Wenn Globalisierungsverlierer am Freihandel teilhaben wollen „Wirtschaftsflüchtlinge“

Politik

Deutschland diskutiert über Flucht und Migration. Durch das nicht absehbare Kriegsende in Syrien und das Bevölkerungswachstum in vielen afrikanischen Staaten bei gleichzeitiger Perspektivlosigkeit, wird das Fluchtthema auch in den kommenden Jahren noch von grosser Relevanz sein.

Sudanesische Flüchtlinge im «Dschungel» von Calais.
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Sudanesische Flüchtlinge im «Dschungel» von Calais. Foto: Michal Bělka (CC BY-SA 4.0 cropped)

22. Juli 2016
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Deshalb ist es an der Zeit, den Begriff des Wirtschaftsflüchtlings kritisch zu beleuchten. Dieser Begriff wird benutzt, um „legale Flüchtlinge“ (Kriegsflüchtlinge) von „illegalen“ („Wirtschaftsflüchtlinge“) abzugrenzen. Es wird der Eindruck erweckt, sogenannte „Wirtschaftsflüchtlinge“ würden nur aufgrund wirtschaftlicher Vorteile nach Europa kommen und sie würden das Asylrecht „missbrauchen“. Dabei ist die Migration der „Wirtschaftsflüchtlinge“ lediglich als ihr (einziges) Mittel zur Bewältigung der Globalisierung anzusehen. Wirtschaftsmigration gehört zur Globalisierung wie der Freihandel von Waren und Dienstleistungen.

Wir leben in einer fast grenzenlosen Welt. Durch die Globalisierung findet man in fast jedem Supermarkt der Welt europäische Produkte. Deutschland profitiert davon am stärksten. Als jahrelanger Exportweltmeister exportiert Deutschland mehr Produkte als irgendein anderes Land (mit Ausnahme Chinas). Davon profitieren deutsche Unternehmen und ArbeitnehmerInnen gleichermassen. Unternehmen verkaufen ihre Produkte im Ausland und machen dort Gewinne. Deutsche ArbeitnehmerInnen profitieren davon, da ihre Arbeitsplätze in Deutschland sind, obwohl die Produkte im Ausland verkauft werden. Im Endeffekt kann man also sagen, dass deutsche ArbeitnehmerInnen ihre Arbeitskraft (in Form fertiger Produkte) exportieren. Gäbe es keine nahezu grenzenlose Welt, d.h. keinen Freihandel von Gütern und Dienstleistungen, wäre die Nachfrage nach deutschen Produkten geringer und es gäbe sehr wahrscheinlich weniger Arbeitsplätze in Deutschland.

„Wirtschaftsflüchtlinge“ sind keine illegalen, sondern ganz normale Teilnehmer der Globalisierung

Die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ versuchen nichts anderes, als ihre Arbeitskraft ebenso im Ausland zu verkaufen, d.h. zu exportieren. Sie greifen dabei (unbewusst) die Logiken des Freihandels auf und bieten ihre Arbeitskraft überall dort an, wo es eine Nachfrage gibt oder sie diese vermuten. Die „Wirtschaftsflüchtlinge“ passen sich damit lediglich an die Globalisierung an. Ganz nüchtern betrachtet, unterscheiden sie sich dabei weder von europäischen ArbeitnehmerInnen, noch von europäischen und deutschen Unternehmen. Alle drei Akteursgruppen bieten auf ihre ganz eigene Art und Weise ihre Güter (Produkte bzw. Arbeitskraft) auf dem Weltmarkt an. Der einzige Unterschied ist dabei, dass es bei den einen als „Export“ gefeiert wird und bei den anderen als „(Wirtschafts-)Flucht“ gebrandmarkt und kriminalisiert wird.

Ursachen für „Wirtschaftsmigration“

Doch warum „fliehen“ so viele ArbeitnehmerInnen aus dem globalen Süden, um ihre Arbeitskraft im Ausland anzubieten? Dafür gibt es (mindestens) zweierlei Ursachen. Zum einen korrupte Herrscher in vielen Ländern des globalen Südens. Herrscher, die jeden „Entwicklungsfortschritt“ zunichte machen und somit zur Perspektivlosigkeit in ihren Ländern beitragen. Es ist beachtenswert, dass die Menschen in immer mehr Ländern auf die Strasse gehen, Gerechtigkeit verlangen und korrupte Herrscher entmachten. Allerdings gelingt dies nicht immer, wodurch ihnen fast nur die Migration bleibt.

