Parlamentswahlen in Spanien „Angesichts der Misere nicht resignieren“

Politik

In Spanien wurde am Sonntag gewählt und es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen – zwischen einer konservativ neoliberalen Koalition aus Partido Popular und Ciudanos auf der einen Seite und Podemos, den Resten der „Sozialdemokraten“ und allen anderen, für die Menschenwürde kein Fremdwort ist auf der anderen Seite.

Podemos-Anhänger in Barcelona, Spanien.
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Podemos-Anhänger in Barcelona, Spanien. Foto: Barcelona En Comú (CC BY-SA 2.0 cropped)

21. Dezember 2015
1
0
10 min.
Drucken
Korrektur
Auch wenn zweiteres sicher das kleinere Übel ist, grosse Sprünge Richtung emanzipatorischer Gesellschaft sind nicht zu erwarten. Deshalb haben wir uns in diesem Herbst mit vielen in Barcelona, Madrid und anderen Orten unterhalten, für die Parlamente sowieso nicht der primäre Ort der Politik sind. Herausgekommen ist die Broschüre „Preguntando Cambiamos – Strategien sozialer Bewegungen in Barcelona und Madrid“. Der folgende Auszug stammt z.B. aus einem Interview mit Albert, der mit vielen anderen zusammen in der PAH in Sabadell versucht, revolutionäre Subjekte aufzubauen.

Unter den insgesamt sechs Gesprächspartner*innen der Broschüre finden sich auch noch ganz andere Ansätze revolutionärer Politik von unten – aus den Überbleibseln des 15M, aus sozialen Zentrum, von aufständischer bis fast schon reformistischer Perspektive ist von allem was dabei. Die komplette Broschüre gibt's auf malaboca.noblogs.org in deutsch und englisch zum download. Viel Spass beim Lesen.

malaboca: Wie hat sich die PAH hier in Sabadell entwickelt und wie sieht seitdem eure tägliche Arbeit aus?

Albert: Alles hat Anfang 2011 mit der Moviment Popular de Sabadell, einem Bündnis verschiedener politischer Kollektive, angefangen. Sie hörten von der Plattform aus Barcelona und Terrassa und sagten: Lass uns das hier auch machen, weil wir das gleiche Problem haben und diese Plattform eine wichtige Bewegung werden kann. Es war also eine bewusste politische Entscheidung einer politischen Bewegung, hier eine Plattform zu gründen. Das unterscheidet uns ein wenig von anderen Orten, wo die Plattformen entweder aus einer anderen politischen Tradition heraus oder als eine spontane Gründungen von Bürger*innen oder Nachbarschaftsversammlungen, die bisher keine Organisationsgeschichte hatten, gegründet wurden.

In Sabadell haben wir dann als eine kleine Plattform mit sehr wenigen Leuten angefangen. Dann gab es die 15M-Proteste und in Bezug auf Organisierung, Medienpräsenz, Mitglieder und die Art der Arbeit bedeutete das eine Explosion. In dem Jahr nach 15M wuchsen unsere Versammlungen von 50 auf 250-300 Leute an. Innerhalb einer Woche kamen mehr neue Leute, als wir das gesamte Jahr davor gewesen waren. Also fingen wir an, Strukturen aufzubauen, die all diese Leute einbinden konnten. Andere Bewegungen wären vielleicht angesichts der enormen Veränderung zusammengebrochen, aber der Unterschied zu z.B. einer NGO ist eben, dass jede neue Person, die zu uns kam, für uns eine*n neue*n Aktivist*in bedeutete.

Unseren Schwerpunkt haben wir immer darauf gelegt, politische Subjekte aufzubauen, kollektive politische Subjekte. Und darin unterscheidet sich unser Philosophie in gewisser Weise von denen anderer Bewegungen, auch innerhalb der unterschiedlichen PAH-Plattformen. Wie haben immer einen klassen-basierten Diskurs stark gemacht, wir hatten immer eine klar linke Rhetorik und haben uns an linken Konzepten und Ideen orientiert. Und wir haben immer einen offenen, undogmatischen, aber eindeutig anti-kapitalistischen Standpunkt vertreten, was andere Plattformen so nicht immer machen. Das hat uns hier geholfen eine wesentlich – ich will nicht sagen ‚aggressivere' – aber eine wesentlich stärkere Plattform aufzubauen. Für uns ist das ein gutes Zeichen dafür, dass unsere Taktik Menschen direkt politisch zu integrieren und sie nicht als Hilfsbedürftige, sondern als Aktivist*innen und Militante zu begreifen, Früchte getragen hat.

