Stellungnahme eines französischen Anarchisten zur vermeintlichen Entscheidungsfrage bei der Präsidentschaftswahl In der EU bleiben oder rausgehen? Ist das die Frage?

Politik

In der Stichwahl des 7. Mai 2017 standen sich in Frankreich mit Emmanuel Macron ein neoliberaler Europa-Befürworter und mit Marine Le Pen eine faschistische Europa-Gegnerin gegenüber. Doch schon vor der ersten Runde war auch der linkssozialistische Jean-Luc Mélenchon lange Zeit für einen Europa-Austritt Frankreichs ("Frexit") eingetreten, bevor er diese Position erst in den letzten Wochen vor dem ersten Wahlgang am 23. April aufgeweicht hat. Zu dieser Frage nimmt hier ein Anarchist aus der Fédération anarchiste Stellung.

Skulptur „Zwei Pferde für Münster“ (Stephan Huber, 2002).
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Skulptur „Zwei Pferde für Münster“ (Stephan Huber, 2002). Foto: Dietmar RabichWikimedia Commons„Münster, LVM, Skulptur -Zwei Pferde- -- 2017 -- 6297“ (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. Juni 2017
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Korrektur
Bei dieser Präsidentschaftswahl wurde uns an den Kopf geworfen, dass sich die bedeutendste Scheidelinie zwischen BefürworterInnen des Austritts aus der Europäischen Union (EU) und denen, die drinbleiben wollen, auftue.

Es ist richtig, die europäische Bürokratie und ihren Wirtschaftsliberalismus, der die öffentlichen Dienste ruiniert, zu denunzieren - aber inwiefern würde der französische Kapitalismus (dessen agroindustrielle Firmen, ihre Autobauer, ihre Waffenindustrie oder ihre andere Länder plündernden Energieproduzenten/-versorger), unterstützt vom französischen Staat (dessen Minister und der Präsident die Aussendienstmitarbeiter dieser Grossunternehmen sind, deren Handelsvertreter regelmässig bei den Staatsbesuchen mit dabei sind), denn die Lage der Ausgebeuteten, der Unterdrückten, der Unterklassen verbessern?

Austritt aus Europa?

Hatte sich etwa in den Zeiten vor der EU der französische Kapitalismus in seinem nationalen Rahmen gegenüber den ArbeiterInnen und der Umwelt besser benommen? Hatte er sie anders ausgebeutet?

Die sozialen Errungenschaften wurden der unternehmerischen und der regierungstypischen Habgier durch den sozialen Kampf abgerungen. Der bezahlte Urlaub, die 40-Stunden-Woche wurden von den Leuten an der Macht nicht etwa freundlich zugeteilt. Die Tarifabschlüsse wurden durch ein Kräftemessen, durch den Streik erreicht.

Seit dem massiven Anstieg der Arbeitslosigkeit in den Siebzigern führen Unternehmertum und Regierung gemeinsam den Kampf für den Rückgang vertraglich festgelegter Garantien in der Arbeitswelt. Die Sozialversicherung wird angegriffen (Zuzahlungen zur gesetzlichen Krankenversicherung; Aufhebung der Kostenerstattung bei Medikamenten; Rückgang des Renteneinstiegsalters; Verringerung des Rentenniveaus usw.). Der Befehl dazu kommt nicht von der EU, sondern ergibt sich aus der Wachstumslogik sehr wohl französischer Profite. Der CAC 40 [Leitindex der 40 führenden, an der Börse notierten frz. Aktiengesellschaften; d.Ü.] verteilt in jedem Jahr mehrere Zehnmilliarden Euros an seine Aktionäre. Das Arbeitsrechtsgesetz [im Frühjahr und Sommer 2016 durchgesetzt von der Hollande-Regierung gegen eine starke Sozialbewegung; d.Ü.] stellt die Grundlagen der bisherigen Arbeitsgesetze infrage, weil es zu Verhandlungen auf der Ebene der Einzelbetriebe (das heisst: das Ausgeliefertsein gegenüber Erpressungsversuchen einzelner Firmenchefs) ermutigt. Die EU unterstützt und empfiehlt solche Arten der Gegenreform.

Doch die Frage nach dem Verbleib in der EU oder dem Austritt aus der EU ist ein falsch verstandenes Problem. Was die Manager oder leitenden Angestellten in europäischem Rahmen oder im Rahmen des souveränen Staats im Namen der Bevölkerung sagen und tun, darauf hat die Bevölkerung selbst kaum noch Einfluss. Die herrschende Klasse (in europäischem, nationalem oder aussereuropäischem Rahmen) ist souverän, aber nicht die "Bevölkerung" im Sinne ihres grössten Teiles, der nicht an den Entscheidungen beteiligt ist. Es gibt da eine Rollenaufteilung zwischen den RepräsentantInnen der EU, den StaatsbürokratInnen, den supranationalen Instanzen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Welthandelsorganisation.

