Problematische Rechtsgrundlage des Krieges gegen den Terror „War“ on Terror 2.0?

Politik

3. Dezember 2015

Nach den Anschlägen in Paris hat sich eine weltweite Kriegskoalition gegen den IS gebildet. Geschichte scheint sich zu wiederholen. Was haben wir aus den Ereignissen seit 2001 gelernt und wie konnte es zur aktuellen Eskalation kommen?

Der französische Flugzeugträger Charles De Gaulle (Bildmitte).
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Der französische Flugzeugträger Charles De Gaulle (Bildmitte). Foto: I. Cutler (PD)

3. Dezember 2015
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„Frankreich befindet sich im Krieg“: Mit für ihn ungewohnt martialischen Worten wandte sich Präsident Francois Hollande unmittelbar nach den Anschlägen von Paris an sein Volk und an die Weltöffentlichkeit. Gnadenlos seien die Drahtzieher zu bestrafen. Seither hat Frankreich seine bereits zuvor begonnenen Luftangriffe auf Stellungen des sogenannten Islamischen Staat (IS) in Syrien weiter verstärkt und zudem den Flugzeugträger „Charles de Gaulle“ vor der syrischen Küste in Stellung gebracht. Erstmals überhaupt wurde von Frankreich die Beistandsklausel des EU-Vertrages aufgerufen und alle Mitgliedstaaten der EU sicherten Frankreich sofort ihre volle Unterstützung zu. Inzwischen scheinen den westlichen Verbündeten auch Russland und selbst Truppenteile Assads als Kooperationspartner für eine weltweite Kriegskoalition gegen den IS willkommen.

Und Deutschland? Auch Deutschland rüstet sich seit dem 26. November für den Kampf, will erklärtermassen die kollektive Zerschlagung der IS-Strukturen mit eigenen luft- und seegestützten Komponenten unterstützen, schliesst aber auch weitere Verpflichtungen nicht aus. Zunächst sollen 1.200 Soldaten in den von Frankreich verkündeten Krieg ziehen, wenn der Bundestag einem Einsatzmandat zustimmt.

Hollandes Wortwahl erinnert auf fatale Weise an den „War on Terror“, der 2001 von George W. Bush proklamiert wurde, und die politischen Reaktionen im Ausland erinnern gleichfalls an die seinerzeit verkündete Solidarität der Verbündeten der USA. Ähnlich der aktuellen Situation beriefen sich auch die USA auf das Recht der Selbstverteidigung und die Alliierten versammelten sich um den Beistandsartikel 5 des NATO-Vertrages.

Die Ergebnisse dieses ersten Antiterrorkrieges sind bekannt und bestenfalls zwiespältig. Koalitionen der Willigen wurden geformt, nach der Entmachtung der Taliban in Afghanistan ein falsch begründeter Feldzug gegen das Regime in Bagdad geführt, eine kollektive Befriedungsmission in Afghanistan begonnen und nach einem Jahrzehnt jedoch abgebrochen, die Herrschaft von Libyens Diktator Ghadafi gegen Staatszerfall und Milizgewalt eingetauscht. Al-Qaida, das ursprüngliche Ziel des „War on Terror“ wurde zwar geschwächt, aber keineswegs zerschlagen. Nachfolgende Organisationen erscheinen nicht nur mächtiger und brutaler im Vorgehen, sondern rekrutieren inzwischen gezielt innerhalb von westlichen Gesellschaften.

Wiederholt sich hier lediglich Geschichte, oder befinden wir uns mit dem „War on Terror 2.0“ bereits an der Schwelle zum Dritten Weltkrieg, wie manche besorgte Zeitgenossen vermuten und wie die allgegenwärtige Kriegsrhetorik von Paris bis Moskau suggeriert? Ratsam ist eine kritische Bewertung sowohl der rechtlichen als auch der politischen Logik der aktuellen Eskalation.

