Wer von den Flüchtlingen profitiert „Wir werden leichter an eine Putzkraft kommen“

Politik

Hans-Werner Sinn, Chefideologe des Instituts für Wirtschaftsforschung, gibt der Zeit ein Interview. Thema: Verlierer und Gewinner der Flüchtlingskrise.

Migranten an der ungarischen Grenze zu Serbien auf einem Bahngleis in Röszke.
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Migranten an der ungarischen Grenze zu Serbien auf einem Bahngleis in Röszke. Foto: Bőr Benedek (CC BY 2.0 cropped)

16. Oktober 2015
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Laut H.-W. Sinn ist es richtig und wichtig, dass die in diesem Jahr erwarteten „800.000 Migranten … integriert werden und Steuern zahlen“, schon damit sie den Staat nicht mehr soviel kosten. „Integriert“ heisst: Wer hierzulande leben will, braucht Geld; wer keines hat muss es sich verdienen und braucht dazu einen Arbeitsplatz. Soweit, so normal. Jetzt gibt es aber Arbeitsplätze nicht deswegen, weil die Leute einen Lebensunterhalt brauchen, und wie viele es gibt, hat nichts damit zu tun, wie viele Leute einen solchen benötigen.

Es gibt sie, weil und wenn Arbeit“geber“ ein Geschäft damit machen, also weniger für die Arbeit bezahlen, als sie aus ihr herausholen. Auch das gilt als normal und ist einigermassen unschön: Die einen bezahlen so wenig wie möglich, die anderen müssen zusehen, wie sie mit dieser Summe klar kommen und sind dann, wenn die Arbeitslosigkeit hoch und die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gross ist, in Sachen Lohnhöhe auch noch erpressbar. Flüchtlinge, die ihren Lebensunterhalt verdienen wollen und müssen, sollen sich, sobald sie das dürfen, neben den deutschen Lohnabhängigen als „zusätzliche Arbeitskräfte“ in diese Konkurrenz einreihen.

Damit haben sie auf dem Markt nur mässige Karten, was das Finden einer Beschäftigung und deren Bezahlung angeht. Und die Löhne derer, die in diesem System schon drinnen sind, geraten „unter Druck“. H.-W. Sinn dazu: „Es geht um ein fundamentales Gesetz der Ökonomie: Ein zusätzliches Angebot – in diesem Fall an gering qualifizierten Arbeitskräften – drückt den Preis beziehungsweise den Lohn für diesen Typus von Arbeitskraft.“ Die, die von diesem Lohn leben müssen, „bekommen Konkurrenz durch die zusätzlichen Arbeitskräfte. Sie sind die Verlierer.“

Spricht das nun gegen dieses Wirtschaftssystem, in dem das das Leben der meisten Menschen von der Kosten- und Gewinnkalkulation der Unternehmen abhängig ist, und in dem so ein „fundamentales Gesetz“ wirkt? Tatsächlich sehr wohl, für Herrn Sinn aber nicht. Es gibt in diesem schönen Spiel schliesslich auch Gewinner: „Das sind vor allem diejenigen, die Leistungen der zusätzlichen Arbeitskräfte in Anspruch nehmen“. Und das sind nicht etwa die Unternehmer, nein: Das sind „wir alle“. „Sie und ich und Ihre Leser zum Beispiel. Wir werden leichter an eine Putzkraft kommen oder unser Auto waschen lassen können, weil die Löhne für einfache Tätigkeiten sinken.“

Soweit die Leser zu denen gehören, deren Löhne gesenkt werden, klappt das zwar nicht mit der billigen syrischen Fachkraft, die zu Hause den Polo poliert. Geschäfte aber – von wegen privates Autowaschen! – profitieren vom Billiglohn: „Mehr Geschäftsmodelle für Geringqualifizierte werden erst dann rentabel, wenn der Lohn für einfache Arbeit fällt.“ Und damit, so Sinns freche Behauptung, ist Billiglohn auch für die Arbeiter von Nutzen, weil er immer noch besser ist als gar keiner. Dass allerdings alle Arbeitssuchenden eine Stelle finden, wenn sie sich nur billig genug anbieten, stimmt deswegen noch lange nicht. Nur von den Arbeitskosten hängt die Rentabilität eines “Geschäftsmodells“ eben nicht ab, wenn es gegen Konkurrenten zu bestehen hat, die ebenfalls mit Niedriglöhnen kalkulieren können.

