Besetzte Häuser und gemeinsame Organisierung mit Geflüchteten „Refugees welcome“ auf Griechisch

Politik

Im Zuge der Fluchtbewegungen in den vergangenen Jahren zeichnen sich vielerorts in Europa vergleichbare Szenarien ab. Geflüchtete Menschen sehen sich häufig mit katastrophalen Lebensbedingungen konfrontiert.

Flüchtlinge auf einem Platz in Athen.
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Flüchtlinge auf einem Platz in Athen. Foto: Freedom House (PD)

2. Februar 2017
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Sie müssen in illegalisierten Camps oder unter menschenunwürdigen Zuständen in staatlichen Aufnahmelagern leben, oft sind sie der (faktischen) Wohnungslosigkeit ausgeliefert. Aufgrund der Privatisierung sozialer Dienstleistungen verdienen dubiose Vermieter*innen bzw. private Träger viel Geld mit der Unterbringung von Menschen, die teilweise eher einer „Lagerung“ ähnelt. Gleichzeitig wird gerade in urbanen Zentren die Ware Wohnraum als beliebtes Ziel kapitalistischer Spekulation immer teurer und damit verknappt. Daher verwundert es wenig, dass die Wohnungsfrage auch in antirassistischen Diskursen immer wieder aufgeworfen wird.

In Athen sind die Auswirkungen der beschriebenen Prozesse im Strassenbild allgegenwärtig. Es müssen tausende illegalisierte Menschen, darunter viele Minderjährige, auf den Strassen übernachten. Allerdings gibt es in Griechenland einige lokale Ansätze, die Wohnungsfrage für Geflüchetete ganz praktisch anzugehen. Häuser werden von Geflüchteten und Unterstützer*innen besetzt und die Bewohnenden in lokale politische Kämpfe eingebunden. In der Nähe eines zentralen Platzes im Athener Stadtteil Exarchia, der bis heute Ausgangs- und Austragungsort vieler linkspolitischer Kämpfe ist, treffen wir auf einen Genossen [Name wird auf ausdrücklichen Wunsch nicht genannt]. Er ist seit anderthalb Jahren bei Refugee-Support-Aktionen aktiv und erklärt uns die Hintergünde seines Engagements.

In den vergangenen Jahren hat Griechenland eine zahlenmässig grosse Migrationsbewegung erlebt. Das Land war für viele Geflüchtete jedoch weniger Endpunkt als vielmehr „Tor nach Europa“. Im Zuge einer immer weiter zunehmenden Militarisierung der EU-Aussengrenzen sowie des schmutzigen EU-Türkei-Deals wird die Weiterreise momentan allerdings weitgehend verunmöglicht. „Am Anfang hat ein grosser Teil der Bevölkerung die Geflüchteten unterstützt. Dies nahm jedoch rapide ab, als klar wurde, dass sie vorerst hier bleiben müssen“, leitet der Genosse ein. Nach der Schliessung der sogenannten „Balkanroute“ im vergangenen Jahr sind zwischen 50.000 bis 60.000 Menschen noch immer in Griechenland „gefangen“. Zunehmende Frontex-Einsätze im Mittelmeer sowie die Schliessung der Grenzen zu Mazedonien und Bulgarien für Geflüchtete lassen Perspektiven schwinden. „Sie sind praktisch in der Falle. Sie möchten eigentlich gar nicht hier bleiben, sondern nach Deutschland, Grossbritannien oder Schweden“, erklärt er die derzeitige Situation.

Gerade im Jahr 2016, als tausende Menschen am Athener Victoria Square „gestrandet“ waren und illegalisiert in Zelten schlafen mussten, suchten lokale Genoss*innen Kontakt zu ihnen. „Unsere Idee war dabei nicht nur Wohnraum zu schaffen, sondern aktiv die Selbstorganisierung zu unterstützen. Wir organisierten offene Versammlungen in den Stadtteilen und Hausprojekten, um die Lebensumstände der Geflüchteten zu verstehen und sie politisch einzubinden. […] Wir wollen kein Hotel sein. Wir möchten politische Ideen entwickeln, die entsprechenden Positionen verstehen und uns selbst organisieren. In den meisten [besetzten] Häusern wird nur gewohnt. Die Squats sind meist Orte für Essen und Unterkunft. Wir wollen jedoch etwas anderes.“

Leider ruft eine solche sich entwickelnde politische Bewegung von unten aus politischen Aktivist*innen mit verschiedenen Herkünften oft die staatlichen Repressionsorgane auf den Plan, wie der Genosse mit Verweis auf den 27. Juli 2016 erzählt. An diesem Tag wurden in den Morgenstunden drei kollektiv besetzte und bewohnte Häuser in Thessaloniki [„Orfanotrofeio“, „Nikis“ und „Hurriya“] von der griechischen Polizei angegriffen und geräumt. Im Anschluss wurden die Gebäude sofort mit Bulldozern eingerissen und dem Erdboden gleichgemacht. Ein solche Polizei-Strategie lässt Parallelen zum Vorgehen türkischer Polizei- und Militärkräfte erkennen. [1] Es ist wohl kaum ein Zufall, dass all dies nur zehn Tage nach der Räumung des Idomeni-Camps an der mazedonischen Grenze geschah. Neben den menschenverachtenenden Zuständen auf diesem Camp mit mind. 15.000 unfreiwilligen Bewohner*innen, war es im Sommer immer wieder Ausgangspunkt massiver Proteste gegen die Grenzschliessungen für Gefüchtete.