Als zweite Ursache sind allerdings auch die globalen Handelsstrukturen anzuführen. Durch den weltweiten Freihandel stehen afrikanische Produzenten und Unternehmen unter immensen Wettbewerbsdruck. Oftmals haben sie keine Chance, gegenüber billigen Importen zu bestehen. Sie gehen bankrott und Arbeitsplätze werden vernichtet. Dadurch entsteht Perspektivlosigkeit und die hohe Jugendarbeitslosigkeit wächst weiter. Selbst der Afrika-Beauftragte von Bundeskanzlerin Merkel, Günter Nooke, betont diesen Zusammenhang. Mit Blick auf die jüngsten Freihandelsverhandlungen zwischen der EU und Afrika, den sogenannten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, kitisiert er, dass man:

nicht mit den Wirtschaftsverhandlungen kaputt machen [dürfe], was man auf der anderen Seite als Entwicklungsministerium versucht aufzubauen

Die „Wirtschaftsflüchtlinge“ fliehen also vor der von europäischer Politik mitverursachten Perspektivlosigkeit – nur um dann in Europa als illegale „Wirtschaftsflüchtlinge“ gebrandmarkt zu werden.

Kritiker werden einwenden, der Freihandel käme doch auch Konsumenten im globalen Süden zugute. Immerhin könnten sie äusserst günstige Produkte kaufen. Aber was bringt ihnen das günstigste Geflügel, wenn dadurch die eigene Landwirtschaft zugrunde geht? Was bringt es den Menschen im globalen Süden, wenn ihre eigene Wirtschaft infolge günstiger Importe leidet und es keine Arbeitsplätze gibt? Zudem hat sich kaum ein Industrieland in einem Freihandelssystem entwickelt. Sowohl Deutschland, als auch die USA, Japan, Frankreich, Südkorea, Taiwan und China haben sich zunächst vom Weltmarkt abgeschottet, um wettbewerbsfähig zu werden und die eigene Wirtschaft aufzubauen.

Fazit: Ein irreführender Begriff, der die eigentlichen Ursachen verschleiert

Der Begriff des „Wirtschaftsflüchtlings“ ist irreführend. Er kriminalisiert ArbeitnehmerInnen, die an der Globalisierung teilnehmen wollen und sich in dieser Hinsicht in keiner Weise von den heutigen Globalisierungsgewinnern (Unternehmen und ArbeitnehmerInnen aus Industrieländern) unterscheiden. Darüber hinaus verschleiert der Begriff „Wirtschaftsflüchtling“ die eigentlichen Ursachen des Problems, namentlich den von den Industrieländern und auch Deutschland durchgesetzten internationalen Freihandel.

Im Endeffekt kann man nicht für die Globalisierung und für den Freihandel sein und gleichzeitig die sogenannten „Wirtschaftsflüchtlinge“ als kriminell und illegal verdammen, wenn sie lediglich versuchen, an der Globalisierung teilzunehmen und dabei lediglich den freien Handel mit der Ware Arbeitskraft verkörpern.

Anstatt Menschen als „Wirtschaftsflüchtlinge“ zu verdammen, sollte man sich Gedanken zur Überwindung dieser Problematiken machen. Entweder Europa lässt diese Menschen auf den europäischen Arbeitsmarkt oder die europäische Politik muss es erlauben, dass sich die afrikanischen Ökonomien zeitweise vom Weltmarkt abschotten und sich konkurrenzfähige Unternehmen und Arbeitsplätze entwickeln.

Der weltweite Freihandel von Gütern bei gleichzeitiger Abschottung der europäischen Arbeitsmärkte, d.h. dem Verbot des „Freihandels von Arbeitskräften“, ist ein Widerspruch, der sowohl zu unermesslichem Elend auf den Fluchtrouten und im Mittelmeer führt, als auch zur Perspektivlosigkeit in den Heimatländern der „Wirtschaftsmigranten“. Eine Überwindung der Problematik ist also nur möglich, wenn die Perspektivlosigkeit in den Herkunftsländern überwunden wird und sich somit weniger Menschen auf den Weg machen müssen oder wenn Perspektiven in Europa eröffnet werden.

Nico Beckert
zebralogs.wordpress.com