Problematische Rechtsgrundlage des Krieges gegen den Terror

Frankreich bemühte das Recht zur Begründung seiner Kriegserklärung. Tatsächlich gesteht Artikel 51 der UN-Charta den Mitgliedstaaten ein (allerdings doppelt begrenztes) Recht auf Selbstverteidigung bei einem bewaffneten Angriff zu. Die Begrenzung beruht einerseits auf dem allgemeinen Völkerrechtsprinzip der Verhältnismässigkeit der Mittel, andererseits kann der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die Verantwortung für den Fall an sich ziehen, wenn er diesen als Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit bewertet. Dass der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Terrorismus prinzipiell als eine solche potenzielle Gefährdung ansieht, ist durch frühere Resolutionen belegt und wird auch in der aktuellen von Frankreich eingebrachten Resolution so beurteilt.

Anders als früher nimmt diese Beurteilung jedoch nicht Bezug auf Kapitel VII der Charta, welches Zwangsmassnahmen des Sicherheitsrates in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht legitimeren und mandatieren kann. Der vage Wortlaut der Resolution resultiert aus dem aktuell geringen gemeinsamen politischen Nenner zwischen den Ständigen Mitgliedern. Hierzu später.

Die Voraussetzungen für einen Konsens unter dem Dach der Vereinten Nationen sind schwierig. Hier kommt nun der bislang weithin unbekannte Artikel 42 Abs. 7 des EU-Vertrages ins Spiel. Dabei hat gerade dieser Artikel eine interessante Vorgeschichte. Der Passus geht auf die mit dem Amsterdamer Vertrag über die Europäische Union vollzogene Integration der früheren Westeuropäischen (Verteidigungs-)Union in die EU zurück. Dessen praktisch wortgleicher Artikel 4 statuierte in der geänderten Fassung des Brüsseler Vertrages von 1954: „Sollte einer der Hohen Vertragschliessenden Teile das Ziel eines Angriffs in Europa werden, so werden ihm die anderen Hohen Vertragschliessenden Teile im Einklang mit den Bestimmungen des Artikels 51 der Satzung der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung leisten.“ In der deutschen Fassung von Artikel 42 Abs. 7 heisst es: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung, im Einklang mit Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen.“ (Herv. d.V.)

„Alle in ihrer Macht stehende Hilfe“ – in dieser unbedingten und absoluten Formel steckt eine sachlich und territorial sogar stärkere Beistandsverpflichtung als im Falle der NATO-Beistandsklausel, die im Verteidigungsfall vorsieht, dass jedes Bündnismitglied „für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Massnahmen, einschliesslich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.“ (Herv. d.V.)

Ob die Terroranschläge von Paris die Voraussetzung für eine völkerrechtskonforme Inanspruchnahme des Selbstverteidigungsrechts eines Staates erfüllen, ist allerdings umstritten. Frankreich wurde nicht durch einen Staat attackiert, sondern durch Personen, die mit der Terrororganisation IS in Verbindung standen oder stehen. Ein Selbstverteidigungskrieg nach Artikel 51 der Charta wertet die Terrororganisation auf, unterstützt wider Willen deren Staatsbildungsprojekt und wird zudem unter Gleichgesinnten in aller Welt zu einer Solidarisierungswelle mit dem „Opfer“ der Luftangriffe führen. Dabei erlaubte die vom transnationalen Terrorismus ausgehende globale Gefährdung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit das aufrichtige Ringen um eine gemeinsame Grundhaltung des VN-Sicherheitsrates, da sich trotz aller politischen Interessenkonflikte die fünf Ständigen Mitglieder in einer Sache einig sind, nämlich dass der IS eine Bedrohung für alle und zu zerschlagen sei. Eine Resolution des Sicherheitsrates nach Kapitel VII wäre erreichbar und in jedem Fall die verlässlichere rechtliche Basis für ein klares Mandat und ein besser koordiniertes Vorgehen gegen den IS.

Wie problematisch eine unklare Rechtslage für die Koordinierung der Massnahmen wirkt, kann übrigens in den Erfahrungsberichten aus den ersten Jahren der Stabilisierungsmission in Afghanistan nachgelesen werden. Der fortdauernde Bezug Washingtons auf das Selbstverteidigungsrecht führte dort nicht nur zur Anwendung von unterschiedlichen Einsatzregeln, sondern erschwerte auch die Koordinierung zwischen den Nationen.

