsidenten der Türkei gewählt wurde. Die dritte schliesslich begann, erzählt Tarhan Erdem, als Regierungschef Ahmet Davutoglu am 4. Mai 2016 von Kreisen aus dem Präsidentenpalast zum Rücktritt gezwungen wurde. Diese «Phase des Anbruchs» soll voraussichtlich abgeschlossen werden, sobald das Parlament bei einer nächsten Wahl das Präsidialsystem in der türkischen Verfassung verankert. Damit ermöglicht es auch de jure die Errichtung des «Ein-Mann-Staates». An der Spitze dieser Ein-Mann-Herrschaft steht unumstritten der heutige Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdogan.

Yildirim – nur treuer Handlanger Erdogans?

Am 22. Mai hat ein Sonderparteitag der AKP den 60-jährigen Binali Yildirim zum neuen Chef der Partei und der Regierung gewählt. Der treue Erdogan-Anhänger sprach nicht lange um den Brei herum: Die wichtigste Aufgabe seiner Regierung sei es, «zu legalisieren, was faktisch schon heute gilt» – nämlich in der Türkei ein Präsidialsystem einzuführen. Das würde der Verwirrung, wer im Staat das Sagen habe, ein Ende setzen. «Seid ihr dafür bereit?» Es war eine rein rhetorische Frage, die von Tausenden AKP-Delegierten in der Ankara-Arena frenetisch bejubelt wurde.

Der ganze Parteitag war eine einzige Kundgebung für Recep Tayyip Erdogan, den wahren, absolut unumstrittenen Führer von Partei und Staat. Riesige Erdogan-Plakate zierten die Wände, Videos auf der Grossleinwand hinter der Bühne zeigten Erdogan mal als Premier, dann wieder als Präsidenten. Zum ausgiebig zelebrierten Personenkult passte auch Yildirims Rede, in der er Edogan als «unseren Führer, den Architekten einer strahlenden Türkei» bezeichnete.

Yildirim, nur ein farbloser «Ja-Sager», der im Namen des grossen «Chefs» sich selber abschafft, wie die Mehrheit der Presse glauben lässt? Gewiss wird Yildirim in seinem neuen Amt die zweite Geige spielen. Der renommierte Journalist Cengiz Candar, ein guter Kenner der Materie in Ankara, mutmasst allerdings, dass Yildirim sehr viel mehr sein soll als nur ein gehorsamer Handlanger: «Der harte Kern der islamistischen Anhängerschaft wünscht einen autoritären Herrscher, der aus seiner religiösen Einstellung keinen Hehl macht, sich aber gleichzeitig auf dem internationalen Parkett geschickt bewegen kann. In Wirklichkeit schwebt ihnen eine Wiederbelebung der längst vergangenen Glorie des Osmanischen Reichs vor.»

Der Sultan und sein Wesir

Von einer «dunklen Seite der Demokratie» spricht der Autor Mustafa Akyol, der sich als liberaler Muslim versteht. In Krisenzeiten, wie heute, könne sich «Demokratie in ein unheimliches Instrument und das Volk in einen hässlichen Haufen verwandeln», schreibt er. «Dann wollen die Bürger keine freiheitliche Regierung, die das Recht eines jeden Individuums verteidigt. Vielmehr wünschen sie sich einen autoritären Herrscher, der die Feinde niederschmettert.» Das Volk liebe den grossen Führer, gerade weil er «die Anderen dämonisiert, ihre Pressefreiheit einschränkt und ihren Besitz konfisziert». So gesehen ist Erdogan das «orientalische Spiegelbild» der Rechtspopulisten im Westen.

Die «dunkle Seite der Demokratie» führt in der Türkei auch dazu, dass man sich an vergangene Grösse klammert. Man wünscht sich Erdogan als neuen Sultan. Als solcher braucht er einen fähigen «Wesir». Wesire im Osmanischen Reich hatten zwar dem Sultan gegenüber absolut loyal zu sein, mussten aber zugleich auch fähig sein, die Geschäfte des Weltreiches effizient zu lenken. Diese Aufgabe hat nun Yildirim zu erfüllen. Verbindungsmann zur Bau-Lobby Der gelernte Schiffsbauingenieur gilt ohnehin als einer der wenigen effizienten Technokraten innerhalb der islamisch-konservativen AKP. Unter seiner Führung als Verkehrsminister wurde das Autobahn- und Schienennetz des Landes modernisiert und massiv ausgebaut. Die türkische Fluggesellschaft «Türk Hava Yollari» konnte ihr Netz weltweit ausbauen und stieg zu einer der grössten Fluggesellschaften der Welt auf. In den grösseren türkischen Städten wurden Metros gebaut.

