Über die verstellte Sicht auf den Fortschritt der europäischen Integration Europa und die Linke

Politik

Wer von Europa reden will, darf vom Nationalismus nicht schweigen. Schien Letzterer in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten, ja eigentlich seit Ende des Zweiten Weltkriegs, zumindest zeitweise im Prozess der europäischen Einigung gebändigt, lässt sich gegenwärtig ein Vorgang der Renationalisierung beobachten.

Linke Sozialisten wie Karl Liebknecht (hier im Bild), Rosa Luxemburg und Kurt Eisner engagierten sich während des Ersten Weltkriegs für den umgehenden Friedensschluss sowie eine europäische Verständigung.
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Linke Sozialisten wie Karl Liebknecht (hier im Bild), Rosa Luxemburg und Kurt Eisner engagierten sich während des Ersten Weltkriegs für den umgehenden Friedensschluss sowie eine europäische Verständigung. Foto: G. G. Bain (PD)

6. April 2017
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Überall auf dem Kontinent erstarken nationalistische Parteien und Bewegungen, die vehement »weniger Europa« fordern oder zumindest ein anderes – ein »Europa der Vaterländer«, wie es dem langjährigen französischen Staatspräsidenten Charles de Gaulle vorschwebte und heute von Alexander Gauland (AfD) verfochten wird. Ein Europa, in dem die wiedererwachten Nationen sich nach Ansicht von Marine Le Pen (Front National) und Viktor Orbán (Fidesz) gegen das »Monster Brüssel« stemmen sollen; in dem Fragen der Wirtschaftsordnung, sozialer Ansprüche und des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft wieder vorrangig auf nationaler Ebene entschieden werden sollen.

Charakteristische Begleiterscheinungen dieser »Systemopposition« sind die Agitation gegen den vermeintlichen amerikanischen Imperialismus (mit Ausnahme von Polen, wo gute Beziehungen zu den Vereinigten Staaten als sicherheitspolitisches Faustpfand gegen Russland geschätzt werden) und sozialer Chauvinismus, also die Konzeption des Sozialstaates als Privileg für ethnische StaatsbürgerInnen. Die StrategInnen der Renationalisierung hoffen auf die reinigende Kraft traditioneller Familienbilder sowie ethnischer Homogenität und glauben an die Überlebensfähigkeit regional abgeschotteter Wertschöpfung.

Doch schon ihre mythischen Erzählungen nationaler Kontinuität und Opferbereitschaft laden die zwischenstaatliche Konfliktlatenz vergangenheitspolitisch auf. Nicht von ungefähr erinnern die derzeitigen Erfolge nationalistischer Parteien und Bewegungen an die Zwischenkriegszeit, als sich zahlreiche Staaten des Kontinents im Gefolge der Weltwirtschaftskrise in faschistisch-autoritäre Regime transformierten, die ihr Heil in unumschränkter Staatsführung, Protektionismus und konfrontativer Bündnispolitik suchten – mit allen Konsequenzen, die dies noch vor dem Ausgreifen des Nationalsozialismus insbesondere für Minderheiten mit sich brachte. Damit soll nicht dem Alarmismus das Wort geredet werden, eine neue Epoche des Faschismus stünde bevor. Aber zu keinem Zeitpunkt nach dem Beginn des europäischen Integrationsprozesses schien dessen Umkehrung möglicher als heute.

Angesichts des sichtbar werdenden Desintegrationspotenzials argumentieren wir im Folgenden dafür, die in der Linken überwiegend kritische Haltung gegenüber Europa auf den Prüfstand zu stellen. Die europäische Integration bedarf einer Verteidigung, die nicht eine soziale Utopie, sondern die politisch-institutionelle und kulturelle Entschärfung nationalistischer Dynamiken zum Ausgangspunkt nimmt. Diese Perspektive ist jedoch durch eine jahrzehntelang eingeübte, vornehmlich ökonomisch argumentierende linke Europakritik verstellt. Daher zeichnen wir die Kontinuität fragwürdiger linker Anti-Europa-Argumentationen nach und verdeutlichen exemplarisch die Ausblendung des progressiven Gehalts Europas: Antiimperialistische Analysen und am Massstab sozialer Gleichheit orientierte Zielstellungen verhindern die positive Wahrnehmung des liberalen Fortschritts. Demgegenüber erinnern wir an bürgerliche und antifaschistische Pro-Europa-Positionen in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkriegs, deren Relevanz sich angesichts der skizzierten politischen Entwicklungen in die Gegenwart verlängert.

