Illusionen, Repression und Untergrund Russischer Anarchismus und die Revolution von 1917

Politik

In der russischen revolutionären Bewegung waren die AnarchistInnen zunächst prägend. Das Beziehungsgeflecht zwischen den russischen AnarchistInnen und den Bolschewiki hatte 1917 schwerwiegende Konsequenzen.

Barrikaden auf dem Litejni-Prospekt in Petrograd, Februar 1917.
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Barrikaden auf dem Litejni-Prospekt in Petrograd, Februar 1917. Foto: Stinton Jones (PD)

31. Oktober 2017
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Erst durch die Erfahrung, nach ihrer Unterstützung der putschartigen Machtergreifung vom Oktober 1917 von den Bolschewiki instrumentalisiert worden zu sein, führte in Russland zur Separierung des Anarchismus vom Bolschewismus.

Der Name, von dem alles ausgeht, wenn über den russischen Anarchismus gesprochen wird, ist Michail Bakunin. Trotz seines Schweizer Exils hatte er grossen Einfluss auf die Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden anarchistischen Gruppen in Russland. Er selbst versuchte lange Zeit, ohne durchgreifenden Erfolg, Geheimgesellschaften zu gründen. Durch den mittelbaren Einfluss von Bakunins Schriften, vor allem der illegal verbreiteten ersten Nummer der Zeitschrift "Narodne Delo" (Die Volkssache), entstand aber in den 1870er-Jahren die Narodniki(Volkstümler)-Bewegung.

Sie versuchte von 1876 bis 1879, die überwältigende Mehrheit der russischen Bevölkerung, die Bauernschaft, zu agitieren und berief sich auf teilweise noch vorhandenen - manche Schätzungen gehen bis zu 50% des bebaubaren Landes - Gemeindebesitz an Grund und Boden (Mir). Die Narodniki spalteten sich, nachdem diese Versuche gescheitert waren, 1879 in einen autoritären Flügel (Norodnaja-Volja, "Volkswille") mit Vera Figner, Sofja Perowskaja (also einigen Frauen), Andrej Scheljabow, der in der Folge Attentate auf den Zaren verübte (u.a. das geglückte am 1. März 1881 auf Zar Alexander II.), und in einen libertären Flügel (Cernyi Peredel, "Schwarze Umverteilung") mit Vera Zasulic, Georgi Plechanow, P.B. Axelrod. Dieser Flügel sagte sich allerdings 1883 von libertären Einflüssen los und wurde zur Keimzelle des russischen Marxismus.

Die Revolution von 1905

Um die Jahrhundertwende bildeten sich die Sozialdemokratie und die Sozialrevolutionäre als Parteien heraus, wobei Letztere einerseits die Politik der individuellen Attentate fortsetzte, andererseits immer stärkere Unterstützung durch die Bauernschaft bekam. Die Revolution von 1905 begann jedoch bei den bäuerlich geprägten ProletarierInnen der Städte. Sie war hauptsächlich eine Streikbewegung, die dem Zarismus bürgerlich-parlamentarische Reformversprechen abnötigte. Ein bewaffneter Aufstand in Moskau wurde in der Folgezeit niedergeschlagen und die Reformen bis 1907 vollständig zurückgenommen.

Obwohl sich die AnarchistInnen - u.a. der wichtige Intellektuelle unter den russischen Anarchisten, Boris M. Eijchenbaum, genannt Volin - an der Bildung der ersten Räte (Sowjets) aus Fabrikdelegierten beteiligten, kamen die Räte bald unter die Oberherrschaft der Parteien (etwa in Petrograd der RechtssozialdemokratInnen, "Menschewiki", die sich 1903 von den "Bolschewiki" getrennt hatten, wodurch die russische Sozialdemokratie gespalten war). (1)

"Schiesst doch, wenn ihr es wagt!"