Das Problem dabei ist jedoch, dass wir dafür Zeit brauchen. In den zwei vergangenen Jahren bewirkte unsere Taktik jedoch Wunder. Es gibt viele Beispiele von Leuten, die hier beeindruckende politische und persönliche Veränderungen durchgemacht haben. Eine Freundin aus der Plattform hat mir einmal gestanden, dass sie und ihr Mann mit dem Gedanken gespielt hatten, die Plataforma per Catalunya zu wählen – die rechtsradikale und rassistische Partei hier. Und nach einem Jahr in der Plattform hatten beide Tattoos mit Zitaten von Gramsci. Oder eine andere Person, die völlig apolitisch war, hatte nach einem Jahr als Mitglied der Plattform eine Gewerkschaftsgruppe auf ihrer Arbeitsstelle aufgebaut und hat kürzlich für eine lokale Partei auf der Wahlliste kandidiert. Das sind die Leute, die für diese Bewegung essentiell sind.

Ich denke, dass diese Art von Erfolgen viel längerfristiger sind, als lediglich über Bürger*innen- oder Menschenrechte zu reden, was viel abstrakter und auf einer Linie mit dem hegemonialen Diskurs liegt. Vielleicht macht es das anfänglich einfacher, aber langfristig wäre ich skeptisch. Die PAH in Barcelona ist so ein Beispiel: Ich habe viel Respekt vor der Arbeit, die sie geleistet haben, all die Räumungen, die sie verhindert haben oder die Gesetzesänderungen, die sie erkämpft haben. Das ist alles grossartig, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie die Widersprüche, mit denen Leute zu ihnen kommen wirklich ernstnehmen.

Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich vor zwei Jahren mit Andria, dem Partner von Ada Colau, der aktuellen Bürgermeisterin von Barcelona hatte. Er fragte mich, was z.b. mit dem Partido Popular1 Wähler aus der Arbeiter*innenklasse ist, der zu uns kommt. Er war der Meinung, dass dieser nicht kommen würde, wenn wir offen sagen, dass wir Linke und Antikapitalist*innen sind. Meine Antwort war: ‚Das ist völlig falsch. Er kommt nicht zu uns, weil wir dieses oder jenes sind, sondern weil er ein Problem hat: er kann seine Hypothek nicht zahlen. Und er würde wahrscheinlich sogar mit dem Teufel reden, wenn dieser ihm verspricht dieses Problem zu lösen.'

Das Wichtigste ist also an diesem Widerspruch, den er erfährt, zu arbeiten. Denn er erfährt diesen Widerspruch, nicht ich. Er hat die konservative Partei gewählt und jetzt steht er hier. Schaffen wir es also, ihm das Handwerkszeug mitzugeben zu realisieren, dass es politisch unvereinbar ist aus der Arbeiter*innenklasse zu kommen und die konservative Partei zu wählen? Wenn wir das nicht machen würden, hätten wir vielleicht mehr Mitglieder, aber in fünf Jahren zählt das nichts. Wir würden keine politischen Subjekte aufbauen und das ist für mich die wichtigste Aufgabe, die eine soziale Bewegung hat.

malaboca: Lest ihr alle zusammen Marx, um das Klassenbewusstsein zu schärfen? Wie arbeitet ihr in der täglichen Arbeit an diesem politischen Subjekt?

Albert: Ich denke, es kommt auf die Praxis und den Diskurs darum an. Du siehst z.B. die*den Sprecher*in deiner Plattform in den Nachrichten – und sie*er ist gewöhnlich eine Person, die du respektierst – und sie*er sagt, dass es eine reiche Elite gibt, die uns ausbeutet und wenn es denen gut geht, dann geht es uns schlecht und andersherum und das es sich dabei um ein Problem des kapitalistischen Systems handelt. Da musst du nicht ins Detail gehen, die Leute erfahren das jeden Tag. Das schafft einen Diskurs und einen politischen Kontext für diese Erfahrungen. Und das kombiniert man dann mit einer Praxis, die auf Ungehorsam und Konfrontation beruht, um den Unterschied zwischen einem hegemonialen Diskurs und der Realität spürbar zu machen.

Ein Beispiel: Die meisten Leute haben gelernt, dass die Polizei die Aufgabe hat, sie zu beschützen und Verbrechen aufzuklären, weil sie die Guten sind. Dann nimmst du sie mit zu einer politischen Aktion und das erste Mal in ihrem Leben sehen sie die Polizei, wie sie nicht die Bösen verhaftet, sondern die Leute zusammenschlägt, die dir und der Bewegung helfen. Das ist ein kritischer Moment. Die Leute fragen sich “warum?” und sie sind nicht dumm.

Ich glaube, dass dieser Diskurs um Menschen- und Bürger*innenrechte eigentlich sehr paternalistisch ist, weil er auf der Annahme beruht, das Menschen aus der Arbeiter*innenklasse grundlegende Konzepte nicht verstehen würden, wie z.B.: die Polizei in einem kapitalistischen Staat setzt kapitalistische Interessen durch. Und so ist es nun mal – die Leute erleben das an der eigenen Haut. Wir behandeln die Leute als Gleiche und gehen davon aus, dass sie ein Gehirn haben. Wir sind nicht ihre Lehrer*innen – wir erzählen ihnen nur, woran wir selber glauben. Und wenn sie zustimmen, fangen wir an politische Subjekte aufzubauen. Natürlich ist das nicht bei jeder*m so – ich habe zwei der erfolgreichsten Beispiele genannt.

