Vom politischen Polygon zur Wüste des Post-Sozialismus Europa und das sozialistische Erbe Jugoslawiens

Politik

20. März 2017

Im Jahre 1999 wies der französische Philosoph Etienne Balibar in einem Vortrag in Thessaloniki darauf hin, dass »das Schicksal der europäischen Identität als solcher in Jugoslawien und allgemeiner auf dem Balkan ausgetragen wird (obschon es nicht der einzige Ort des Aushandlungsprozesses ist)«.

Das Quartier Bežanijski Blokovi in einem Vorort von Belgrad, August 2006.
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Das Quartier Bežanijski Blokovi in einem Vorort von Belgrad, August 2006. Foto: Rela (PD)

20. März 2017
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Europa stünde dabei vor der Alternative: »Entweder nimmt es die Situation auf dem Balkan nicht als eine ihm aufgehalste pathologische Nachwirkung von Unterentwicklung oder Kommunismus, sondern als Resultat seiner eigenen Geschichte an, die es konfrontiert, die es löst und darüber zu Veränderung gelangt. Nur dadurch wird Europa vermutlich wieder möglich werden können. Oder aber es verweigert sich der Auseinandersetzung, behandelt das Problem weiterhin als ein ihm äusseres Hindernis, was es mit äusseren Mitteln, inklusive Kolonisierung zu lösen versucht.[1]

«Europa, so meine These, erscheint heute sogar weniger möglich und selbstreflektiert als es noch vor zwei Jahrzehnten während des Krieges in den jugoslawischen Nachfolgestaaten war. Im Gegenteil, das europäische Projekt scheint am kritischsten Punkt seiner Geschichte angelangt, und nicht wenige sprechen bereits von seinem Ende. Es macht den Eindruck, als würde von Europa in Zeiten, in denen es von der globalen ökonomischen Krise erfasst und von Massnahmen der Austeritätspolitik polarisiert ist, in denen es die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten und den damit einhergehenden Anstieg von Xenophobie und aufstrebenden rechten und faschistischen Gruppierungen zu bewältigen hat, als würde in dieser Zeit Solidarität als grundlegendes Prinzip des europäischen Projektes aufgekündigt und »eine leere Hülle, ein Objekt der Schande und des verdienten Sarkasmus« zurückbleiben.[2]

Globale Prozesse wie Neoliberalisierung, die Kommodifizierung von Bildung, Gentrifizierung und die Dezimierung öffentlicher Räume zeigen gegenwärtige Momente der Krise auf. Sie sind sowohl in den Zentren Europas als auch an seinen Rändern sichtbar. Entlang dieser neuen Umstände könnte die Relevanz einiger dichotomer Setzungen, markiert durch zahllose »posts« und »ismen«, ebenso wie die Basis der EU-Mitgliedschaft in Frage gestellt werden. Spielen in Zeiten, in denen sich Europa in Arme und Reiche aufspaltet – erkennbar an den Routen der Migrationsbewegung – alte Trennungen wie jene in West- vs. Osteuropa (»kapitalistisches« vs. ehemals sozialistisches Europa), Europa vs. den Balkan überhaupt noch eine signifikante Rolle?

Trotz der Neuordnung der symbolischen europäischen Landkarte und neuer Disziplinierungsmechanismen, vor denen auch EU-Mitgliedsstaaten wie Griechenland, Portugal, Italien, Irland oder Spanien nicht gefeit sind und die damit auch grosse Teile der Bevölkerungen originär europäischer Staaten betreffen, verlieren die altbekannten Muster des »Othering« und des Ausschlusses nicht an Prominenz und gestalten auch heute die politischen Prozesse in Europa. Diese stechen besonders in dem von Etienne Balibar benannten Gebiet – dem ehemaligen Jugoslawien – hervor. Dort zeigt sich Slowenien momentan um starke Abgrenzung zu seinen Nachbarn bemüht; in Kroatien lässt sich ein spürbarer konservativer Backlash sowie die nachträgliche Verharmlosung des während des Zweiten Weltkriegs eingesetzten faschistischen Marionettenstaats beobachten; Serbien rehabilitiert seine Nazi-KollaborateurInnen, während im ethnisch hoffnungslos zerstrittenen Bosnien keine politische Handlung auf der Grundlage bürgerlichen Staatsbürgerschaftsrechts möglich erscheint; korrumpierte Politiker und Institutionen sowie ein zunehmender Verlust ihrer Legitimität lassen sich in allen Nachfolgestaaten Jugoslawiens beobachten.