Die Revolution von 1917 begann wie die Revolution von 1905 in libertärem Sinne durch spontane Massendemonstrationen, vielerorts mit starker Frauenbeteiligung. Ausgehend von einem Streik von 90.000 Textilarbeiterinnen für Brot und Frieden zum Internationalen Frauentag (23. Februar 1917) kam es am 26. Februar zum Generalstreik und kurzen bewaffneten Kämpfen, die von Dienstverweigerungen und massenhaften Truppenüberläufen geprägt waren, bevor am 2. März 1917 Zar Nikolaus abdankte. Volin beschreibt diese sozialen Auseinandersetzungen bildhaft:

Die Arbeiterinnen "boten den Soldaten ihre Brust dar, nahmen ihre Kinder auf den Arm und riefen den Soldaten zu: 'Schiesst doch, wenn ihr es wagt! Besser wir sterben durch eine Kugel, als dass wir vor Hunger krepieren!' Schliesslich - und das war das Entscheidende an der Sache - durchquerten die Soldaten fast überall vorsichtig die Menge, ohne von ihren Waffen Gebrauch zu machen und ohne auf die Kommandos der Offiziere zu achten. Diese machten im Übrigen auch keinen Versuch, ihre Truppen zum Gehorsam zu zwingen. Vereinzelt fraternisierten die Soldaten mit den Arbeitern und Arbeiterinnen, überliessen ihnen sogar ihre Gewehre, stiegen vom Pferd und mischten sich unter die Menge. Die Entscheidung fiel am 27. Februar. Seit dem frühen Morgen meuterten ganze Regimenter der Garnison. Die Regierung entsandte zwei Kavallerie-Regimenter der zaristischen Garde, die einzigen, über die sie noch verfügen konnte, sowie starke Polizeieinheiten, teils beritten, teils zu Fuss. Die Truppen sollten die Operation der Polizei unterstützen und zu Ende führen. Nach den üblichen Aufforderungen gab der Polizeioffizier den Befehl zum Angriff. Doch da geschah ein neues, unfassbares 'Wunder': Der Kommandeur der Garderegimenter hob seinen Säbel und mit dem Ruf: 'Angriff auf die Polizei, vorwärts!' führte er die beiden Regimenter gegen die Polizeikräfte. Bald darauf war der letzte Widerstand der Polizei gebrochen." (2)

Diese Schilderung zeigt eindringlich den spontanen, praktischen und entscheidenden Charakter auf, den die Dienstverweigerungen und das Überläufertum bei der Februarrevolution hatten. Von Februar bis Oktober 1917 wechselten mehrere bürgerliche Regierungen unter Beteiligung der Menschewiki und rechten Sozialrevolutionäre ab. Zuletzt wurde die bürgerliche Republik vom Sozialrevolutionär Kerenski geführt. Er setzte den Krieg gegen Deutschland fort. Eine militärische Offensive im Juni 1917 scheiterte kläglich. Als der Armeegeneral Kornilow daraufhin putschte, konnte sich die Kerenski-Regierung nur noch mit Hilfe der Räte und der Bolschewiki halten. Die Räte entstanden ebenso spontan wie 1905, wurden aber noch schneller von Parteien dominiert und entwickelten sich zu einer Art Parallelregierung, deren Aufrufe zur Dienstverweigerung die bürgerliche Armee zersetzten. Ab September 1917 bildeten die Bolschewiki zusammen mit den linken SozialrevolutionärInnen im Allrussischen Rätekongress die Mehrheit. Die linken SozialrevolutionärInnen hatten sich über die Frage der Regierungsbeteiligung innerhalb der bürgerlichen Republik von ihrer rechten Parteihälfte abgespalten.