Linke Kritik an Europa

Linke Kritik am europäischen Einigungsprozess hat mittlerweile Tradition. Bereits in den 1960er Jahren sah der belgische Trotzkist Ernest Mandel Europa auf dem Weg zu einer supranationalistischen und imperialistischen Staatlichkeit, die auf Kapitalverflechtungen und der wachsenden Konkurrenz gegenüber den Vereinigten Staaten beruhe. Dagegen behauptete der marxistische Staatstheoretiker Nicos Poulantzas, die Internationalisierung des Kapitals begründe keinen europäisch-amerikanischen Gegensatz, vielmehr fusioniere das hiesige mit dem dominanten transatlantischen Kapital und bilde somit die Grundlage für eine Bourgeoisie, die nicht mehr uneingeschränkt dem Nationalstaat verbunden sei.[1]

Der Widerspruch zwischen der Annahme einer imperialen Eingemeindung Europas durch die Vereinigten Staaten und der These eines europäischen Konkurrenzprojekts besteht bis heute fort. So finden sich ähnliche Positionen in der Kontroverse über die ökonomische und geopolitische Struktur der Globalisierung: Die Starintellektuellen der linken Globalisierungskritik Michael Hardt und Antonio Negri beschrieben die Entstehung eines weltumgreifenden »Empire«, in das auch die europäischen Staaten inkorporiert seien und in dem nur noch die Supermacht USA eigenständig handeln könne, die dabei allerdings immer auch den kapitalistischen Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen habe.[2] Die neomarxistischen Wissenschaftler Leo Panitch und Sam Gindin zeichneten noch deutlicher das Bild eines amerikanischen Neoimperialismus.[3] Das US-amerikanische Kapital habe durch Direktinvestitionen in europäischen Kernstaaten die nationalen Bourgeoisien »zersetzt«.[4] Übrig blieben transatlantische Halbbürger, deren Interessen mit denen der Vereinigten Staaten übereinstimmten.

Andere Positionen betonten die Spannungen zwischen beiden Machtblöcken.[5] Insbesondere die Achsenbildung Paris–Berlin–Moskau in Reaktion auf den Irakkrieg habe die Möglichkeit geopolitischer Konflikte offenbart. Binnenmarkt und Euro bildeten zudem die ökonomischen Konturen eines europäischen Konkurrenzprojekts, das durch Versuche einer eigenständigen Aussen- und Sicherheitspolitik sowie öffentlichkeitswirksame Manifestationen proeuropäischer Parteinahme gekennzeichnet sei.[6]

Letztendlich stehen beide Varianten – also die Beschreibung von Konvergenz auf der einen, von Konkurrenz auf der anderen Seite – vor dem Problem, das komplexe transatlantische Verhältnis zu fassen. Was zur Folge hat, dass entweder empirische Momente der Kooperation oder des Konflikts analytisch privilegiert werden.

Ein anderer Schwerpunkt der Kritik wird durch regulationstheoretische Arbeiten begründet, die seit den 1980er Jahren vor allem auf die innereuropäischen sozialen Folgen der Austeritätspolitik verwiesen. Diese habe zur Einschränkung sozialstaatlicher Sicherung und zur Delegitimierung einer keynesianischen Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik geführt. Insbesondere die Verwirklichung des europäischen Binnenmarktes wurde aufgrund der Verschärfung der Konkurrenz zwischen nationalen Regulationsweisen abgelehnt – mit dem Ergebnis disziplinierter Gewerkschaften, allgemeinen Sozialabbaus sowie verschlechterter Arbeits- und Lebensverhältnisse.[7]

Gleichzeitig sah man durch die technokratischen Entscheidungsfindungsprozesse in den europäischen Institutionen parlamentarische Wege der Mitbestimmung versperrt. Daher galt die europäische Integration als neoliberales und zugleich staatsautoritäres Projekt zur Verschärfung der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit.