Ich glaube, einer der grössten Fehler der Linken historisch betrachtet ist anzunehmen, dass die Arbeiter*innenklasse oder 99% oder was auch immer ein ideales Wesen ist. Natürlich ist sie das nicht. Die Arbeiter*innenklasse kann sexistisch, rassistisch und all die verdammten Dinge sein, die man sich vorstellen kann. Aber damit müssen wir umgehen und arbeiten. Und man kann hier heute Dinge sehen, die du dir, hätte man sie dir vor fünf Jahren erzählt, niemals hättest vorstellen können.

Vor zwei Monaten kam ein neuer Typ zur Versammlung, wir diskutierten den Fall einer muslimischen Frau und dieser Typ fing an rassistische, islamophobe Kommentare zu machen. Daraufhin hat ihn die Versammlung geschlossen rausgeschmissen. Und das sind Leute aus der Arbeiter*innenklasse, die in wirklich beschissenen Nachbarschaften hier leben. Oder, am letzten Mittwoch, hat uns jemand erzählt, das jemand, der im letzten Monat zu der Versammlung gekommen war, wegen Misshandlung seiner Familie verurteilt worden war. Wir haben das überprüft und ihn dann ausgeschlossen – Rassismus und Sexismus werden hier nicht toleriert.

Es geht um eine Kombination von Praxis und Diskurs und stundenlanger Arbeit an den bereits vorhandenen Widersprüchen des Systems. Geht raus ins Feld, findet sie und zeigt sie auf. Die ganze Geschichte der Schulden und Wohnungsfrage in der Krise war ein grosses Problem des Systems. Und es gab keine Lösung dafür – der Staat hat seine Hände in Unschuld gewaschen. Und in so einer Situation ist der politische Gewinner derjenige, der den Leuten anbieten kann, was sie brauchen.

Das Problem der Linken – zumindest in Spanien, aber ich denke in ganz Europa – ist, dass wir traditionell revolutionäre Ziele haben, aber reformistische Mittel benutzen. Aber wenn deine Mittel reformistisch sind, verfängst du dich schnell im institutionellen Netz und wirst deine Ziele nie erreichen. In der PAH haben wir diese Gleichung versucht umzudrehen: wir haben reformistische Ziele, aber wir wenden revolutionäre Mittel an. Und das ist viel wichtiger, weil du ernsthaft Dinge erreichen kannst, du kannst echte Erfolge vorweisen: Guck, wir haben es geschafft! Wir haben die Räumung verhindert! Guck, wir haben es geschafft! Wir haben ein neues Haus zusammen besetzt. Und während wir diese konkreten Erfolge erreichen, bauen wir ein politisches, klassen-basiertes, potentiell revolutionäres Subjekt auf. Aber leider verstehen das viele Leute innerhalb der Plattform nicht. Wir sind eine Minderheit und die Mehrheit der Bewegung setzt unglücklicherweise auf diesen postmodernen Menschenrechtsdiskurs.

malaboca: Ist die PAH in deinen Augen eine revolutionäre Organisation?

Albert: Ja und Nein. Die Plattform wurde sowohl von aussen als auch von innen oft missverstanden. Objektiv betrachtet, hat sie im Kern anti-kapitalistische Prinzipien, sie greift das Kapital in einigen seiner Grundfesten an. Sie greift sie im Diskurs aber auch als eine Kristallisation sozialer Dynamiken in der Wohnungsfrage an: was zahlst du, mit wem wohnst du zusammen, wo gehst du einkaufen oder besuchst die Schule – all das kristallisiert sich in der Frage, wo du wohnst und Besetzungen sind ein Weg damit zu brechen. Es unterbricht ausserdem auch den kapitalistischen Akkumulationskreislauf in dem Sinne, dass es Wohnraum “dekommodifiziert”, also dem Markt entzieht.

Das Problem ist, dass die meisten Leute – auch innerhalb der Plattform – nicht verstehen, wie stark antikapitalistisch die Bewegung ist. Ich denke, dass heutzutage antikapitalistisch zu sein äquivalent damit ist, revolutionär zu sein. Doch der Diskurs der Plattform hat sich mehr auf die reformistischen Ziele als auf die revolutionären Mittel konzentriert. Die meisten Leute glauben, dass wir Gesetze ändern oder Verträge mit den Banken unterschreiben. Aber ironischerweise ist es ja vor allem die Anwendung bestimmter Mittel, die unser eigentliches Ziel sind. Und durch den Gebrauch dieser Mittel schaffen wir es dann, politische Subjekte aufzubauen. Die konkreten Ziele sind dabei mehr ein Köder, um den Leuten einen Anreiz zu geben. Ich glaube, anders geht es nicht. Und wenn es nur durch den Ungehorsam vor dem Gesetz, dadurch Straftaten zu begehen, möglich ist, eine Wohnung für dich und deine Kinder zu bekommen, dann sagt das eine ganze Menge über die Gesellschaft und das ökonomische System aus. Und man muss kein Genie sein, um das zu verstehen.

lcm