Für Lenins Bündnispolitik missbraucht

Im Laufe des Jahres 1917 näherten sich AnarchokommunistInnen, AnarchosyndikalistInnen, Bolschewiki und linke SozialrevolutionärInnen einander an. Neben den TolstojanerInnen mit bäuerlicher Basis, die vor allem die Kriegsdienstverweigerung propagierten sowie für die Abschaffung der Todesstrafe eintraten, und weiteren unabhängigen Gruppen waren die wichtigsten libertären Strömungen vor, während und unmittelbar nach der Oktoberrevolution nach Volin erstens die "Union für anarchosyndikalistische Propaganda" mit der Zeitschrift "Golos Truda" (Stimme der Arbeit) in Petrograd von Sommer 1917 bis Frühjahr 1918, in Moskau bis Ende 1918; zweitens die "Föderation der anarchistischen Gruppen von Moskau" mit der anarchokommunistischen Tageszeitung "Die Anarchie" bis April 1918; drittens die erst Ende 1918 in der Ukraine (Charkiw) gegründete "Konföderation der anarchistischen Organisationen der Ukraine" mit der Zeitschrift "Kabat" (Sturmglocke), die libertäre Strömungen der verschiedenen Richtungen vereinigen wollte.

Im Folgenden bleibt zu fragen, warum sich trotz einiger Warnungen u.a. in der "Golos Truda" viele AnarchistInnen, besonders die erstarkenden AnarchosyndikalistInnen den Bolschewiki bis hin zum Aktionsbündnis anschlossen. Praktisch standen sie beide in Arbeiterversammlungen ein für Fabrikkomitees, die die Fabriken übernahmen, oder für Arbeiterkontrolle über die Kapitalisten, wo dies nicht möglich war. Diese Gemeinsamkeit gegen die Menschewiki führte zu Illusionen auf Seiten der AnarchosyndikalistInnen und AnarchokommunistInnen über eine Abkehr Lenins vom marxistischen Dogma - in der Tat wurde der sogenannte "ultraradikale" Kurs Lenins zu dieser Zeit sogar innerhalb der eigenen Partei als "anarchistisch" kritisiert, was nur ein Beweis dafür ist, dass die Zuspitzung einer politischen Konzeption in einem bestimmten Moment noch nichts über ihren eigentlichen libertären Charakter aussagt und "Radikalisierung" nicht einfach mit dem Übergang zur bewaffneten Aktion verwechselt werden sollte.

Diese Illusionen sollten dem russischen Anarchismus teuer zu stehen kommen. Wie konnten auch eindeutige Aussagen von Lenin in "Staat und Revolution" (1917 geschrieben, Anfang 1918 veröffentlicht) gegen den Anarchismus übersehen werden? Lenin wandte sich unter eindeutigem Bezug auf die Stellen von Marx und Engels über die antiautoritären Bakunisten gegen die anarchistische These, "dass die Arbeiter auf die Anwendung von Waffen, auf die organisierte Gewalt, das heisst auf den Staat verzichten sollen [was genau genommen nur für die TolstojanerInnen zutraf; d.A.]. In der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anarchisten keineswegs auseinander. Wir behaupten, dass zur Erreichung dieses Zieles ein zeitweiliges Ausnutzen der Organe, Mittel und Methoden der Staatsgewalt gegen die Ausbeuter notwendig ist. Sollen die Arbeiter 'die Waffen niederlegen', wenn sie das Joch der Kapitalisten abwerfen, oder sollen sie diese Waffen gegen die Kapitalisten ausnutzen, um deren Widerstand zu brechen? Aber die systematische Ausnutzung der Waffen durch eine Klasse gegen eine andere Klasse, was ist das denn anderes als eine 'vorübergehende Form' des Staates?" (3)

Waren diese Worte nicht eindeutig genug? Vorläufig muss hier festgehalten werden, dass die AnarchistInnen die Gefahr einer Koalition bzw. Zusammenarbeit mit Lenin nicht erkannten, weil sie im Gegensatz zu den TolstojanerInnen den Zusammenhang von Staat und Krieg nicht konsequent zu Ende dachten und mit Lenin lediglich eine eindeutige Unterscheidung zwischen gerechtfertigtem Bürgerkrieg im Innern und imperialistischen Kriegen machten.