Manche Zeitgenossen halten die kritische Abwägung rechtlicher Argumente für eine unangemessene, zaudernde oder abwertend gelegentlich auch für eine „typisch deutsche“ Debatte. Dabei wird übersehen, dass durch den politischen und militärischen Reflex auf terroristische Anschläge, die internationale Rechtsordnung, wie wir sie kennen, insgesamt auf die Kippe gestellt zu werden droht. 300.000 Opfer des Syrienkrieges und 11,5 Millionen Kriegsflüchtlinge bewirkten keine Kriegskoalition, wohl aber Anschläge oder Anschlagsdrohungen auf Kultur- und Sportstätten sowie Flugzeuge und Restaurants einiger der an der Koalition beteiligten Nationen.

Wenn das Recht als eine ordnende Funktion der Politik erachtet wird, dann müssen die politischen Ziele jener kritisch befragt werden, die das Recht in die Hand nehmen.

Mangelnde Tragfähigkeit politischer und strategischer Ziele

Basiert die erkennbare Planung bewaffneter Einsätze auf einer nachvollziehbaren, langfristig angelegten politischen Strategie? Fördert diese politische Strategie den Konsens der Allianz gegen den Terrorismus? Verringert das militärische Vorgehen gegen Terrorismus dessen Gefährdungspotenzial?

Die erkennbare politische Strategie der Kriegskoalition ist vor allem zweierlei, pragmatisch und kurzsichtig. Sie beruht auf der Annahme, der IS liesse sich militärisch besiegen. Sie unterstellt, dass keine massgeblichen eigenen Bodentruppen erforderlich sind, weil den Akteuren in Syrien daran gelegen sein muss, ihr eigenes Land von der IS-Herrschaft zu befreien. Sie glaubt daran, dass mit dem militärischen Eingreifen nicht nur der IS vernichtet, sondern auch die Herrschaft des Assad-Regimes gebrochen wird. Und sie scheint schliesslich davon auszugehen, dass der Feldzug die Quellen des Terrorismus versiegen und die regionale und globale Sicherheit festigen werde.

Keine der genannten Annahmen ist plausibel. Der IS ist im Kern keine Armee, die geschlagen werden muss, sondern ein islamistisches Staatsbildungsprojekt, dem der Boden zu entziehen ist. Dieses Ziel ist nicht mit Akteuren zu erreichen, die gegeneinander um die Vorherrschaft in den vom IS zu säubernden Gebieten ringen. Für die syrischen Oppositionsgruppen sind Assad und seine Truppen keine potenziellen Verbündeten. Assads Unterstützer fürchten Rachefeldzüge nach dem Muster des Irakkrieges und werden die eigene Macht kaum freiwillig preisgeben. Russland wird einer Entmachtung Assads nicht zustimmen, wenn sein eigenes strategisches Interesse an den militärischen Vorposten Tartus und Latakia nicht dauerhaft garantiert sind. Warum sollten sich die Kurden im Ergebnis militärischer Erfolge gegen den IS mit der fortdauernden Teilung ihrer Nation begnügen und die ihnen überlassenen Waffen nicht gegen andere richten? Wie werden schliesslich die Menschen vor Ort und in der Diaspora auf die anhaltende Zerstörung ihrer Infrastruktur reagieren, von der zu erwartenden Empörung über sogenannte „Kollateralschäden“ ganz zu schweigen?

Was die Effizienz speziell der militärischen Mittel anbelangt, so versagen klassische Instrumente der Staatenwelt im Kampf gegen den Terrorismus. Militärische Mittel und Fähigkeiten könnten gleichwohl unter der Voraussetzung eines klaren Kapitel VII Mandats auch für die Terrorbekämpfung ergänzend nützlich sein. Die Einsatzpalette potenzieller militärischer Beiträge zur Terrorbekämpfung im Rahmen und als Teil eines schlüssigen Gesamtkonzepts ist umfangreicher als es die aktuelle Kriegsrhetorik suggeriert.