Die skizzierten Analysen bilden bis heute das inhaltliche Fundament bewegungslinker Protestpolitik. Regelmässig wurde sowohl gegen die transatlantische als auch die europäische Weltordnungspolitik demonstriert. Als Gegenpol wurde ein Europa der Zivilgesellschaften und der sozialen Bewegungen propagiert, das das »Recht der Völker auf Selbstbestimmung« anerkennt und den Kampf gegen »Besatzungstruppen« im Irak, Palästina und Tschetschenien unterstützt.[8]

Antinationale Gruppen versuchten sich von derartigen Positionen abzugrenzen. An der Konstruktion eines europäischen Bewusstseins, kam sie nun von Attac, dem Friedensratschlag Kassel oder Intellektuellen wie Habermas und Derrida,[9] lehnte man vor allem die moralische Abgrenzung von den Vereinigten Staaten ab. Kritisch stellte man fest, dass Antiamerikanismus und Antisemitismus die »emotionale Grundlage für die Zustimmung breiter Bevölkerungskreise und ebenso von Teilen der Linken […] zum Projekt Europa« bildeten.[10]

Aber auch diese, innerhalb der Linken marginal bleibende Perspektive, beschrieb Europa als imperialistisches Produkt des Kapitals. Die EU sei durch Deutschlands ökonomisches Interesse an der Ausbeutung der europäischen Peripherie, durch die Militarisierung ihrer Aussenpolitik und ihre weltpolitischen »Grossmachtbestrebungen« gekennzeichnet, argumentierten beispielsweise die Leipziger linksradikalen Gruppen Bündnis gegen Rechts (BgR) und Antifaschistischer Frauenblock (AFBL) in einem Demonstrationsaufruf aus dem Jahr 2004.

In der jüngsten Vergangenheit stehen die europäische Flüchtlings- und Krisenpolitik im Mittelpunkt linker Bewegungspolitik, wobei die antiimperialistische Argumentationsgrundlage beibehalten wurde. So lobte die Interventionistische Linke aus Berlin in ihrem diesjährigen Aufruf zum 1. Mai das »Aufbegehren in der europäischen Peripherie gegen die herrschende Austeritätspolitik«, wodurch der »Kampf um ein anderes Europa mit aller Vehemenz in deren [sic!] Machtzentren getragen« werde. Zudem habe der »Kampf der Flüchtlinge […] unsere imperiale Lebensweise« herausgefordert.[11]

Die Gründe für die Ablehnung der EU blieben demnach über Jahrzehnte die gleichen. Unabhängig vom fragwürdigen Erkenntnispotenzial imperialismustheoretischer Erklärungen geht diese linke Agenda mit einer abwehrenden Haltung gegenüber dem historischen Lernprozess in den europäischen Nationalstaaten nach 1945 einher. So gelten die Errungenschaften der Friedensordnung nach dem Zweiten Weltkrieg, die durch eine Entschärfung zwischenstaatlicher Konflikte und die institutionelle Überformung nationaler Zugehörigkeit gekennzeichnet ist, ebenso als Mythos wie die Selbstbeschreibung Europas als offene Gesellschaft, als Ort der Demokratie und der Menschenrechte.[12]

Wenn der europäischen Integration vor dem Hintergrund des Ersten und Zweiten Weltkriegs von links überhaupt fortschrittliche Momente attestiert werden, dann nicht ohne diese als letztendlich wirkungslose Oberflächenphänomene zu konterkarieren.