Zusammenhang von Staat und Krieg nicht erkannt

Das Dilemma der russischen AnarchistInnen lag in der Tatsache, dass sie - ausser den TolstojanerInnen - die systematische Bewaffnung des Volkes ebenso wie Lenin als Demokratisierung betrachteten. Lenin hatte in "Staat und Revolution" noch nicht Trotzkis (des Begründers der Roten Armee) These vom stehenden Heer und der Unterdrückung des bewaffneten Volkes übernommen. Deshalb glaubten viele AnarchistInnen an eine mögliche Verhinderung des revolutionären Staates bei gleichzeitiger Bewaffnung des Volkes. Sie konnten den Zusammenhang von Staat und Krieg strukturell nicht durchdringen und deshalb von Lenin systematisch für dessen Zwecke benutzt werden.

So stürmten die libertär beeinflussten Kronstadter Matrosen zusammen mit den Bolschewiki das Winterpalais in Petrograd, worin sich die Oktoberrevolution eher als Putsch denn als Revolution auswies. Im militärischen Revolutionskomitee unter Vorsitz von Trotzki zur Vorbereitung der Aktion waren vier Anarchisten, u.a. Bill Shatow. Sofort nach der Oktoberrevolution wurde die Zensur eingeführt, die Geheimpolizei (Tscheka) aufgebaut, im April 1918 dann die Rote Armee. Die im Dezember 1917 stattfindenden, von den Bolschewiki vor dem Oktoberumsturz versprochenen freien Parlamentswahlen brachten den SozialrevolutionärInnen dennoch 410 Sitze, gegenüber nur 175 für die Bolschewiki (bei insgesamt 707).

Da das Parlament die Bolschewiki als Machthaber nicht anerkennen wollte - die SozialrevolutionärInnen waren gespalten - wurde es im Januar 1918 gewaltsam auf Anweisung der Bolschewiki unter führender Mithilfe von Kronstadter Matrosen, wie z.B. des Anarchisten Schelesnjakow, auseinander gejagt. Für die AnarchistInnen war die gewaltsame Sprengung des Parlaments im Einklang mit ihren antiparlamentarischen Grundsätzen. Da sie jedoch seit Mitte 1917 in den Räten gegenüber den Bolschewiki in der Minderheit waren, hatten sie diesen damit die ungeteilte Macht zugeschanzt.

Der Friede von Brest-Litowsk

Im polnischen Brest-Litowsk fanden vom Dezember 1917 bis März 1918 Friedensverhandlungen zwischen den Deutschen und den Bolschewiki (vertreten durch Trotzki) statt. Ausgehandelt wurde zwar ein Friede; die Ukraine, Finnland, Polen und die baltischen Länder mussten dafür aber den imperialistischen Interessen der Deutschen geopfert werden. Dieser Diktatfriede wurde von den linken SozialrevolutionärInnen, welche bis dahin mit den Bolschewiki eine Koalitionsregierung bildeten, abgelehnt. Die AnarchistInnen propagierten gegen die klassisch bürgerliche und staatspolitische Verhandlungspolitik Lenins den Rückzug der eigenen Truppen von der Front, um den Feind - wie 1812 Napoleon - ins weite Land zu locken und ihm durch Partisanengruppen den Nachschub abzuschneiden. In Moskau bewaffneten sich "schwarze Garden" der anarchistischen Föderation für den Partisanenkrieg, führten aber damit teilweise "Expropriationen" (Enteignungsaktionen, bei denen meist ein Geschäftsbesitzer oder Kapitalist von einer bewaffneten Gruppe getötet wurde) für den persönlichen Gewinn durch, was Lenin den Vorwand lieferte, am 11. und 12. April 1918 die AnarchistInnen Moskaus durch die Tscheka niederzumetzeln.