Diese ideologischen Prozesse werden von einer ökonomischen Umstrukturierung begleitet, in deren Zuge Bürger- und Arbeitnehmerrechte dramatisch eingeschränkt werden. Obgleich diese Umstrukturierungen auch im Rahmen globaler Entwicklungen stehen, sind die lokal-historischen Bedingungen in den Blick zu nehmen. Diese hängen stark mit der Tilgung der sozialistischen Erfahrung, der Gleichsetzung von Sozialismus und Nationalsozialismus – auf europäischer Ebene und insbesondere in den Gesellschaften der post-sozialistischen Staaten selbst – sowie mit der Relativierung der historischen und universellen Bedeutung des Antifaschismus zusammen. Die amerikanische Anthropologin Kristen Ghodsee weist auf den Effekt hin, den die Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Kommunismus auf europäischer Ebene nach sich zieht: Sie ist eng verbunden mit und wird zusätzlich beschleunigt von der ökonomischen Krise in Europa.

Den im Jahre 2008 vom Parlament in Brüssel ausgerufenen »Europäischen Tag zum Gedenken an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus« nahmen viele post-sozialistische Länder zum Anlass, Mahnmale für alle Opfer totalitärer Regime zu errichten sowie Museen und andere Institutionen zur Erforschung dieser Regime aufzubauen. Diese Entwicklungen sollten vor dem »Hintergrund wachsender sozialer Proteste gegen die globale Finanzkrise und die Instabilität der Eurozone in Griechenland und Spanien« und »im Kontext regionaler Ängste vor einer wiedererstarkenden Linken betrachtet« werden.[3]

Dieser Artikel hebt die enge Verbindung zwischen revisionistischen Prozessen, wirtschaftlicher Verarmung und der Art und Weise, wie »Europa« die Gesellschaften Ex-Jugoslawiens in den Beitrittsverhandlungen behandelt hat, hervor. Die in den Gesprächen von Seiten der europäischen Union vorgenommene Darstellung vom Sozialismus als ein explizit nicht europäisches Erbe machte es den Bürgern nahezu unmöglich, sich bei politischen Forderungen für Gegenwart und Zukunft auf ihre sozialistische Vergangenheit zu berufen. Dadurch verlor Europa das Potential einer emanzipatorischen Idee, auf die sich die Bürger, progressive Individuen und Gruppen positiv beziehen konnten. Stattdessen ergab sich eine unheilvolle Allianz aus den Handlungen und Debatten der europäischen Institutionen und den nach wie vor nationalistisch gesonnenen Eliten der post-jugoslawischen Gesellschaften.

Ein Unort: Vom politischen Polygon zur Wüste des Post-Sozialismus

Die sozialistische Vergangenheit und die verheerende ethnische Gewalt, die die Auflösung Jugoslawiens in den 1990er Jahren begleitete, zog eine abermalige Verstärkung paternalistischer und kolonialartiger Haltungen nach sich. In dieser wird der Balkan von Europa als ein innerer, an der Peripherie gelegener Fremdling wahrgenommen, der beaufsichtigt, verwaltet und ständige Unterstützung aus den europäischen Zentren der Macht erhalten muss. Die Auffassung, nach der der Balkan eine Form der kolonialen Verwaltung benötige, um Frieden und die Entwicklung des gesamten europäischen Kontinents zu gewährleisten, spiegelte sich ab Anfang der 1990er Jahre vielfältig in wissenschaftlichen Beiträgen und auch pseudo-akademischer Literatur wieder. Der Kanadier Michael Ignatieff beispielsweise identifizierte die Abwesenheit bedeutender Grossmächte auf dem Balkan als einen Grund für die dortigen Konflikte: »Die Bevölkerung des Balkans sieht sich der Situation ausgesetzt, keinen Schlichter imperialer Grösse zur Verfügung zu haben, an den sie sich wenden können. So nimmt es nicht wunder, dass sie, vollkommen enthemmt durch das Fehlen einer übergeordneten Macht, selbst miteinander abrechneten; was ihnen zuvor durch die Gegenwart des Grossreichs versperrt war.«

Robert Kaplan hält in seinem Buch Balkan Ghosts (1993) fest, dass »nur westlicher Imperialismus – obgleich nur wenige sich mit der Bezeichnung werden anfreunden können – den europäischen Kontinent einigen und den Balkan vorm Chaos bewahren kann.« Diese Einstellung gegenüber den post-jugoslawischen Ländern wurde aufrechterhalten durch zwei dominante Bilder: Eines zeichnet diese Gesellschaften als leere Gebilde (»polygons«), in denen allerlei politische, staatliche und soziale Experimente durchgeführt werden können; das andere begreift Gesellschaften und Bürger als unreife Kinder, deren Unfähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und vernünftige Entscheidungen zu treffen, Führung, Belehrung und dauernde Kontrolle erfordert.