Ein aktuelles Beispiel hierfür bietet Rainer Trampert, der nach 1989 zu den Mitbegründern der antinationalen Linken gehörte. In Europa zwischen Weltmacht und Zerfall gesteht er zwar zu, dass »die Überwindung der deutsch-französischen Erbfeindschaft« das »Herzstück der EU« bilde.[13]

Allerdings müsse der antikommunistische Kern dieser Verständigung herausgestellt werden: So hätten 150.000 deutsche Kriegsgefangene, die ihr Tötungshandwerk nach 1945 in der französischen Fremdenlegion fortsetzten und sich dadurch nicht selten der juristischen Verfolgung von Kriegsverbrechen entzogen, als erste den deutsch-französischen Widerstreit in den Kämpfen Frankreichs gegen antikoloniale Befreiungsbewegungen überwunden. Auch der Idealismus aktionistischer Jugendlicher, unter ihnen der spätere Bundeskanzler Helmut Kohl, die im August 1950 an der deutsch-französischen Grenze für eine europäische Föderation demonstrierten und unter der Parole »Stürmt die Bastille Nationalstaat!« Schlagbäume demontierten, wird in erster Linie mit pragmatischer Interessenpolitik konfrontiert.

Während Frankreich mit der 1951 gegründeten Montanunion (eine Vorgängerin der EU) auf die Kontrolle kriegswichtiger Ressourcen des ehemaligen deutschen Gegners zielte, habe dieser so die Produktion seiner Schwerindustrie steigern können, deren Ausstoss bis dahin von der Internationalen Ruhrbehörde gedeckelt worden war. Der spätere Abbau von Handelsschranken habe gleichfalls nicht der Abschaffung des Nationalstaates, sondern der vollen Entfaltung der Konkurrenz zwischen diesen gedient. Europa beruhe also auf Antikommunismus und Handel und sei keine darüber hinausreichende Wertegemeinschaft.

Anschaulich zeigt sich hier, wie die progressiven Impulse der westeuropäischen Entwicklung nach 1945 ignoriert werden. Dabei stellt die deutsch-französische Annäherung angesichts des in der deutschen Ideengeschichte überlieferten Überlegenheitsanspruchs gegenüber dem Westen trotz ihres nationalen Interessenhintergrunds eine Erfolgsgeschichte dar. Als Motor der Verwestlichung und ideellen Entnazifizierung Deutschlands ist der europäische Einigungsprozess einhellig zu begrüssen. Deshalb relativieren sich, ganz abgesehen von ihrer fragwürdigen analytischen Qualität, die gängigen Bewertungsmassstäbe linker Europakritik.

Ein Blick auf historische Europabezüge soll diese Position nachvollziehbar machen. Dazu gehört etwa die Utopie eines liberalen Kulturbürgertums, das die Hoffnung übernationaler Zugehörigkeit bot, bevor sie im Ersten Weltkrieg vom deutschen Weltmachtstreben und im Zweiten Weltkrieg vom nationalsozialistischen Rassenwahn zerstört wurde. Dazu gehört auch die europäische Orientierung der Arbeiterbewegung in Abgrenzung zum wachsenden Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, und dazu gehören Ansätze antifaschistischer Widerstandsgruppen, die gerade aufgrund des Scheiterns eines sich aus der Klassenzugehörigkeit ergebenden Kampfes gegen Faschismus und Nationalsozialismus im pro-europäischen Idealismus die Basis für erfolgreiche antifaschistische Bündnisse sahen.

Europa aus bürgerlich-liberaler und antifaschistischer Perspektive

Anders als in der gegenwärtigen rechtspopulistischen Polemik gegen Europa war es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gerade der Begriff der Kultur, der für zahlreiche Intellektuelle die Überwindung nationaler Feindschaft versprach. Ausgehend von den Erfahrungen seit den erfolgreichen Emanzipationsbestrebungen im Anschluss an die Französische Revolution waren es insbesondere jüdische Intellektuelle, die Europa als »geistigen, literarischen und künstlerischen Sehnsuchtsraum« ausmachten und im Ringen um Fragen von Selbstverständnis und Zugehörigkeit wenn auch nicht immer politische, so doch kulturelle Utopien formulierten, die sich durch einen positiven Europabezug auszeichneten.[14]

Einer von ihnen war der aus Österreich stammende Schriftsteller Stefan Zweig, der seiner im brasilianischen Exil verfassten Autobiografie den Untertitel Erinnerungen eines Europäers gab. Er war in Wien aufgewachsen, das kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert aufgrund der Einwanderung aus allen Teilgebieten des Habsburgerreichs Menschen mit höchst unterschiedlichen religiösen und lebensweltlichen Hintergründen versammelte und sich zu »einer der Welthauptstädte des Geistes«[15] entwickelte. Zweig schwärmt in seinen Memoiren vom »Genie Wiens«; nirgends sei es leichter gewesen, »Europäer zu sein«.[16]