Auch die weitere Repression legitimierte Lenin durch die Unterscheidung von "wahren Anarchisten", die die Bolschewiki unterstützten und angeblichen Banditen und Kriminellen, die seiner Meinung nach mit Anarchismus nichts zu tun hätten. Leider gab es wohl solche Gruppen tatsächlich, obgleich sie nur vordergründig Anlass für einen längst geplanten Schlag gegen die AnarchistInnen waren. Der deutsche Anarchosyndikalist Rudolf Rocker weist in diesem Zusammenhang als Gegengewicht auf die Tätigkeit von AnarchistInnen in Petrograd im Dezember 1917 hin, die gegen vorkommende Plünderungen von bewaffneten Frontrückkehrern zusammen mit den Bolschewiki vorgingen. (4)

In ihrer Kritik der russischen Revolution weist auch Rosa Luxemburg auf die zentrale Bedeutung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk hin. Sie kritisiert, dass durch den Vertrag die Deutschen die Ukraine besetzen konnten und Länder wie Finnland, Polen und die baltischen Staaten Nationen mit bürgerlicher Regierung wurden. Dies habe den Deutschen eine Atempause an der Ostfront verschafft und eine frühzeitige deutsche Revolution verhindert. Als Internationalistin hatte sie damit den wunden Punkt des Friedensschlusses getroffen. (5)

Dennoch muss bezweifelt werden, ob es zu diesem Zeitpunkt eine Alternative zu Lenins Friedensschluss, den er auch gegen Widerstände in der eigenen Partei durchsetzen musste, gab. Das libertäre Partisanenkonzept war nicht nur wegen der Willkür der "schwarzen Garden" in Moskau problematisch. Denn es wurde sozusagen von den Bolschewiki gegen die Deutschen schon ausprobiert. Von Mitte 1917 bis Februar 1918 agierten das russische Heer und die bolschewistischen Roten Garden nämlich mit einem Guerillakonzept und der Wählbarkeit der Offiziere. Mit dieser Taktik unterlagen sie im Februar 1918 den Deutschen bei Narwa und Pleskau, was für Lenin dann den Ausschlag gab, Trotzkis Konzept einer Roten Armee zuzustimmen.

Der Friede von Brest-Litwosk brachte nicht nur Zeitgewinn, sondern erfüllte - wenigstens vorläufig - auch die unmittelbaren Forderungen der Bevölkerung nach einem Ende des Krieges. Die grosse internationale Resonanz des Leninismus und die Popularität seiner Theorie bis in die Sechziger- und noch Siebzigerjahre hinein sind jedenfalls unverständlich, solange der Friede von Brest-Litowsk nicht als eine der wenigen eingehaltenen Versprechen des Sozialismus interpretiert wird, den imperialistischen Krieg unmittelbar bei Machtübernahme zu beenden.

Repression durch die Bolschewiki

Weil sie im Friedensvertrag einen Verrat der Revolution an die Deutschen sahen, ermordeten die linken SozialrevolutionärInnen im Mai 1918 den deutschen Botschafter Mirbach, worauf die Repression gegen diese Gruppierung ebenfalls einsetzte. Im August 1918 waren AnarchistInnen und linke SozialrevolutionärInnen bereits geschlagen und isoliert in den Untergrund zurückgekehrt. Die Schüsse der linken Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan am 30. August 1918 auf Lenin und der Überfall auf das Moskauer Büro der KP durch AnarchistInnen (12 Tote) waren die verzweifelte Antwort.

Die amerikanisch-russische Anarchistin Emma Goldman, die zu dieser Zeit in der Sowjetunion war, machte besonders auf das Schicksal der führenden Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa aufmerksam, die trotz internationaler Kampagnen im Jahre 1921 nicht aus den russischen Gefängnissen entlassen wurde. Goldman schildert in ihrer Aufarbeitung der Ereignisse sowie in ihrer Biographie auch anschaulich den Bürokratismus der Passagierscheine und Ausweiskarten, der jede Eigeninitiative der Bevölkerung gerade in diesen Notzeiten erstickte. (6)

Die Konsumgenossenschaften kleiner Bauern und Handwerker (Artels) wurden von den Bolschewiki unmittelbar nach dem Oktober zerstört. In der Analyse von Volin musste die neue Staatsmacht geradezu alle unabhängigen, direkt organisierten Initiativen (Gewerkschaften, Genossenschaften usw.) zerstören, um der staatlichen Verteilungsbürokratie fernab von den lokalen Gegebenheiten überhaupt eine Daseinsberechtigung zu verschaffen. Die Unfähigkeit des neuen Staates, Produktion und Konsumption unmittelbar besser zu lösen als durch die direkten Organisationsversuche der Bevölkerung, führte zur Wirtschaftskrise.