Das von der »internationalen Gemeinschaft« im Nachgang der Konflikte der 1990er Jahre gewählte Herangehen verstand sich explizit als mission civilisatrice: Die RepräsentantInnen verstanden ihre Massnahmen als Beitrag, den ehemaligen jugoslawischen Staaten Demokratie und Respekt vor dem Gesetz beizubringen. Der Demokratisierungsprozess erforderte eine Art kolonialer Verwaltung und wurde als Voraussetzung für die Europäisierung dieser Länder betrachtet. Als »neue« und »leere« Räume wurden sie als Experimentierfelder betrachtet, in denen der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft »von Grund auf« erprobt werden könne. Das grösste dieser Experimente ist der Prozess des so genannten Übergangs, der als schier endloses Experimentieren in politischen, sozialen und ökonomischen Feldern betrachtet werden kann.

Die EU mit ihrer »transformierenden Kraft« ist der entscheidende Akteur dieses Experiments. Gemeinsam mit anderen internationalen Organisationen, wie der Welthandelsorganisation und dem Internationalen Währungsfond, leitete die EU den Transformationsprozess vom Post-Sozialismus hin zum neoliberalen Paradigma der Privatisierung, der Deregulierung und des freien Markts mit einem Minimum an staatlicher Präsenz. Solche EU-geführten Prozesse zeitigten auf dem Balkan vielfach ungewollte Konsequenzen. Sie legitimierten lokale politische Eliten, die »in räuberischer Manier staatliches Vermögen abzogen« und die die schwerwiegenden neoliberalen Reformen als Notwendigkeit der EU-Beitrittsverhandlungen verkauften.[4]

So zeigen beispielsweise die Untersuchungen des Anthropologen Slobodan Naumovic über die Umwälzungen des Agar-Sektors in Serbien wie Europäisierung in diesem Rahmen nicht nur Rationalisierung und Intensivierung der Produktion, sondern auch Landnahme, systematische Korruption sowie die Beschränkung des Zugangs zu natürlichen Ressourcen und Agrarland nach sich zogen. Der »historische Sieg« von riesigen landbesitzenden Unternehmen war die zentrale Errungenschaft dieses Prozesses der Europäisierung.[5]

Die Menschen in den postjugoslawischen Gesellschaften werden von den Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft nicht nur als Volk ohne Geschichte adressiert, sondern auch als eines ohne Unabhängigkeit und mit nur eingeschränkter Fähigkeit rationaler Entscheidungskraft. In einem Interview illustrierte Slavoj Žižek diese Haltung mit einem Beispiel aus dem Kosovo, wo eine internationale Kampagne für Toleranz zwischen SerbInnen und AlbanerInnen mit einer Plakataktion warb, auf der unter dem Bild eines Hundes und einer Katze zu lesen war: »Wenn sie zusammenleben können, warum solltet ihr es nicht schaffen?«

Die als leere Gebilde, als »polygons« gedachten Staaten wurden im Verlauf des beinahe 20 Jahre währenden »Übergangs« weiter in die Armut getrieben und in eine »Wüste des Post-Sozialismus« verwandelt, eine Art Deponie für alles, was Europa selbst nicht auf seinem Grundstück stehen haben wollte. Die Länder wurden eine Pufferzone, um Flüchtlinge aus den Konfliktzonen Syrien, Irak oder Afghanistan aus der EU herauszuhalten, und ein Ort, um Industrien aufzubauen, die ernsthafte ökologische Schäden für die lokale Bevölkerung bedeuten und in denen sie zugleich für niedrige Löhne, oftmals schwarz, mehr Stunden schuften durften, als es das Arbeitsrecht je erlauben würde.