Einige Beispiele: die Unterbindung von illegalen Waffenlieferungen zu Lande, in der Luft und auf See; praktische Hilfe bei der Reform des Sicherheitssektors in den schwachen Staaten Syrien und Irak; Sicherungsaufgaben bei der Durchsetzung von internationalen polizeilichen Aufgaben zur Förderung von Sicherheit und Rechtstaatlichkeit, einschliesslich der Entwaffnung von illegalen Milizen und Banden; Beiträge zur Notfallvorsorge und Katastrophenbekämpfung. Zielgerichtete Operationen gegen die Kommandozentren und logistischen Basen des IS können sinnvoll sein. Ihre völkerrechtliche Legitimation sollte dabei jedoch über jeden Zweifel erhaben sein und der Einsatz dürfte nicht geeignetere Massnahmen etwa der gezielten Prävention oder Strafverfolgung verdrängen.

Terrorprävention: Herausforderungen und Erfolgsaussichten

Unstrittig ist für unsere Gesellschaften als eine Quelle der Rekrutierung durch den IS, dass die Aufklärung der Strukturen und der Verbindungen der Terrornetzwerke umfassender und gezielter polizeilicher und geheimdienstlicher Mittel bedarf. Informationen über „islamistisch“ inspirierte Terrorgruppen zu gewinnen ist jedoch schwierig. Ihre Zellen operieren in der Regel kleinförmig und konspirativ und oft behindern kulturelle sowie sprachliche Aspekte den Zugang zu verlässlichen Quellen. Informanten sind kaum zu gewinnen, weil deren Enttarnung dazu führt, dass sie als Verräter aus der jeweiligen Gemeinschaft ausgestossen werden. Viele Zellen agieren zudem inzwischen transnational und ihre Finanzierung und Ausstattung erfolgt oft über legal operierende Tarnfirmen.

Kurzfristig beschlossene Präventionsmassnahmen wie im jüngsten Fall die Anhebung von Terrorstufen oder das Absagen von Grossereignissen zeigen einerseits, wie störanfällig freiheitliche Gesellschaften sind, aber auch die hohe Verunsicherung in Bezug auf die Zuverlässigkeit von Schutzmassnahmen. Der politische und öffentliche Druck auf den Rechtsstaat, für die bestmögliche Prävention gegen Terrorgefahr Sorge zu tragen, wird unter diesen Voraussetzungen weiter zunehmen. Gerade auch die innerdeutsche Debatte zeigt, wie tagesaktuelle Ereignisse dazu führen, dass Rezepte aus den Schublade geholt werden, die unter anderen Umständen politisch nicht durchsetzbar wären und die den Nachweis verbesserter Sicherheitsvorsorge schuldig bleiben. Dabei steht zugegebenermassen Prävention gegen Terror vor einem ständigen Dilemma: Ihr Erfolg bemisst sich nicht in erster Linie daran, ob Anschläge verhindert wurden. Kommt es jedoch zu einem Anschlag, stünde sogleich das gesamte Präventionssystem am öffentlichen Pranger. Eben auch deshalb neigt staatliche Vorsorgepolitik oft zu politisch maximal durchsetzbarer Absicherung.

Die Erfahrung lehrt, dass es nicht nur einen Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Nährboden und der Rekrutierung von Terrorzellen gibt, sondern eben auch einen zwischen starker gemeinschaftlicher Identität und Präventionspolitik. Die Glaubwürdigkeit und letztlich auch die Wirkung von Massnahmen gegen den Terrorismus werden letzten Endes nicht nur von ihrer Durchsetzung bestimmt, sondern ebenso stark vom politischen Willen der Staaten, ihren Absichtserklärungen zum international gemeinschaftlichen Vorgehen entsprechende Taten folgen zu lassen und von der Akzeptanz der Bürger in diesen Staaten, dass diese Massnahmen ihrer Freiheit in Sicherheit dienlich sind.

Hans Joachim Giessmann
boell.de

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