Obgleich sie der Konkurrenz ausgeliefert sind, verständigen sich diese RepräsentantInnen untereinander, damit die Geschäfte rundlaufen und sich weiterentwickeln, zur grossen Zufriedenheit der multinationalen Konzerne - der französischen inbegriffen, gemäss der auf sie zugeschnittenen Gesetzgebung und in ihrem Sinne angepasster Verträge. Diese gesamte kleine Welt will die Profite maximieren und dabei gleichzeitig Revolten der Unterklassen vermeiden, in welchem Bereich auch immer. Hierbei handelt es sich keineswegs um ein "Komplott", sondern um Klassenkampf! Die Nation war nie der Feind des Kapitals gewesen. Sie ist eine List, um den Anschein einer Verbindungslinie zwischen Ausbeutern (Kapitalisten und bürokratischen PolitikerInnen) und Ausgebeuteten (ArbeiterInnen und Arbeitslose) zu erwecken, dadurch aber die Herrschaft der Profite der Erstgenannten besser abzusichern.

Oder Austritt aus dem Kapitalismus?

In Wirklichkeit geht es um die Frage des Austritts aus dem Kapitalismus und dessen staatlich vermittelter Regulationsweise. Die Grössenordnung des kapitalistischen Aquariums ist da von untergeordneter Bedeutung (sei es die Region, der Staat, die EU oder die Globalisierung). So könnten wir also im Ozean leben und schwimmen und uns an den Stränden ausruhen, wann immer wir dessen bedürfen oder Lust dazu haben!

Die hiesigen und die anderen SouveränistInnen aller Gattungen halten uns letztlich alle im kapitalistischen Käfig, in dem wir zu ersticken drohen. Sie sind selbst ein Teil des Systems, weil sie das Privateigentum an Produktionsmitteln, die Profitlogik, die Zielsetzung der Produktion und den Autoritarismus des Staates (Überwachung, Kontrolle, Repression, bewaffnete Streitkräfte auf den Strassen) nicht infrage stellen. Selbst die sich in Händen des Staates befindlichen öffentlichen Dienste sind zum Mittel der Konditionierung und der Kontrolle der Bevölkerung geworden. Es stimmt leider, dass die Direktverwaltung, die Neubestimmung des Zweckes der öffentlichen Dienste durch die ArbeiterInnen und BenutzerInnen nicht gerade auf der unmittelbaren Tagesordnung steht.

Dennoch treten Forderungen, die der libertären Strömung entstammen, bei einem Teil der Bevölkerung ans Tageslicht - und sogar, paradoxer Weise, auch in politischen Parteien: Dabei geht es um die Kontrolle und Wiederabrufbarkeit von Gewählten, um eine Kritik der Reichtumsunterschiede (ohne gleichwohl bis zur wirtschaftlichen Gleichheit vorzudringen) usw.

Natürlich geht es dabei auch um eine Systemanpassung. Aber ein Teil der sozialen Schichten scheint sich in den Ansprüchen auf Selbstverwaltung wiederzuerkennen. Und wenn sich das auch nur bei dem zunehmenden Interesse an "kurzen Kreisläufen" in der Nahrungsmittelversorgung zeigt. Liegt es da nicht auch an uns, dieses Zahnrad weiter zu treiben und dabei dessen Widerspruch zur Aufrechterhaltung kapitalistischer und staatlicher Strukturen aufzuzeigen?!

Natürlich ist das ein Feld mit riesigen und vielfältigen Baustellen. Doch ausgehend von ihren praktischen und theoretischen Grundlagen besitzt die anarchistische Bewegung hier ein nicht zu vernachlässigendes Reservoir an Fähigkeiten zur Reflexion, für Kämpfe, für Experimente auf kleinerer oder grösserer Ebene, lokal oder international, althergebracht oder aktuell - und immer wieder in Neuschöpfung begriffen. Selbstverwaltung, gegenseitige Hilfe, Föderierung von Kommunen, Sozialisierung der Produktionsmittel, Koordinationsgremien mit imperativem Mandat usw. - das sind die Ideen und sehr lebendigen Praktiken, die nur weiter entwickelt werden müssen, ohne Rückgriff auf Grenzen, die qua Definition nur künstlich sind. Brechen wir also den Käfig auf und organisieren wir uns, um auf dem gesamten Planeten frei zu leben!

S. (Libertäre Gruppe René Lochu; Fédération anarchiste, Vannes/Bretagne) / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 420, Sommer 2017, www.graswurzel.net

Übersetzung für die GWR von Coastliner, aus: Le Monde libertaire, Nr. 1788, Mai/2017, S. 22f.