In den Diskursen über ihren Beitritt zur EU werden die ehemaligen jugoslawischen Gesellschaften oftmals als Kinder und Studenten dargestellt, die ihre Hausaufgaben erfüllen müssen und die für ihre Leistungen benotet werden. Solcherlei Bilder reproduzieren und legitimieren die paternalistische Haltung der EU: Kinder können für Handlungen nicht vollkommen verantwortlich gemacht werden; sie verhalten sich irrational und benötigen entsprechende Unterstützung, Aufsicht und Erziehung. Boris Buden stellt heraus, dass der in diesem Bild angelegte Ausdruck von den »Kindern des Kommunismus« keine Metapher darstellt, sondern das Symptom einer Vorstellung ist, in der der »Übergang zur Demokratie« als radikaler Wiederaufbau bei Null beginnt. Buden weist ferner auf das Paradox hin, welches »den Jargon des postkommunistischen Übergangs ausmacht: Diejenigen die ihre politische Reife in den so genannten ›demokratischen Revolutionen‹ von 1989–90 bewiesen, wurden danach, quasi über Nacht, zu Kindern gemacht.« Dieses Paradox basiert auf der »zynischen Idee, dass die Menschen, die ihre Freiheit durch eigenen Kampf erlangten, nun lernen müssen, sie ordnungsgemäss zu geniessen.«[6]

Diese in den europäischen Machtzentren von Politikern der Mitgliedstaaten und EU-Offiziellen dominierten Diskursmuster und Bilder des Balkans werden von den Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawien internalisiert und von den lokalen Eliten als machtvolle Mittel angewendet, um die Beziehungen zur EU neu zu definieren. In den Ländern des Balkans, die bereits Mitglied der EU oder auf gutem Wege zum Beitritt sind, bedienen die Machthaber Argumentationen, die identisch sind mit jenen, denen sie selbst ausgesetzt waren oder sind. Sie bieten in der Regel Hilfe an, was eine Konstante im kolonialen Diskurs ausmacht, drohen aber auch oftmals, den Aufnahmeprozess ihrer Nachbarn zu blockieren oder blockieren ihn tatsächlich, so wie Slowenien es in Aufnahmeverhandlungen mit Kroatien aufgrund von ungeklärten Grenzstreitigkeiten tat; oder so wie Kroatien derzeit die Verhandlungen mit Serbien behindert. Während des durch die Flüchtlingskrise aufkommenden Konfliktes zwischen serbischen und kroatischen Behörden über die Einrichtung der Flüchtlingsroute gab der kroatische Premierminister Zoran Milanovic mehrfach zu Protokoll, dass Kroatien nicht mit Serbien, sondern nur mit Brüssel verhandeln werde. Kroatien, so Milanovic, sei ein Adler, Serbien dagegen eine Fliege, und Adler sprächen nicht mit Fliegen.[7]

Nicht-Zeit: Sozialismus und die Idee von Europa

Das Bild der Gesellschaften im ehemaligen Jugoslawien als leere und verlassene von Kindern bewohnte Länder impliziert, dass dieser Teil Europas über kein Erbe verfügt, welches in gegenwärtige Auseinandersetzungen, Strategien und Visionen über die Zukunft integriert werden kann. In Bezug auf die Debatten um die Mitgliedschaft dieser Gesellschaften in die EU ist Europa als Konzept untrennbar mit der Vorstellung von Zukunft verknüpft. Das lineare Bild der von der Vergangenheit in die Zukunft fliessenden Zeit beschwört eine Idee des Fortschritts, in der alles Vergangene reaktionär, rückwärtsgewandt und unentwickelt ist, während die Zukunft mit der Vorstellung von Entwicklung und Fortschritt assoziiert wird. Solch eine Wahrnehmung wird befördert von Kommentaren in der medialen und politischen Debatte, in der der Beitritt zur EU als »Entscheidung für die Zukunft« und als der »endgültige Bruch mit der rückwärtsgewandten Vergangenheit« gedeutet und mit der Raummetapher, nach der »der Fortschritt auf dem Weg nach Europa liege«, unterstützt wird.