Seine Jugend war geprägt von einem Gefühl der Sicherheit angesichts der relativ konfliktarmen Epoche, auf die der Kontinent seit 1815 zurückblickte. Nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs finden sich in seinem Werk immer wieder leidenschaftliche Plädoyers für die Überwindung nationaler Rivalität und ein europäisches Einigungsprojekt, von dem Zweig die Menschen im Medium seiner Wahl – der Schrift – überzeugen wollte.

Sein politisches Engagement, etwa in der europafreundlichen Clarté-Bewegung des französischen Schriftstellers Henri Barbusse oder die ihm nachgesagte zeitweilige Mitgliedschaft im 1914 gegründeten pazifistischen Bund Neues Vaterland, blieb dagegen spontan und kurzfristig. So heisst es in den Erinnerungen: »Wir glaubten genug zu tun, wenn wir europäisch dachten und international uns verbrüderten, wenn wir in unserer […] Sphäre« – und damit ist eben die Literatur oder im weiteren Sinne die (Hoch-)Kultur gemeint – »uns zum Ideal friedlicher Verständigung und geistiger Verbrüderung« und nicht zuletzt zur »europäischen Idee« bekannten.[17]

Dass diesem Streben etwas Illusorisches anhaftete, nahm er mit Blick auf die Situation in Europa, wie sie sich beim Abfassen seiner Erinnerungen 1941 darstellte, durchaus in Kauf: »Aber wenn auch nur Wahn, so war es doch ein wundervoller und edler Wahn, […] menschlicher und fruchtbarer als die Parolen von heute.«[18]

So wie sich Stefan Zweigs positiver Europa-Bezug während des Exils nochmals verstärkte, entdeckten auch Vertreter der Arbeiterbewegung im Zweiten Weltkrieg und in der unmittelbaren Nachkriegszeit Europa als Politikfeld. Europa-Konzeptionen innerhalb der Linken waren an sich kein neues Phänomen. (Linke) Sozialisten wie Karl Liebknecht, Rosa Luxemburg und Kurt Eisner engagierten sich während des Ersten Weltkriegs im bereits erwähnten pazifistischen Bund Neues Vaterland, der sich 1914 für den umgehenden Friedensschluss sowie die europäische Verständigung einsetzte. In der Zwischenkriegszeit verbanden linke Gewerkschaften, Parteien und Initiativen mit dem Europa-Gedanken über die Idee der Einhegung nationaler Interessenkonflikte hinaus vor allem wirtschaftliche Überlegungen, da sie in der europäischen Einigung die Möglichkeit erblickten, Arbeiternehmerrechte und Wettbewerb gleichermassen zu stärken.[19]

Kommunisten enthielten sich diesen Diskussionen in der Regel, da sie das Selbstbestimmungsrecht der Völker propagierten und ferner davon ausgingen, die sozialistischen Revolutionen würden über kurz oder lang ganz Europa erfassen. Das Ziel der europäischen Einigung »aus dem Geist des Widerstands«[20] während des Zweiten Weltkriegs wurde unabhängig voneinander in mehreren westeuropäischen Ländern entwickelt. In Italien initiierten antifaschistische Widerstandskämpfer, allen voran der Linkssozialist Altiero Spinelli, 1943 das Movimento Federalista Europeo, das zur Gründung eines europäischen Staatenbundes aufrief. Parallel dazu forderten Résistance-Gruppen in Frankreich, darunter die Vereinigung Combat um den Schriftsteller Albert Camus, 1944 die Schaffung der »Vereinigten Staaten von Europa«. Deutschsprachige sozialistische Emigranten in Grossbritannien aus dem Umfeld der Union deutscher sozialistischer Organisationen befürworteten ihrerseits die europäische, wenngleich sozialistisch geprägte Einigung. Zusammengefasst wurden diese und ähnliche Forderungen im Mai 1944 auf einer Konferenz im neutralen Genf, die eine Deklaration zugunsten einer europäischen Föderation, der Einschränkung staatlicher Souveränität und der Einrichtung einer europäischen Gerichtsbarkeit verabschiedete. Alle Teilnehmenden gingen davon aus, ein geeintes Europa sei nach dem Krieg das beste Mittel, ein wiederholtes Aufkommen nationalistisch-autoritärer Regime zu verhindern.