Was der AKP allerdings am meisten Ruhm verschafft hat, sind die Mega-Projekte, die unter der Leitung Yildirims geplant oder ermöglicht wurden. Als «meine verrückten Projekte» bezeichnet sie Erdogan liebevoll. Dazu zählt der Bahntunnel unter dem Bosporus, durch den bereits Millionen Istanbuler Tag für Tag zwischen Asien und Europa pendeln. Die dritte Brücke über den Bosporus wird für den Verkehr bald freigegeben, und der neue Istanbuler Flughafen soll der grösste Flughafen der Welt werden, wenn er fertig ist. Noch wichtiger für die angestrebte Allmacht Erdogans: Yildirim ist die Brücke zwischen der regierenden AKP und der Lobby der türkischen Baulöwen – dem mächtigsten Sektor der türkischen Wirtschaft.

Forsche anti-westliche Rhetorik

Was wird sich nach der Bildung der neuen Regierung in Ankara verändern? Aussenpolitisch bleibt nach allgemeiner Einschätzung vieles beim Alten. Die Türkei wird weiterhin versuchen, ihre Beziehungen zur arabischen Welt auszubauen, insbesondere zu Saudi-Arabien und den arabischen Emiraten. In der Syrien-Politik hat hinter den Kulissen bereits ein Wechsel stattgefunden: Während Davutoglu nur mit einem Sturz al-Assads eine Lösung im Syrien-Konflikt sah, scheint sich Ankara mit Assad abgefunden zu haben – zumindest für eine Übergangslösung.

Völlig unverändert bleibt die Kurdenpolitik. Das erklärte Ziel der Regierung ist: «bedingungslose Kapitulation der PKK oder ihre totale Eliminierung». Solange Ankara auf Kriegskurs ist mit einem Grossteil der kurdischen Bevölkerung des Landes, solange wird auch der Wunsch der EU nach einer Anpassung der türkischen Anti-Terrorgesetze an europäischen Standards illusorisch bleiben.

Neu hingegen ist eine immer forscher werdende anti-westliche Rhetorik. Es vergeht kaum ein Tag, ohne dass Erdogan oder seine AKP-Prinzen den Westen beschuldigen, die Feinde der Türkei, namentlich die Kurden, zu unterstützen. Unterschwellig schwingt dabei immer der Vorwurf mit, der Westen benutze die Kurden als Marionetten, um die Türkei daran zu hindern, eine globale muslimische Macht zu werden.

Das Problem in den Beziehungen zwischen der EU und der Türkei sei nicht, ob der Flüchtlingsdeal gerettet werden könne oder etwa die Visafreiheit für türkische Bürger, urteilte vor kurzem die links-liberale Intellektuelle Nuray Mert. Die Umwälzungen würden viel tiefer greifen. «Auf einmal werden vom engsten Machtkreis universale Werte wie Demokratie und Menschenrechte als ‹westliche Werte› definiert, die der türkischen Kultur und Geschichte fremd» seien. Dass die Türkei sich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit von diesen Werten abwende, so Nuray Mert, sei «das wahre Problem des Landes».

Zurück statt nach vorn

Dabei war es die AKP, die nach ihrem ersten Wahlsieg 2002 versprach, «der Welt zu beweisen, dass eine muslimische Gesellschaft fähig ist, sich zu erneuern und zu verändern, ohne ihre Identität zu verlieren». Wie Abdullah Gül, damals der zweite Mann in der AKP-Hierarchie ausführte, hätte «unser Volk und die anderen muslimischen Nationen es verdient, fundamentale Rechte wie bürgerliche Freiheiten, die Gleichberechtigung der Geschlechter, die freie Marktwirtschaft und den Rechtsstaat zu geniessen». 14 Jahre später scheint Recep Tayyip Erdogan endgültig Abschied zu nehmen von dieser Vision, die zum Modell für die ganze islamische Welt hätte werden sollen. Vielmehr ist er jenen autoritären Staaten nähergerückt, die er ursprünglich hatte verändern wollen und verspricht nun seiner Nation, sich dem Diktat der Europäer nicht zu beugen: «Sie sollen doch ihren Weg gehen und wir den unsrigen.»

Amalia van Gent / Infosperber