Für beide, europäische Politiker wie lokale politische Eliten, fungiert der Sozialismus als Antipode zur europäischen Identität. Darum wurde der Beitritt von Slowenien 2004 und von Kroatien 2013 als »Heimkehr« nach einer aufgezwungenen, befremdlichen und besser schnell zu vergessenden Episode des Sozialismus verkauft. Die Tilgung jedweder Erinnerung an einen »gelebten Sozialismus« von der Liste des europäischen Erbes zeitigt tiefgreifende Konsequenzen für die ehemaligen jugoslawischen Gesellschaften, wie auch für das europäische Projekt selbst. Die Folgen sind besonders gravierend in den drei Bereichen, die sich für die Zukunft des Projekts als elementar darstellen: die europäische Geschichte der Arbeit und der Raum, den kollektiv organisierte Industriearbeit im Sozialismus in dieser Geschichte einnimmt; die Geschichte linker Ideen und Bewegungen und die Rolle, die der Sozialismus Osteuropas darin spielte; sowie Antifaschismus als ein zentrales europäisches Prinzip und die Bedeutung, die dem Antifaschismus im ehemaligen Jugoslawien und östlichen Europa in der europäischen Geschichte des Antifaschismus zukommt.

Die radikale Industrialisierung und Modernisierung vom vornehmlich ländlichen Jugoslawien während der Ära des Sozialismus[8] war Teil eines breiteren europäischen Modernisierungsprojekts. Für den überwiegenden Zeitraum des 20. Jahrhunderts teilte Europa die Vision einer Zukunft, die mit Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung assoziiert war. Zygmunt Bauman erinnert daran, dass es die Moderne mit ihrer Botschaft der Aufklärung war, in der Kapitalismus und Sozialismus auf »ewiglich miteinander verheiratet« wurden.[9] Charity Scribner diskutiert die Romane von John Berger und Leslie Kaplan, in denen »permanent Parallelen zwischen dem Arbeitsleben in Frankreich und Mitteleuropa, besonders Polen während den Jahren von Solidarnosc gezogen werden.« Scribner zufolge »offenbart eine kritische Lesart ihrer Werke das Ausmass der intellektuellen Verausgabung des Westens in einem idealisierten ›anderen Europa‹ in den 1970er und 80er Jahren« und macht die beiderseitigen emotionale Beteiligung und die Inspiration zwischen Ost und West trotz Trennung durch den eisernen Vorhang deutlich.[10] Allerdings wurde die sozialistische Industrialisierung niemals wirklich in die europäische Arbeitergeschichte aufgenommen und als Teil ihres kulturellen Erbes begriffen.

Die Errungenschaften der sozialistischen Modernisierung – die Anhebung des Lebensstandards, der Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, die Möglichkeit sozialen Aufstiegs, Sozialversicherung und Selbstverwaltung als eine Form politischer Vertretung politischer Subjekte – erweisen sich als überaus relevant in der Bewältigung der gegenwärtigen Krise in Europa. Gleichwohl können die BürgerInnen der post-jugoslawischen Gesellschaften, die selbst Akteure dieser Modernisierung waren, keine Forderung nach Alternativen zum herrschenden neoliberalen Regime vorbringen, da ihre Erfahrungen als illegitim, abweichend, totalitär und lähmend erachtet werden. Die PolitikerInnen der ehemaligen jugoslawischen Gesellschaften schieben die Verantwortung für die desaströse wirtschaftliche Situation auf die BürgerInnen selbst, denen sie Unfähigkeit oder Unwillen vorhalten, sich der neuen, marktorientierten Realität anzupassen, die Eigeninitiative und Eigenverantwortlichkeit erfordert. Gründe für diese Unfähigkeit bzw. den Unwillen »für sich selbst zu sorgen« werden mit dem problematischen Erbe des Sozialismus erklärt, in dem die Menschen dem Glauben anhingen, der Staat oder jemand anderes würde oder sollte für sie sorgen.

Solch eine Sichtweise auf den Sozialismus begünstigt in den post-jugoslawischen Gesellschaften nicht nur die rasante Abwicklung des Sozialstaates – rücksichtslose Privatisierung, Eindampfung von Arbeitnehmerrechten und Beschränkungen zum Zugang von Gesundheitsversorgung und Bildung –, sie dient auch als griffige Erklärung für ganz unterschiedliche Formen reaktionärer politischer Haltungen von den 1990er Jahren bis heute. »Die Kinder des Kommunismus« streben demnach nach autoritären Vaterfiguren, wie sie sie in der Figur von Josip Broz Tito während des jugoslawischen Sozialismus vorfanden. In ähnlicher Weise wird die gelebte Erfahrung des Sozialismus durch das Label des Totalitarismus von der Geschichte der Linken im lokalen, europäischen und globalen Massstab ausgeschlossen. Auf lokaler Ebene werden Spuren dieser Geschichte durch die Umbenennung von Strassen, Schulen und anderen Institutionen, durch eine radikale Umgestaltung der schulischen Curricula und der Gedächtnislandschaft marginalisiert oder ausradiert.[11] Aussenstehende Beobachter der Region interpretieren die emotionale Verbundenheit zur linken, internationalistischen und antifaschistischen Erfahrung oftmals zu leichtfertig als eine eigentümliche Pflege einer Jugo-Nostalgie und eines Persönlichkeitskultes um Josip Broz Tito.[12]