Wie am massgeblich von Spinelli verfassten Manifest von Ventotene (1941), dem eindrücklichsten Europa-Dokument jener Jahre, abzulesen ist, lag dem positiven Bezug eine umfassende Verunsicherung angesichts des Siegeszugs der Nazis zugrunde. Die Forderung nach der »endgültige[n] Beseitigung der Grenzen, die Europa in souveräne Staaten einteilen«, und der Schaffung eines Staatenbundes (stato federale), »der auf festen Füssen steht und anstelle nationaler Heere über eine europäische Streitmacht verfügt«[21], leitete sich aus verschiedenen Überlegungen ab: So stellte Spinelli mit Erschrecken fest, dass die Staaten und Institutionen der Vorkriegszeit dem Nationalsozialismus nicht standgehalten hatten, ja, Hitlers Feldzug die europäische Einigung im Negativen bereits realisiert hatte. Da er hinsichtlich der Zukunft davon ausging, dass sich die deutsche Frage erneut stellen, d.h. Deutschland aufgrund seiner Mittellage wiederum zum potenziellen Unruheherd werden würde, der das europäische Gleichgewicht durch Protektionismus und den Abschluss bilateraler Verträge gefährde, sprach er sich für gemeinsame europäische Institutionen und einen einheitlichen europäischen Wirtschaftsraum aus.

Interessanterweise rückte Spinelli hierbei von der Arbeiterklasse als bisherigem Träger des geschichtlichen Fortschritts mehr und mehr ab. Er attestierte ihr (wohl auch mit Blick auf das faktische Scheitern des antifaschistischen Widerstands im Spanischen Bürgerkrieg und das europaweit verbreitete Phänomen der Kollaboration), es angesichts der Bedrohung durch den Nationalsozialismus versäumt zu haben, »über die Sonderbedürfnisse ihrer Klasse oder gar ihrer Kategorie hinweg ins Weite zu blicken und sich darum zu bemühen, sie mit den Ansprüchen anderer Schichten zu verbinden«. In Anbetracht der totalitären Bedrohung müssten jedoch alle Kräfte gebündelt werden, die in der Lage sind, »die alten politischen Institutionen zu kritisieren«.

Diese Kritik schloss auch die Sowjetunion ein, die sich nicht nur durch den Abschluss des Hitler-Stalin-Pakts desavouiert hatte, sondern der er auch vorwarf, zu einem autokratischen Regime herabgesunken zu sein, »in dem die ganze Bevölkerung im Dienste der eng begrenzten Kaste der Bürokraten steht, die die Wirtschaft verwalten«. Wenngleich Spinelli darauf bestand, die von ihm angestrebte europäische Lösung müsse eine »sozialistische« sein, ist doch frappierend, inwieweit die vormalige Betonung der sozialen Frage der Einsicht gewichen war, dass jene angesichts des Nationalsozialismus (wie des Stalinismus) keinen alleingültigen Ansatz mehr darstelle. Die Dominanz der sozialrevolutionären Perspektive wurde zugunsten des Bündnisses mit bürgerlich-liberalen Kräften aufgegeben.

