Jugendliche und Geflüchtete kämpfen gemeinsam um politische Teilhabe Wohnungen für alle?

Politik

Berliner Schülerinnen und Schüler solidarisieren sich mit Geflüchteten aus dem Irak, aus Afghanistan und aus Syrien. Bei einer Demo durch die Hauptstadt fordern sie “Wohnungen für alle”.

Bezahlbarer Wohnraum für alle?
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Bezahlbarer Wohnraum für alle? Foto: Jaro.p (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

20. Juli 2016
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Werden hier politische Anliegen willkürlich miteinander vermischt? Oder entstehen zukunftsweisende Allianzen? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki läuft im Protestzug mit:

Auf einer Strasse im Prenzlauer Berg drängt am Samstagnachmittag ein sonderbarer Protestzug vorwärts: Jugendliche, nicht älter als 18, manche im punkigen Look mit schwarzen Klamotten und gefärbten Haaren, marschieren zusammen mit Geflüchteten.

Sie skandieren “No border, no nation, stop deportation!” oder “Brecht die Macht der Banken und Konzerne!”. Sie spielen “Ton Steine Scherben”-Songs aus den 1970ern und aktuelle syrische Antikriegslieder. Manch einer, der am Strassenrand steht, guckt etwas ungläubig. Doch auch die Demonstrierenden wirken wie von sich selbst überrascht – wohl auch, weil sie keinem einstudierten Ritual folgen.

Ein Schüler verteilt Flugblätter. Er nutzt die Aufmerksamkeit, die der Protestzug akustisch erzeugt, um in der Nachbarschaft für das Anliegen zu werben: “Bezahlbarer Wohnraum für alle!” Eine Frau mit Einkaufstaschen, zwei Kinder mit Smartphones und ein älterer Mann mit Gehhilfe bleiben stehen und beginnen zu lesen.

Der Blick auf das geschriebene Blatt Papier wird während des Protestzugs, der sich von der Prenzlauer Allee S-Bahn-Station über den Bahnhof Bornholmer Strasse bis hin zum Rathaus Pankow bewegt, eine leitmotivische Geste bleiben. Auch unter denjenigen, die bei den Kundgebungen ins Mikrofon sprechen.

Übersetzte Flugblätter

Das geschriebene Blatt Papier – man liest darauf, was man nicht verstehen kann. Oder man liest davon ab, was man sonst nicht sicher genug vortragen könnte. Das Lesen und die Unsicherheit, die es kompensieren soll – all das scheint die Protestierenden untereinander aber auch mit jenen zu verbinden, die durch den Protest aufgerüttelt werden sollen.

In den Tagen zuvor sind Übersetzungen der Flugblätter angefertigt worden – ins Arabische, ins Persische und in andere Sprachen. Einige Schüler, die nicht mit auf Klassenfahrt gefahren waren, haben in der Notunterkunft Wicherstrasse eine Projektwoche gemacht. Sie haben im Zuge dessen auch auf die Übersetzerqualitäten der Bewohner zugreifen können, nachdem sie ihre Protestprosa ins Englische übersetzt hatten.

Die Reaktionen reichten von “starke Texte!” bis hin zu “was ist hier los?”. Letzteres vor allem durch besorgte Beobachter provoziert, die meinten, hier würden “die Flüchtlinge” für eine Sache “übelst instrumentalisiert”. Eine Besorgte schrieb in einem Facebook-Forum: “Wir stehen mit den arabisch-sprachigen Bewohnern aus der Notunterkunft in permanentem inhaltlichen Kontakt und sie haben überhaupt keine politischen Ambitionen und schon gar keine antikapitalistischen”. Hitzige Diskussionen folgten.

Als die Demonstrierenden in die Wicherstrasse ziehen und an der Notunterkunft halten, um dort eine Kundgebung zu starten, gesellen sich rund 50 weitere Geflüchtete dazu, andere bleiben beim Zaun der Turnhalle stehen und beobachten das Treiben, das wie üblich von der Polizei begleitet wird, aus sicherer Entfernung. Der Sprecher der Solidarischen Jugendbewegung Pankow, die diese Demo organisiert hat, ergreift das Mikro.

Mangel an sozialem Wohnraum

Kurze, braune Haare, Akne, Körper und Stimme unter Strom. Dann zwei weitere aus dem Protestzug, zunächst einer mit Nivea-Gesicht und Hornbrille, dann ein anderer mit wuchtigen Dreadlocks. Die Jugendbewegung besteht auch aus zahlreichen jungen Frauen, doch keine von ihnen wird an diesem Nachmittag eine Rede halten.

