Interview mit dem Bund der Alevitischen Jugendlichen „Unser grösstes Heiligtum ist der Mensch“

Politik

Über das Alevitentum, die Situation in der Türkei und den Krieg der AKP gegen die eigene Zivilbevölkerung. Interview mit dem Bund der Alevitischen Jugendlichen in NRW.

Demonstration von Jesiden, Eziden, Aleviten und Kurden in Hannover gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat.
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Demonstration von Jesiden, Eziden, Aleviten und Kurden in Hannover gegen die Terrorgruppe Islamischer Staat. Foto: Bernd Schwabe (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

8. Juni 2016
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Am 11. Juni findet in Köln ein grosses alevitisches Jugendfestival statt. Könnt ihr eingangs für unsere deutschen Leser kurz erklären: Was ist eigentlich das Alevitentum und wie unterscheidet es sich von anderen Religionen?

In Deutschland leben etwa 700.000 Menschen alevitischen Glaubens. Wir bezeichnen unseren Glauben als „humanistische Lehre“, denn im Zentrum des Seins steht für uns die Unversehrtheit aller Lebewesen und natürlich auch des Menschen. Wir glauben daran, dass in jedem Menschen und dem Kosmos die “göttliche Wahrheit” verborgen liegt.

Der tiefsinnige humanistische Kern dieses Glaubens wird in den Worten des Gelehrten Hünkar Bektaş Veli (13. Jhd.) deutlich, wenn er schreibt: „Andere haben sogar heiligste Stätten, unser grösstes Heiligtum ist aber der Mensch. Sowohl Erschaffender, als auch Erlöser, ist der Mensch, die Menschheit selbst.“ Weil für uns alles göttlich ist, kann „Gott“ in der gesamten Natur und im eigenen Selbst aufgespürt werden. Man spricht von einem Glauben der Befreiung und Freiheit. So ist Selbstbefreiung unter anderem durch Wissensaneignung möglich. Wir erachten alle Völker und Religionen als gleichwertig und setzen uns in ihrer historischen Tradition für die Unterdrückten und Schwachen ein.

Bei eurem Festival bringt ihr auch euren seit langem laufenden Musik- und Gesangswettbewerb zum Abschluss. Musik und Poesie spielen ja im Alevitentum eine besondere Rolle. Könnt ihr die Bedeutung von musikalischer Überlieferung und Dichtung für die Alevitinnen und Aleviten kurz erklären?

Das Alevitentum ist keine klassische Buchreligion. Unsere Vorfahren waren lange Zeit Verfolgungen und Massakern ausgesetzt, so dass sie ihren Glauben im Geheimen praktizieren mussten. So wurden auch die religiös-philosophischen Inhalte grösstenteils mündlich tradiert. Es entstanden über die Jahrhunderte Rituallieder, spezielle tänzerische Elemente und Volksgedichte, die sich vieler Metaphern bedienen, um die Inhalte von Generation zu Generation zu tragen.

Beim Jugendfestival VENGE MA am 11.06. in Köln werden aber natürlich eher keine religiösen Lieder gespielt. Vielmehr geht es um Unterhaltungsmusik und den sehr beliebten Reigentanz Halay. Wir werden bis in die Morgenstunden tanzen und Spass haben. Junge Künstler haben Gelegenheit ihr Können zu präsentieren.

In allen grösseren Protesten in der Türkei spielen Alevitinnen und Aleviten eine zentrale Rolle. Woher kommt die traditionelle Verbindung von Alevitentum und linker, oft auch sozialistischer und revolutionärer Politik?

Unsere Glaubensschwestern und -brüder in der Türkei sind zum einen mit der Situation in der Türkei sehr unzufrieden. Wir haben es mit einem Staat zu tun, der krampfhaft eine Einheit von oben durchsetzen will: „Eine Sprache, eine Religion, eine Fahne.“, lautet die Staatsdoktrin. Damit sind wir nicht einverstanden, weil wir uns für die Vielfalt und die Augenhöhe unter allen aussprechen.

Daher kommt mit Sicherheit eine grosse Grundsympathie mit der linkspolitischen Bewegung, die auch viel verändern und reformieren will. Zum anderen kommt natürlich hinzu, dass die alevitischen Grundideale wie Nächstenliebe, Solidarität, Gleichheit und Reformismus oftmals mit den Idealen der „linken Weltanschauung“ korrespondieren. Dies erklärt sicherlich, warum nicht alle, aber viele Alevitinnen und Aleviten bis heute entsprechend politisch aktiv sind.

Wie seht ihr die derzeitige Situation von Aleviten in der Türkei?

Wir verfolgen die Entwicklung in der Türkei mit grosser Sorge. Unter dem Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan und seiner Partei, der AKP, bewegt sich das Land in eine autoritäre und undemokratische Richtung. Von Tag zu Tag entfernt es sich von den Werten der Aufklärung und der Demokratie. Insbesondere der wiederaufkeimende Krieg gegen das kurdische Volk, die Situation der Presse- und Meinungsfreiheit und die fehlenden Grundrechte für Religionsgemeinschaften wie unserer sind Themen, die wir als dringend zu lösende Punkte erachten. Das Alevitentum wird institutionell und gesellschaftlich diskriminiert. Alevitische Kinder werden gezwungen, den sunnitischen Pflichtreligionsunterricht zu besuchen, unsere Glaubensstätten – die Cem-Häuser – werden nicht anerkannt, die Massaker von Sivas-Madimak oder Maras sind längst nicht aufgearbeitet, kein einziger Feiertag wird akzeptiert und immer wieder werden die Selbstorganisationen bei ihrer Arbeit behindert.

Welche Position nehmt ihr als Jugendverband zu dem brutalen Krieg ein, den die türkische Regierung zurzeit im Südosten des Landes führt?

Die Bilder, die uns aus dem Südosten der Türkei erreichen erschüttern uns sehr. Die AKP führt förmlich einen Krieg gegen die eigene Zivilbevölkerung. Wir hoffen, dass sich die beiden Parteien möglichst schnell wieder an den Tisch setzen und einen Friedensdialog starten. In diesem Zusammenhang kann auch die Europäische Union eine wichtige vermittelnde Rolle übernehmen, wenn sie es allerdings schafft, sich nicht durch Erdogan und Co. erpressen zu lassen. Ganz unabhängig von aktuellen Themen und Probleme, die es zu lösen gilt, gibt es Werte, die einfach unverhandelbar sind. Diese sind in unserem Grundgesetz verbrieft.

lcm