Es folgte ab Mai 1918 eine Politik der Zwangsrequirierung von Nahrungsmitteln für die Städte und für die Versorgung der Roten Armee, worauf die bäuerliche Bevölkerung mit passivem Widerstand reagierte, der zu härtester Repression von Seiten des revolutionären Staates führte. Dies wiederum machte die Bauern offen für konterrevolutionäre Tendenzen. In dieser Sicht ist sogar das Kontingent der einfallenden ausländischen Armeen noch Folge der autoritären Entwicklung der russischen Revolution selbst: Die Repressionsmassnahmen der Bolschewiki liessen die revolutionäre Bewegung in anderen Ländern zweifeln oder spalteten sie. Dadurch gewannen die kapitalistischen Staaten erst die Zeit, um Interventionsarmeen auszuheben und bereitzustellen. Die Analyse von Volin entlarvt somit die Revolutionskonzeption Lenins als offen reaktionär:

"Dies [die Zwangsrequirierungen und die Repression] sind die wesentlichen Faktoren, die die Bevölkerung zermürben und anwidern, die sie gegen die Revolution einnehmen und auf diese Weise ein Wiederbeleben konterrevolutionärer Gesinnung und konterrevolutionärer Bewegung begründen. (...) Eine solche Sachlage lenkt nicht nur die Revolution in falsche Bahnen, sondern gefährdet auch ihre Verteidigung. (...) Jetzt müssen sie [die Bolschewiki] sich selbst und ihre Anhänger gegen die immer zahlreicher werdenden Feinde verteidigen, deren Auftreten und Aktivität vor allem eine Folge ihres eigenen Bankrotts ist. (...) Die falsche Verteidigung wird natürlich von oben organisiert mit Hilfe alter, schauerlicher Methoden (...): totale Beschlagnahme der gesamten Bevölkerung durch die Regierung, Aufstellung einer streng disziplinierten Armee, einer Berufspolizei und völlig ergebener Spezialeinheiten."

as / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 423, November 2017, www.graswurzel.net

Fussnoten

(1) Geierhos, Wolfgang: Vera Zasulic und die russische revolutionäre Bewegung, München/Wien 1977; Rothe, Valentine: Der russische Anarchismus und die Rätebewegung 1905, Frankfurt/New York 1978.

(2) Volin: Die unbekannte Revolution (1947), Hamburg 1983, Bd. I, S. 110, 112; wieder veröffentlicht im Verlag Die Buchmacher, Berlin 2013.

(3) Lenin, W.I.: Staat und Revolution (1917/18), in ders.: Ausgewählte Werke, Bd. II, Berlin (DDR) 1979, S. 368, 386.

(4) Paul Avrich belegt die Existenz plündernder Gruppen für persönlichen Gewinn in ders.: The Russian Anarchists, Princeton 1967, S. 183ff.; Rocker, Rudolf: Der Bankerott des russischen Staatskommunismus, Berlin 1921, S. 12.

(5) Luxemburg, Rosa: Die russische Tragödie (1918), in dies.: Gesammelte Werke, Bd. IV, Berlin (DDR) 1983, S. 385-392, sowie dies.: Zur russischen Revolution, ebenda, hier 6. Aufl., Berlin 2000, S. 332-362.

(6) Emma Goldman: Die Ursachen des Niedergangs der russischen Revolution, Berlin 1922, sowie dieselbe: Gelebtes Leben Bd. III, K. Kramer Verlag, Berlin 1980, S. 840ff., inzwischen wiederveröffentlicht in einem Band in der Edition Nautilus, Hamburg 2010.