Neuere linke Initiativen knüpfen ebenfalls nicht an diese Erfahrung an, sondern vermeiden sie eher als Bezugspunkt, womit sie zugleich die notwendige Auseinandersetzung mit der lokalen Geschichte des Sozialismus umgehen. Indem die Neue Linke sich vom Sozialismus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts distanziert, trägt sie paradoxerweise zur sozialen Einschläferung bei, die die Grundlage für die Ideologie des Übergangs bildet und die das ehemalige Jugoslawien in eine Wüste des Post-Sozialismus verwandelt: »Soziale Widersprüche des Post-Kommunismus, wie die wachsend Kluft zwischen Arm und Reich, der Abbau jedweder Formen sozialer Solidarität, enorme soziale Ungleichheit – sie alle bleiben unangetastet. (…) Diese soziale Anästhesie ist eines der auffälligsten Symptome der post-kommunistischen Transformation.[13] «Auch der antifaschistische Kampf während des zweiten Weltkrieges kann nicht abgetrennt werden von dem sozialistisch-föderativen Staat, der zwischen 1943 und 1991 existierte. Aus diesem Grund bedeutet die auf europäischer Ebene vorgenommene Reduktion des Sozialismus auf ein totalitäres Regime zugleich die Marginalisierung des jugoslawischen Antifaschismus. Dies wiederum gibt den fortwährenden revisionistischen Tendenzen in der Region auftrieb, in denen die Rolle von Opfern und TäterInnen, AntifaschistInnen und KollaborateurInnen relativiert werden.

Dieser tiefgreifende Prozess des Revisionismus muss allerdings in einen grösseren europäischen Kontext gestellt, in dem Kommunismus und Nationalsozialismus miteinander gleichgesetzt werden. Die Europäisierung der ehemaligen sozialistischen Gesellschaften wird in grossem Masse ideologisch durch diese Gleichsetzung und den sie begleitenden historischen Revisionismus vollzogen. In diesem Zusammenhang steht auch die übermässige Emphase, mit der den Opfern des Kommunismus, ihren Geschichten und Erinnerungen begegnet wird, während die Erinnerungen an das Leben, die Arbeit und den Alltag im Sozialismus marginalisiert und als illegitim, verzerrt, problematisch und schliesslich »nicht-europäisch« abgetan werden. Zugleich hat sich das »Kern-Europa« niemals ernsthaft mit den von ihm begangenen Gewalttaten und wirtschaftlichen Verbrechen auseinandergesetzt: »Mit partiellen Ausnahmen für den Holocaust haben europäische Staaten wenig Aufklärung hinsichtlich ihres eigenen Erbes von Misshandlung und Unrecht betrieben, die in Europa und den Kolonien mit Krieg und autoritärer Herrschaft verbunden waren.«[14]

Derlei Konstellationen lassen die Auseinandersetzung in post-sozialistischen Gesellschaften mit den Verbrechen des Sozialismus als Normalität erscheinen, während alle anderen notwendigen und emanzipatorischen Aufarbeitungsprozesse unterbunden werden. Dies wiederum spielt den Zielen von örtlichen Nationalisten und RevisionistInnen in die Hände.

Das sozialistische Experiment und die Zukunft Europas

Trotz der radikalen Tilgung der sozialistischen Erfahrung von der historischen, politischen, ökonomischen und kulturellen Landkarte Europas und ihrer Reduzierung auf einen »totalitären Sozialismus« zeigt ein genauerer Blick auf die Art und Weise, wie die BürgerInnen in den ehemaligen jugoslawischen Staaten ihre alltägliche, ökonomische und politische Realität bewältigen, dass sie Europa eher als ihre sozialistische Vergangenheit denn als Zukunft wahrnehmen. Dem serbischen Anthropologen Ildiko Erdei zufolge gab es eine aufkommende »Denkrichtung, die, obgleich es ihr auf diskursiver Ebene noch an Kohärenz mangelt, eine zunehmend bemerkenswerte Art des Denkens über die sozialistische Vergangenheit Jugoslawiens reflektiert, in der Fragen jugoslawischer Moderne und seiner Zugehörigkeit zu Europa diskutiert wurden, lange bevor der EU-orientierte Prozess begann.«[15]