In Athen hielten sich die ausserparlamentarischen und staatlichen Schlägerbanden demgegenüber weitgehend zurück. Allerdings wurde das erste Hausprojekt dieser Art, das „Notara 26“, im August des vergangenen Jahres Ziel einer nächtlichen Molotow-Attacke von Faschisten. Von staatlicher Seite gibt es zwar zahlreiche Ermittlungsverfahren und Einschüchterungsversuche. Doch diese können nicht verhindern, dass „alte“ und „neue“ Bewohner*innen Griechenlands weiterhin gemeinsam und solidarisch für eine Stadt von unten kämpfen.

„Viele Leute haben wir im Frühling in Piräus getroffen [Hafenstadt südwestlich von Athen]. Dort lebten über 7.000 Personen in schlechten Zuständen. Wir sagten ihnen: ‚Kommt mit, wir nehmen uns ein paar Gebäude.' Wir haben sie mitgenommen und in unsere politische Prozesse, Versammlungen eingebunden. […] Hier sind sie sicherer vor Nazi-Übergriffen und der Polizei. Diese kommen für gewöhnlich nicht in Exarchia rein.“

Derzeit sind allein in Athen mehr als 10 Häuser besetzt; einige davon „still“. Insgesamt sollen rund 1.500 Personen durch Besetzungen eine würdigere Unterkunft gefunden haben. In diesem Zusammenhang wird auch die unmittelbare Nachbarschaft miteinbezogen und in die Verantwortung genommen. Mit Spendenaufrufen für Decken, Kleider und Lebensmittel soll sie an die Hausprojekte und ihre Bewohner*innen angebunden werden.

Von den kollektivierten Häusern gehen selbstverständlich politische Kämpfe aus. „Wir haben im letzten Jahr drei Demos in der Region Attika [Metropolregion Athen und darüber hinaus] mit den Betroffenen organisiert. Zudem wird ein Netzwerk aufgebaut mit Leuten in anderen Camps,“ stellt der Athener Genosse dar. Dennoch bleibt es schwierig, Leute über Besetzungen und Proteste dauerhaft zu organisieren und an eine praktische Politik zu binden, fügt er hinzu. Denn viele wollen gar nicht in Griechenland bleiben, sondern weiter gen Norden gehen, um für sich eine ökonomische Perspektive finden zu können.

Der Aufbau entsprechender politischer Support-Strukturen ist nicht einfach. Schon allein weil alteingesessene anarchistische Aktivist*innen eben nicht „vom Himmel fallen“. Inwieweit Organisierung als vielschichtiger Prozess zu begreifen ist, hat die Bedeutung des Zeitschriftennetzwerkes „APATRIS“ verdeutlicht, welches wir im vorangegangen Artikel vorgestellt haben. Leute aus dem Umfeld der Zeitschrift feilen daran, „Refugee Movements“ aufzubauen. Die Kollektivierung und Instandbesetzung von Häusern gehört in dabei zu den Pionierprojekten.

Im Zusammenhang mit Aufbau solidairscher Strukturen kam das verlassene Hotel „City Plaza“ in der Innenstadt Athens, welches im April 2016 gemeinsam besetzt und betreut wurde, zu einer besonderen Auferksamkeit. Dabei stellt die entsprechende Soli-Gruppe, die Bedeutung von zentralem und kollektiven Wohnen für die Entstehung einer neueren sozialen Bewegung heraus. Die sozialen Bewegungen müssen die Bedürfnisse aller unterdrückten Klassen mitdenken und sich den verschärfend ausgetragenen sozialen Widersprüchen sowie der Klassenpropaganda von oben durch Solidarität und Praxis entgegenstellen.