Für das real existierende Europa

Die Erinnerung an bürgerlich-liberale Vorstellungen von der europäischen Kultur und an die antifaschistische Bündnisorientierung, die im Moment der Bedrohung das Ziel sozialer Befreiung zurückstellte, ermöglicht eine Öffnung des historischen Blicks. Eine darauf fussende Beurteilung der europäischen Einigung als »Antwort auf die Geschichte«[22] relativiert die Überzeugungskraft der traditionellen Kritik an der sozialen Ungleichheit, am ideologischen Antikommunismus und den vermeintlich imperialen Zielen Europas. Die im Vergleich zur Weltkriegsepoche gelungene politische und kulturelle Überformung zwischenstaatlicher Konflikte und Feindbilder lässt selbst den Antikommunismus des Kalten Krieges und die marktliberalen Elemente der ökonomischen Integration Europas in einem positiven Licht erscheinen, da sie zu den Gewährleistungsmomenten gehörten, die in Westdeutschland zur Herausbildung einer progressiveren politischen Kultur führten, während im Ostblock ethno-nationalistische und völkische Denkweisen unverfälschter erhalten blieben.

Es stellt sich indes die Frage, inwiefern eine solche geschichtsbewusste Haltung aktuell Geltung beanspruchen kann und nicht durch ihre ständige Reklamation seitens der etablierten Politik und der politischen Bildung bereits zur reinen Phrase verkommen ist. In unseren Augen fordert die eingangs geschilderte Tendenz der Renationalisierung dazu auf, den historischen Fortschritt Europas bewusster wahrzunehmen und argumentativ zu verteidigen. Die Mehrzahl der Linken sieht zwar die Gefahr des Rechtspopulismus, reagiert aber darauf durch die Aktivierung veralteter Kritikmuster: Imperialismus, soziale Ungleichheit und bürokratische Entmündigung sollten demnach an erster Stelle kritisiert werden, um eine weitere Rechtsentwicklung zu verhindern. Linke sollten in der Gegenwart vor allem für ein egalitäres und demokratisches Europa kämpfen, da ansonsten ohnehin die Grundlage für eine Einigung des Kontinents verloren ginge.[23]

Diese Argumente unterschlagen jedoch, dass ein grosser Teil des rechten Erfolgs auf generellen Globalisierungsängsten beruht und sich gegen Einwanderung, Digitalisierung, sich weiter modernisierende Geschlechterverhältnisse, die Vereinigten Staaten und Israel sowie gegen die Herrschaft transnationaler Eliten und Finanzspekulation wendet.

Mehr noch, im Kampf gegen Europa finden sich rechte und linke Organisationen nicht selten vereint. Der Widerstand gegen die Zustimmung der EU zum transatlantischen Freihandelsabkommen ist keine linke Domäne, sondern auch ein Anliegen des Front National. Die von alten und neuen Linken unterstützte Europa-Bewegung des ehemaligen griechischen Ministers Yanis Varoufakis, DIEM 25, weist ebenfalls Überschneidungen zwischen rechtem und linkem Populismus auf. Während in ihrem Manifest einerseits die EU als »ausserordentliche Leistung« gelobt wird, weil sie den Kontinent »in Frieden zusammengeführt« und Menschenrechte an die Stelle von »mörderische[m] Chauvinismus« gesetzt habe, wird andererseits eine politische »Verschwörung« zugunsten der Finanz- und Industriekonzerne beklagt.

Opfer der Konzernmacht seien die »stolze[n] Völker« Europas und die Nationalstaaten, deren Souveränität ausgehöhlt werde. Neben der formulierten Sorge um eine Renationalisierung steht gleichzeitig die Forderung, die nationale Selbstbestimmung vor supranationaler Entscheidungskompetenz zu bewahren. Die formulierten sozial-ökonomischen Vorschläge, die auf Umverteilung und staatliche Investitionsprogramme hinauslaufen, bleiben an die nationale Form gebunden. Dass daneben auch die Offenheit Europas für Menschen aus der ganzen Welt postuliert wird, dürfte sich als Makulatur erweisen, sobald die »europäischen Völker« tatsächlich, wie von DIEM 25 gewünscht, entscheidungsmächtig werden und die Anwartschaft auf staatliche Leistungen gegen die nach Wohlstand und Sicherheit suchenden Einwanderer auf Grundlage nationaler Zugehörigkeit regeln.