Schliesslich spricht eine Vertreterin des Unterstützerkreises der Notunterkunft Wicherstrasse, einer Nachbarschaftsinitiative von über 2000 Prenzlauer Bergern, die sich nach der krisenbedingten Umwidmung der Turnhalle im vergangenen September formiert hat. Da war das Wort “Willkommensbürger” zwischen Athen und New York noch in aller Munde.

“Ich bin nicht so gut am Mikro” schickt sie vorweg. Was sie zu sagen hat, ist vielleicht das Reifste, was bei dieser Demo vorgetragen wird. Sie verzichtet weitgehend auf Polit-Floskeln, spricht aus dem Bauch heraus über den knapper werdenden sozialen Wohnraum. Sie ist Mitte dreissig und muss ihren Text nicht ablesen. In den vergangenen Wochen hat die kräftig gebaute Frau verschiedene Initiativen rund um die Notunterkunft auf den Weg gebracht, darunter die AG Wohnen.

Viele der Geflüchteten stehen inzwischen in den Startlöchern. Sie haben eine befristete Aufenthaltserlaubnis und die realistische Aussicht auf dauerhaftes Bleiben. Jetzt gilt es aus dem improvisierten Leben in der Turnhalle den Sprung in eine Wohnung zu schaffen. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Bewohner in ein Containerdorf verlegt werden.

Die AG Wohnen versucht dies abzuwenden, schreibt Agenturen wie Immobilien Scout an, Wohnungsvermieter und solidarische Netzwerke. Der Prozess gestaltet sich zäh. Der Frust setzt Energien frei, die bei dieser Demo spürbar sind.

Die Schüchternheit des Protests

Im Protestzug sind auch Kinder, manche albern herum, die Polizisten wirken entspannt. “Löhne rauf, Mieten runter” skandieren die Demonstrierenden, als sie die Schönhauser Allee überqueren, dann auch “Kein Mensch ist illegal, Bleiberecht für alle”. Die Protestchöre ertönen entweder auf Deutsch oder Englisch. Bei der Kundgebung vor der nächsten Notunterkunft in der Malmöer, in der ausschliesslich Männer untergebracht sein sollen, kommen die Geflüchteten selbst zu Wort. In ihrer Sprache.

Ein aus Afghanistan Geflüchteter bekommt das Mikro in die Hand. Er findet rasch die erste Textzeile auf dem Blatt, das er in der anderen Hand vor sich hält. Als er in das Mikro hineinsprechen möchte, schnellt ein Mitglied der Solidarischen Jugendbewegung zu ihm und richtet den Winkel damit er besser zu hören ist. Die Stimme ist nun laut und deutlich zu vernehmen. Es ist der schillerndste Moment des Tages.

Vielleicht weil das Gesprochene in einer anderen Sprache daherkommt, rückt die Stimme so stark in den Fokus. Die Schüchternheit des Sprechers ist kaum zu überhören und sie ist berührend. Die Stimme intoniert den politischen Text vorsichtig, geradezu tastend.

Die Leute vor der Notunterkunft – Geflüchtete, Security-Mitarbeiter und Passanten – gucken wie gebannt. Einige von ihnen verstehen den Inhalt des Gesprochenen, manche lesen das übersetzte Flugblatt, das sie gerade von den jugendlichen Aktivisten in die Hände gedrückt bekommen haben. Die meisten Mädchen und Jungs von der Jugendbewegung verschnaufen derweil, sitzen auf der Strasse, beginnen miteinander zu quatschen.

Ein gemeinsames Anliegen?

Immer wieder ist an diesem Nachmittag von Solidarität die Rede. Solidarität etwa, die die Jugendbewegung mit den Geflüchteten demonstrieren möchte. Die Schüler appellieren an den Gemeinsinn. “Lasst es nicht zu, dass man einen Keil zwischen uns treibt. Wir müssen zusammenhalten. Wir alle haben ein gemeinsames Anliegen.” Und dann: “Say it loud and say it clear, refugees are welcome here!”

Hier geht es also um die Solidarität mit den Schwächsten und Schutzbedürftigsten. Einerseits. Anderseits geht es um eine Solidarität unter Gleichen, einen Schulterschluss auf Augenhöhe. Diese Idee bringen Slogans zum Ausdruck, die Kritik am Gebaren des Staats sowie an der neoliberalen Wirtschaft üben. Beides werde zur systemischen Bedrohung für Menschen- und Bürgerrechte.