Die Wiederbelebung des sozialistischen Erbes Jugoslawiens tritt in vielen politischen und kulturellen Praxen zutage und ist eng mit einem Beharren auf universelle Werte wie Solidarität, Antifaschismus, Gemeinsinn, gleichen Möglichkeiten, soziale Absicherung und Widerstand gegen jedwede Form der Unterdrückung verbunden. So gibt es beispielsweise eine Reihe selbstorganisierter Chöre über die Länder des ehemaligen Jugoslawiens verteilt, in denen antifaschistische und Partisanenlieder wie auch andere Stücke aus dem Widerstand und der Zeit des Sozialismus gesungen werden. Diese Chöre treten in vielen Bürgerprotesten auf, deren Zahl sich in der letzten Zeit enorm erhöht hat. Im Jahre 2014 traten zahllose people's assemblies nach Protesten in Bosnien und Herzegowina auf den Plan. Diese assemblies waren der erste wahrnehmbare Versuch, eine Zivilgesellschaft zu begründen, nachdem mehr als zwei Jahrzehnte eine Politik entlang ethnisch definierter Grenzen verfolgt wurde.

Assemblies verweisen schon mit ihrem Namen auf den Verlust von Kollektivität und gemeinsamer Repräsentation, wie sie in der sozialistischen Ära üblich waren, jedoch im Transformationsprozess entsorgt wurden. Und als im Mai 2014 Serbien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina von einer verheerenden Flut getroffen wurden, war die Reaktion der Menschen aus dem gesamten ehemaligen Jugoslawien überwältigend. Diese Einigkeit in Anteilnahme und Solidarität wurde von zahlreichen Verweisen auf das Erbe des sozialistischen Jugoslawiens begleitet. Viele Junge und Alte wiesen in sozialen Medien auf die Bedeutung des Trainings im Schulfach »Verteidigung und Sicherheit« im sozialistischen Jugoslawien hin, das kurz nach dem Ende des Sozialismus mit dem Verweis, dass es sich dabei um ein ideologisches Relikt eines totalitären Regime handelte, abgeschafft wurden. Noch bevor sich das Wasser in Gänze zurückgezogen hatte, fanden sich die Freiwilligen zum Aufräumen der Schäden in »Arbeitsbrigaden« zusammen – ebenfalls eine Anspielung auf das sozialistische Jugoslawien.

Diese in den Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawien vorherrschende Verbindung zwischen Geselligkeit, Erfahrung, historischem Erbe und dem proaktiven und kollektiven Engagement der BürgerInnen verdient ernsthafte Aufmerksamkeit. Erstens weist es darauf hin, dass das sozialistische Erbe für die Menschen einen integralen Bestandteil ihrer Forderungen und Sehnsüchte ausmacht. Im Bestehen auf die sozialistische Erfahrung kommt ein Bedürfnis nach Repräsentation, Autonomie und Moral zum Tragen, in dem eine Alternative zu dem extrem beschränkten Horizont von Möglichkeiten aufscheint, der durch das Zusammenspiel von lokalem Ethno-Nationalismus und dem globalen Regime der wirtschaftlichen Erschöpfung gezeichnet ist.

Zweitens äussert sich darin eine Wiederbelebung linker und sozialistischer Ideen als Antwort auf die sich zuspitzende Krise des Kapitalismus. Aus diesem Grund weist die Bedeutung des sozialistischen Erbes Jugoslawiens auch über Jugoslawien selbst hinaus. Weil es untrennbar mit den Werten verbunden ist, die die Vorstellung einer Zukunft mit intergenerationeller und universeller Solidarität, Verantwortung und Gemeinsinn, der Anerkennung von Arbeit und individueller wie kollektiver Autonomie wachzuhalten, ist das sozialistische Erbe Jugoslawiens nicht nur für seine BürgerInnen, sondern auch für Europa von Bedeutung.