Was aber tun, wenn linke, sozial motivierte Europakritik nicht anders als rechtspopulistische die »Völker« zur Verteidigung des Nationalstaates mobilisieren will? Was tun, wenn verschwörungstheoretische Machtkritik von links und rechts die in ihrer Grundidee vernünftige Institutionalisierung europäischer Staatlichkeit delegitimiert? Was tun, wenn linke und rechte Kritik die historische Entwicklung der offenen Gesellschaften Europas nicht als Grundlage, sondern als grundfalsches Hemmnis begreift? Angesichts dieser Konstellation ist die Verteidigung der real existierenden EU eine fortschrittliche Position.

Roter Salon im Conne Island
Artikel aus: Phase 2 / Ausgabe Nr. 53
www.phase-zwei.org

Fussnoten:

[1] Patrick Ziltener, Art. Europäische Integration, in: W.F. Haug u.a. (Hrsg.), Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Bd. 3, Hamburg 1997, 1000–1012, hier 1000f.

[2] Michael Hardt/Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a.M. 2002.

[3] Leo Panitch/Sam Gindin, Globaler Kapitalismus und amerikanisches Imperium, Hamburg 2004.

[4] Ebd., 60.

[5] Etwa Alex Callinicos, Benötigt der Kapitalismus das Staatensystem, in: Giovanni Arrighi u.a. (Hrsg.), Kapitalismus reloaded. Kontroversen zu Imperialismus, Empire und Hegemonie, Hamburg 2007, 11–32. Oder: Peter Gowan, Weltmarkt, Staatensystem und Weltordnungsfrage, in: ebd., 146–170.

[6] Frank Deppe, »Euroimperialismus«. Anmerkungen zu einem neuen Schlagwort, in: ebd., 197–219.

[7] Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, Gewerkschaften vor der europäischen Herausforderung. Tarifpolitik nach Mauer und Maastricht, Münster 1993.

[8] Vgl. den Aufruf des Europäischen Sozialforums 2003: http://bit.ly/26YwwyT.

[9] Wiedergeburt Europas« (31. Mai 2003, 33). Zur Kritik daran vgl. den Aufruf der antinationalen Antifagruppe BgR aus Leipzig mit dem Titel »Die neue Heimat Europa verraten“, http://bit.ly/29ilC4H oder den Einleitungstext zum Phase 2-Schwerpunkt »Wer macht Europa«, Nr .11/2004.

[10] »Die neue Heimat Europa verraten. Gegen die Kollaboration mit der europäischen Nation“,http://bit.ly/29pFO6U.

[11] »Lasst uns die Offensive beginnen. Raus zum 1. Mai«, http://www.interventionistische-linke.org/beitrag/berlin-lasst-uns-die-offensive-beginnen-raus-zum-1mai.

[12] Vgl. Ilka Schröder, Europa: Von der Rindfleischgemeinschaft zur Weltmacht?, in: dies. (Hrsg.), Weltmacht Europa – Hauptstadt Berlin? Ein EU-Handbuch, Hamburg 2005, 7–20, hier: 8f.

[13] Rainer Trampert, Europa zwischen Weltmacht und Zerfall, Stuttgart 2014, 23.

[14] Vivien Liska/Bernd Witte, Art. Europa, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, hrsg. v. Dan Diner, Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2012, 278–285, hier: 279.

[15] Jean Améry, Örtlichkeiten, in: ders.: Werke, Bd. 2, hrsg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, 351–489, hier: 363.

[16] Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a.M. 1992 [1944], 39.

[17] Ebd., 232.

[18] Ebd., 18.

[19] Vgl. Willy Buschak, Die Vereinigten Staaten von Europa sind unser Ziel. Arbeiterbewegung und Europa im frühen 20. Jahrhundert, Essen 2014.

[20] Vgl. Frank Nies, Die europäische Idee. Aus dem Geist des Widerstands, Frankfurt a.M. 2001.

[21] Dieses und die folgenden Zitate n. http://bit.ly/29wJo0O.

[22] Tony Judt, Geschichte Europas. Von 1945 bis zur Gegenwart, Frankfurt a.M. 2009, 966.

[23] Vgl. u.a. Karl Heinz Roth/Zissis Papadimitriou, Die Katastrophe verhindern. Manifest für ein egalitäres Europa, Hamburg 2013. Ferner das Manifest von DIEM25 (Democracy in Europe Movement 2025): http://bit.ly/29l96pK.