Man mag diese Herleitung etwas kopflastig finden, zumal hier auf der Strasse Stimmung gemacht wird, die auf emotionaler Ebene ansteckend sein soll. Und in der Tat ist kaum zu verhehlen, dass Einiges von dem hier Demonstrierten etwas seminaristisch rüberkommt. Doch wen wundert es? Hier protestieren keine erfahrenen Demonstranten.

Die Schülerinnen und Schüler bringen ihre im Reifen begriffene Weltsicht zum Ausdruck, ihre Haltung, ihre Angst. Geflüchtete erscheinen ihnen wie natürliche Verbündete. Das wird vor allem dann nachvollziehbar, wenn die Protestrufe und -reden auf das Thema “Bezahlbares Wohnen” kommen.

Die Jugendlichen, die bei dieser Demo die Wortführer sind, sehen ihren Zugang zum Wohnungsmarkt versperrt. Und sie betonen: Der Zugang ist Geflüchteten gleichfalls verbaut, ebenso wie älteren Menschen, Arbeitssuchenden und anderen Menschen in prekären Lebenssituationen, etwa jenen im kreativen Milieu. “Wir alle müssen zusammenhalten und den Mächtigen einen Denkzettel verpassen!”

Baustelle und Grenzübergang

Der Protestzug bewegt sich weiter in Richtung Rathaus Pankow, wo die Abschluss-Kundgebung stattfinden soll. Es ist eine Laufstrecke, bei der man Berlin neu entdecken kann – durch die Augen anderer Menschen, aus ungewohnter Perspektive. Bei einer Baustelle muss die Menschenmenge durch einen Tunnel, Metallzäune ringsherum.

Der Anblick erinnert an einen Grenzübergang und vielleicht auch daran, dass die Landesgrenzen, die Deutschland aussen errichtet, um sein Staatsgebiet zu definieren, auch im Inneren verlaufen können – immer dort, wo der Zugang zu einem Leben in gesicherten Menschen- und Bürgerrechten verwehrt bleibt.

Erneut ertönt Rio Reisers heisere Stimme: “Ihr kriegt uns hier nicht raus, das ist unser Haus!” Nach der Baustelle führt der Weg durchs Grüne. Der Protestzug wirkt wie eine Spaziergangsgesellschaft, arabische Musik läuft. Ein Geflüchteter aus dem Irak, der ohne seine Mutter und seinen jüngeren Bruder fliehen musste, weil die Flucht für sie noch gefährlicher ist als das Leben vor Ort, beschwert sich über den melancholischen Ton. Er will aufmunternde Musik hören.

Auf seinem Handy hat er Fotos von einer Demo im Irak, eines davon zeigt ihn blutüberströmt, mit einer Schnittwunde auf dem Kopf. “Wir wurden angegriffen.” Nicht alle, die hier mitlaufen haben so etwas Dramatisches erlebt, für viele ist es die erste Demo ihres Lebens. Fehlende Politisierung? Sicherlich auch ausschlaggebend dürfte das Fehlen einer “ausgereiften” Protestkultur in Syrien, im Irak oder in Afghanistan sein.

Das Knistern eines Anfangs

Der Nachmittag scheint ein unverhofftes Demokratie-Training mit sich zu bringen. Im Protestzug mitlaufen, mitskandieren, zuhören und öffentlich sprechen – das sind Schritte im demokratischen Raum. Schritte, diesen Raum vermessen und ihn überhaupt erst herstellen, da er selbstredend auch in Deutschland nicht per gegeben, geschweige denn “ausgereift” ist.

Geflüchtete, die diesen Weg in die Demokratie einschlagen, entdecken den Integrationsprozess von einer neuen Seite – sozusagen als bewusste politische Partizipation. Es ist eine Entdeckung, die auch die hiesigen Bürgerinnen und Bürger machen müssen.

An diesem Nachmittag wird jedenfalls spürbar, dass dieser Integrationsprozess ein gemeinsamer Kampf auf unterschiedlichen Ebenen sein kann. Ja, sein sollte. Der Kampf um Zugänge zum Wohnraum, um Zugänge zur Demokratie und um Zugänge zum gesellschaftlichen Leben im Allgemeinen.

Wer die Stimmen des Geflüchteten aus Afghanistan, der suchend und schüchtern vorträgt und des Sprechers der Solidarischen Jugendbewegung, der fordernd und forsch spricht – wer diese Stimmen unmittelbar nacheinander hört, der hört das Fordernde im Schüchternen und das Suchende im Forschen. Der hört in all dem immer auch das Knistern eines Anfangs.

Krystian Woznicki
berlinergazette.de

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