Aber sei's drum: „Die «industrielle Reservearmee» wird immer wieder mit Nachschub aus … anderen Teilen der Welt aufgefüllt. Das hält das Lohnniveau niedrig.“ Und das findet Sinn auch gut so. (Übrigens ganz im Gegensatz zu Karl Marx, von dem Sinn diesen Begriff geklaut hat: Der hielt die „Reservearmee“ und die Konsequenz auf den Lohn nämlich für kein Kompliment, sondern für einen zentralen Einwand gegen den Kapitalismus; wer es nachlesen will: „Das Kapital“. Band 1, S. 670ff.)

Als unfreiwillige Lohndrücker sind Sinn die Flüchtlinge jedenfalls willkommen. Und dass sich diesem heilsamen Druck etwas in den Weg stellt, darf nicht sein. Damit ist er bei einem seiner Lieblingsthemen, dem Mindestlohn und seiner ökonomischen Verwerflichkeit. Dass der jüngst gesetzlich fixiert wurde, um die staatlichen Kassen von den Kosten für das Aufstocken von Minilöhnen zu entlasten, ist ihm ein Dorn im Expertenauge. Für die Unternehmen können Lohnkosten nämlich gar nie zu niedrig sein, und dass die Lohnempfänger von den Löhnen nicht leben können, ist halt deren Problem. Wenn die Politik sich, aus welchem Grund auch immer, an der Verarmung weiter Teile der Bevölkerung stört, dann, so Sinn, ist der Umgang damit ihre sozialpolitische Aufgabe: „Wir sollten den Flüchtlingsstrom zum Anlass für eine neue Agenda 2010 nehmen. Jeder, der arbeiten will, muss arbeiten können und dann genug zum Leben haben. Das ist nicht über den Mindestlohn zu erreichen, dafür braucht man Lohnzuschüsse.“

So spricht man als Wirtschaftsexperte aus, wie es im wunderschönen marktwirtschaftlichen System zugeht. Dass man von den Niedriglöhnen, die Teil bundesdeutscher Normalität sind, nicht leben kann, das weiss H.-W. Sinn nur zu gut. Wenn Hunderttausende von Arbeitssuchenden in die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt einsteigen, ist das für sie ebenso wie für die, die den schon bevölkern, eine harte Sache, weil – „fundamentales Gesetz der Ökonomie“ – die Unternehmen dann für Arbeit weniger bezahlen können. Da gibt die kapitalistische Praxis H.-W. Sinn recht. Dann muss eben der Staat her und mit Zuschüssen zum Lohn dafür sorgen, dass man mit den „zumutbaren“ Niedriglohnjobs, die seine Agentur für Arbeit den Leuten aufzwingt,– irgendwie wenigstens – ein Leben fristen kann.

Wenn die in der BRD in zunehmender Anzahl kasernierten „Refugees“ die Teilnahme an der Konkurrenz um (Billig)jobs als Glücksfall und Chance ansehen, hat das zwei recht ähnlich Gründe.

Zum einen sind sie aus Verhältnissen geflohen, in denen es kaum oder gar nicht möglich ist, das Lebensnotwendige zu erlangen: Da sind entweder wegen der allgemeinen Abhängigkeit von entlohnten Arbeitsplätzen einerseits und dem Mangel an Unternehmen, die sich damit einen Gewinn ausrechnen, andererseits die Löhne himmelschreiend niedrig und sozialstaatliche Leistungen, wie popelig auch immer, nicht vorhanden. Oder es herrscht in irgendeiner Form Krieg, der die Wirtschaft zum Erliegen gebracht und das schlichte Überleben unwahrscheinlich gemacht hat.

Zum anderen sind sie hier in Verhältnissen gelandet, in denen sie einerseits arbeiten müssten, um an das Lebensnotwendige zu kommen, andererseits aber nicht dürfen, jedenfalls nicht in den ersten Monaten und im nächsten Jahr nur dann, wenn kein Deutscher für den Arbeitsplatz gefunden wird; also sind sie damit von Hilfeleistungen in Form von Sach- oder Geldzuwendungen abhängig.

Den Vergleich mit diesen Zuständen braucht man schon, um das, was das System privatwirtschaftlicher Konkurrenz Notleidenden hier zu bieten hat, auch nur ansatzweise gut zu finden.

Berthold Beimler

http://www.zeit.de/2015/41/hans-werner-sinn-fluechtlinge-deutschland-folgen