Mehr als 20 Jahre, nachdem der Liberalismus den Sieg über den Sozialismus erklärte, befindet sich Europa in einer Krise, die weit über die bloss wirtschaftliche hinausreicht. In Zeiten, in denen Tausende von Flüchtlingen in improvisierten Lagern an den Grenzen Südeuropas festsitzen, in denen Mitgliedstaaten sich mit Mauern und Stacheldraht abzuschotten suchen, Millionen von Menschen jenseits eines würdevollen Daseins leben, neue Formen des Faschismus quer über den Kontinent verteilt aufkommen und alte Formen relativiert oder wiederbelebt werden, bleiben Ideen von Solidarität, Gemeinsinn und Antifaschismus, die die ehemaligen Jugoslawen immer noch eng an ihre sozialistische Erfahrung binden, für jegliche Vorstellungen einer europäischen Zukunft unabdingbar.

Tanja Petrovic
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 53
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] Etienne Balibar, We the people of Europe?, Princeton/Oxford 2004, 6.

[2] Siehe z.B. Enzo Traverso, The end of Europe, http://0cn.de/9jod.

[3] Kristen Ghodsee, Tale of »Two Totalitarianisms«: The Crisis of Capitalism and the Historical Memory of Communism, in: History of the Present: A Journal of Critical History 2014, 4 (2), 115–142.

[4] Igor Štiks / Srecko Horvat, Radical politics in the desert of transition, in: Srecko Horvat / Igor Štiks (Hg.), Welcome to the Desert of Post-Socialism: Radical Politics after Yugoslavia, London 2015, 1–17.

[5] Slobodan Naumovic, Fields of Paradox: Three Case Studies on the Europeanisation of Agriculture in Serbia. University of Belgrade, Faculty of Philosophy – SGC, Belgrade 2013.

[6] Boris Buden, Zone des Übergangs: Vom Ende des Postkommunismus. Frankfurt a. M. 2009.

[7] Siehe http://0cn.de/glsd, veröffentlicht am 18. September 2015.

[8] Die Frage der Industrialisierung auf dem Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens ist aus wenigstens zwei Gründen von Bedeutung: Erstens, weil Industrialisierung und Modernisierung in Jugoslawien nahezu ausschliesslich sozialistische Projekte waren. Die Modernisierung der jugoslawischen Gesellschaft wurde vornehmlich durch die Aufgabe der Agrarwirtschaft und Industrialisierung erreicht, weshalb Jugoslawien sich von anderen Ländern mit einer schon etablierten Kultur der Arbeiterklasse unterschied. Zweitens, weil die Rolle der Arbeiter in Jugoslawien eine zentrale Rolle in der Herausbildung einer kosmopoliten, internationalistischen, modernen und übernationalen Identität der Jugoslawen in der sozialistischen Ära war – dieses Selbstbild wurde von den nationalistischen Eliten in den post-jugoslawischen Gesellschaften stark zurückgewiesen. Die Trümmer der industrialisierten Ära mit einem starken Bezug zum Sozialismus rufen Möglichkeiten für die Aushandlung von Identitäten wach, die sich jenseits von ethnischen und religiösen Zuschreibungen bewegen, die momentan die Gesellschaften des ehemaligen Jugoslawiens durchziehen.

[9] Zygmunt Bauman, Intimations of Postmodernity, New York 1992, 222.

[10] Charity Scribner: John Berger, Leslie Kaplan, and the Western Fixation on the »Other Europe«, in: Inszenierung des kollektiven Gedächtnisses: Eigenbilder, Fremdbilder, Innsbruck et al. 2002, 239.

[11] Zur Marginalisierung oder Ausradierung des sozialistischen Erbe Jugoslawiens aus dem öffentlichen Raum siehe, Srdan Radovic, Grad kao tekst. XX vek Belgrade 2013; für Belgrad und Dragan Markovina, Izmedu crvenog i crnog: Split i Mostar u kulturi sjecanja, Plejada – Zagreb – Sarajevo, 2014 für Mostar und Split.

[12] Siehe z.B. http://0cn.de/j38x.

[13] Buden, Zone des Übergangs, Frankfurt a.M. 2009.

[14] Iavor Rangelov / Marika Theros / Nataša Kandic, Justice for atrocity and economic crimes: can the EU deliver?, http://0cn.de/d2et, 25. Mai, 2016. Siehe auch Tanja Petrovic, Thinking Europe without thinking: Neo-colonial discourse on and in the western Balkans, http://0cn.de/kxhs.

[15] Ildiko Erdei, IKEA in Serbia: Debates on Modernity, Culture and Democracy in the Pre-accession Period, in: Mirroring Europe: Ideas of Europe and Europeanization in Balkan Societies. Brill/Boston 2014, 114–134, hier 122.