By squatting an unused hotel we wanted to be paradigmatic. We wanted to stress – as an example – how the social movements and society from below are able to improve the living conditions of the refugees and thus improve the livelihood of all. [2]

Die Erklärungen des Genossen ergänzen die Ausführungen: „Wir haben schätzungsweise 60.000 Geflüchtete im Land. 10.000 befinden sich auf den griechischen Inseln, 20.000 in der Region Attika, 20.000 in Thessaloniki sowie 10.000 in Thrakien an den Grenzen zur Türkei und Bulgarien. […] Wir wollen den Gedanken der Selbstverwaltung weitertragen und nicht hier in Athen stehenbleiben.“

Auch wenn in Städten mit starken anarchistischen und libertären Gruppen eine neue politische Dynamik entstanden ist, sind die Verhältnisse in vielen anderen Regionen des Landes prekär. Im vergangenen Sommer, so erklärt er uns, haben Aktivist*innen die Isolationszäune der staatlichen Aufnahmelager auf einigen der Ägäischen Inseln überwunden und Kontakt mit dort festgehaltenen Geflüchteten geknüpft. Er nennt das Moria-Camp auf der Insel Lesbos, welches seiner Meinung nach zu den schlimmsten des Landes gehört. Nach der Verteilung der Zeitschrift „APATRIS“ sollen sich Insassen aus Eritrea dort zu einem Hungerstreik ermutigt gefühlt haben. Im Sommer brannte ein Grossteil der dort festsitzenden 4.000 Leute das Lager als Protest gegen die unhaltbaren hygienischen und Versorgungszustände ab. Statt sich auf den Staat zu verlassen, wird die Selbstorganisierung als Gegengewicht zur staatlichen Gewalt und rassistischen Ausgrenzung propagiert und so zur Praxis ermutigt. Diese Strategie soll mit der kommenden erweiterten zweiten Ausgabe in vier Sprachen (englisch, französisch, arabisch und farsi) weiterverfolgt werden.

Während der Genosse von der Unterstützung kämpfender Geflüchteter durch anarchistische Genoss*innen berichtet, fällt ein Name stets in einem besonders negativen Kontext: Chios. Auf der Insel in der nördlichen Ägäis, vor der Küste der Türkei gelegen, gibt es zwei Camps, die weder fliessend Wasser noch Strom haben. Doch im Gegensatz zu anderen grösseren Ägäischen Inseln existiert keine anarchistische Struktur vor Ort.

Allerdings gibt es auf dieser von etwas mehr als 50.000 Menschen bewohnten Insel eine Art griechisches Äquivalent zu den lange Zeit in der BRD virulenten „Nein-zum-Heim“-Protesten. Obwohl die faschistische „Chrysi Avgi“-Partei [„Goldene Morgenröte“] keine grosse personelle Basis vor Ort hat, ist ihre rassistische Agenda längst akzeptiert. Ganz nach dem Motto: „Ich bin ja kein Chrysi-Avgi-Anhänger, aber..“

Im Zuge der Demonstrationen, an denen bis zu 2.000 Personen teilnahmen, gab es nicht nur verbale Brandstiftungen. Vor den Camps patroullieren faschistische Milizen, um die Bewohnenden einzuschüchtern. Viele trauen sich inzwischen kaum aus ihren Unterkünften, da es immer wieder zu rassistischen Attacken kommt. Erst am 17. November 2016 griffen Faschisten eines der Lager mit Molotow-Cocktails an. [3] Als klassische Schlägertruppe für die priviligierten Klassen [Chios gehört zu den wohlhabendsten Regionen des Landes], terrorisieren die Faschisten die wenigen lokalen Aktivist*innen sowie die Lager-Bewohner*innen. Ihre Hetze erfährt dabei eine deutliche rhetorische Rückendeckung von oben. „Entweder die Lager verschwinden von Chios, oder …“, drohte bereits der Bürgermeister und liess mögliche Folgen bewusst offen. Die sich entwickelnde Pogromstimmung wird somit ganz offiziell unterfüttert.

Während in Athen, Thessaloniki und anderen Städten Raum und Zeit für Selbstorganisierungsansätze geschaffen wird, müssen die Genoss*innen auf Chios mit bitteren Abwehrkämpfen vorerst das Schlimmste abwenden. Auf die Frage nach praktischen Unterstützungsmöglichkeiten antwortet der Genosse: „Wir brauchen Unterstützung aus Athen. Die meisten Leute wissen nichtmal, was auf dieser Insel passiert. Wir stellen derzeit rechtliche Unterstützung zur Verfügung. Wir müssen nun aber auch Leute dorthin mobilisieren. Wir brauchen eine Kampagne gegen diese Insel: die Zustände klar machen und Druck ausüben.“

Felix Protestcu / lcm

Fussnoten:

[1] eine empfehlenswerte Solidaritäts-Kampagne sowie Spendenaufruf der Roten Hilfe: „You can't evict solidarity“, anlässlich der Repressionsfälle in Thessaloniki:

[2] eine beispielhafte Erklärung zur Besetzung und der Bedeutung des „City Plaza“ kann hier nachgelesen werden (engl.)

[3] Der 17. November dient als Nationalfeiertag in Erinnerung an den Aufstand am Athener Polytechnio [Technische Universität] im Jahr 1973 gegen die amtierende faschistische Militär-Junta. Weitere ausführliche Informationen zum sogenannten „Obristen-Regime“: https://www.widerstand-und-repression-in-griechenland.de/hinter/diktatur/griechische-militaerdiktatur-ueberblick.html