Chile - Der 11. September Geschichte und Nachlass einer Diktatur

Politik

Der 11. September hat in Chile eine besondere Bedeutung, historisch wie sozial. 1973 wurde an diesem Tag durch einen Militärputsch die sozialistische Regierung Allendes' gestürzt.

Augusto Pinochet (Bildmitte) mit dem chilenischen Politiker William Thayer.
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Augusto Pinochet (Bildmitte) mit dem chilenischen Politiker William Thayer. Foto: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile (CC BY 3.0 cropped)

10. September 2009
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Haben sich die Verhältnisse stark geändert, bleiben doch die Rahmenbedingungen nach dem „paktierten Übergang“ zur Demokratie im März 1990 nahezu die gleichen. Die Concertación hält weiter am neoliberalen Wirtschaftsmodell fest und die Verfassung von 1980, ein Kind der Diktatur, zementierte eine repressive Gesetzgebung.

Doch auch der Widerstand blüht auf. Proteste gegen die Regierung und ihre Vorhaben mehren sich seit Jahren und lassen sich zusehends schwieriger in die Staatsraison integrieren. Beantwortet wird dies mit zum Teil heftigen Repressionen. Aufstände werden niedergeknüppelt, jährlich werden Protestierende von den Carabineros, der chilenischen Militärpolizei, erschossen. Das makellose Bild der chilenischen Demokratie trägt zunehmend Risse davon.

Alles beim alten? – Kontinuitäten und Brüche im post-diktatorischen Chile

So unterschiedlich die sozialen Bewegungen in Chile heute auch sein und so wenig Schnittstellen sie miteinander haben mögen, sehen sie sich nach der Militärregierung doch mehr oder minder den gleichen Problemen ausgesetzt. Durch den „paktierten Übergang“, eine Bezeichnung für den mit Abmachungen zwischen demokratischer Elite und Militärjunta gekennzeichneten Prozesses zur Demokratie, konnten alte Übel nur schwerlich beseitigt werden. Die Concertación, das Mitte-Links Bündnis das seit dem Übergang die Regierung stellt, setzt den neoliberalen Wirtschaftskurs unentwegt fort. Daraus entstehende soziale Konflikte werden, sofern sie sich nicht integrieren lassen, mit den Mitteln bedacht, welchen den staatlichen Behörden am vertrautesten sind: „Demonstrationen werden nicht genehmigt, gegen die Teilnehmer wird mit Tränengas, Kavallerie und Greiftrupps vorgegangen, die auf ihren gepanzerten Fahrzeugen wie auf römischen Schlachtwagen durch die Strassen Santiagos fahren“ [1].

Die zum Teil massiven Repressionen werden juristisch von einer Verfassung gestützt, die noch aus der Militärdiktatur stammt. Diese durch ein Schein-Plebiszit in Kraft getretene Verfassung gilt als das grosse Erbe der Diktatur. Das Antiterror-Gesetz, während der Diktatur eingeführt, wurde nach den Anschlägen auf das World Trade Center 2001 deutlich verschärft. Heute werden Steine schmeissende Jugendliche und Landbesetzer_innen unter diesem Gesetz für fünf Jahre und mehr weggesperrt.

Flankiert werden die Repressionen von konservativen Medien, die aus Protestierenden Delinquent_innen machen. Sozial-politische Konflikte werden medial zu Strafdelikten und somit zu einem ordnungspolitischen Problem. El Mercurio, die auflagenstärkste Tageszeitung Chiles, bot schon der Diktatur „medialen Flankenschutz“. Unter ihr konnte sich der Printkonzern ungehindert ausbreiten. Gegenwärtig stellt dieser eine von zwei Konsortien, auf die sich landesweit eine Medienmacht von mehr als 90% konzentriert [2]. Im Zuge der Transition änderte sich auch die Berichterstattung des Mercurio. Rief er Anfang der 70er noch indirekt zum Sturz der Regierung auf, unterlässt er dies heute. Über die Geschehnisse während der Diktatur wird sich allerdings ausgeschwiegen. Nur wenig Raum wird kritischen Initiativen in den Massenmedien hinsichtlich der Aufbereitung der Vergangenheit geboten. Kommt dennoch mal etwas über das Thema, wird die Diktatur nicht selten durch konservative Medien verharmlost. Die Gewalt sei „Verfehlungen Einzelner“ gewesen, und man „müsse auch die guten Seiten der Regierung Pinochets erkennen“.

Vorbedingungen des Putsches:

Schon 1970, mit der Machtergreifung der Unidad Popular (UP), war die chilenische Gesellschaft polarisiert, was sich auch in ihrem knappen Wahlsieg widerspiegelte.

Die Wirtschaftspolitik der UP, vor allem die Verstaatlichung bedeutender Wirtschaftssektoren wie dem Kupfer, verstärkte die Spaltung der Gesellschaft in zwei Lager. Begünstigt wurde diese Spaltung weiterhin durch das Klima des Kalten Krieges. Die nationalistischen Diskurse der Linken und Rechten warteten mit haarsträubenden Verschwörungstheorien auf um Verantwortliche für politische und ökonomische Miseren zu suchen. Die Linke beschuldigte die USA und ihre imperialistischen Agenten in Chile, während die Rechte über das Gespenst des internationalen Kommunismus schwadronierte, angeleitet von Kuba und der Sowjetunion.

Der Kalte Krieg legte ebenfalls den Grundstein für umstürzlerische Pläne, die seit 1963 massiv von der US-Regierung verfolgt wurden. In diesem Jahr wurden erstmals geheimdienstliche Tätigkeiten eingeleitet um einen Wahlsieg der UP zu verhindern. Als dies 1970 jedoch scheiterte, stand fest, dass die Regierung der Unidad Popular zu Fall gebracht werden müsse. Der CIA entsandte Agenten nach Chile, finanzierte die Opposition und die konservative Tageszeitung El Mercurio, lieferte Informationen und bildete Militärs aus. Begleitet wurden die Aktivitäten des Geheimdienstes durch Wirtschaftsblockaden der US-Regierung. Stefan Rinke, einem Sozialwissenschaftler an der FU Berlin, zufolge legt der jetzige Forschungsstand nahe, "dass die Destabilisierungsbemühungen der USA ein wichtiges, wenngleich nicht entscheidendes und vor allem keineswegs ausschliessliches Element in der Herbeiführung des Putsches waren" [3].

Streiks der Opposition im Inland sowie die Wirtschaftsblockaden brachten die chilenische Wirtschaft ins Wanken. 1972 spitzte sich die Lage weiter zu. Anschläge und gewaltsame Konfrontationen waren die Folge. Die Christdemokraten wandten der UP endgültig den Rücken zu, wodurch die Opposition die Mehrheit im Parlament errang. Ein Totalboykott schmetterte jeden Antrag der Regierung ab und machte sie parlamentarisch handlungsunfähig.

Ende Juni 1973 spiegelte sich das Ausmass der innergesellschaftlichen Krise am Tanquetazo wider, dem ersten Putschversuch, der jedoch verhindert werden konnte.

Wie dieser Versuch im Juni zeigte, gab es eine zunehmende Bereitschaft innerhalb des Militärs die Staatskrise gewaltsam zu lösen. Dies wurde weiterhin durch die antimilitaristische Haltung linksradikaler Gruppen verstärkt, in der sich das Militär als Institution an sich bedroht sah. Tage vor dem 11. September stimmten sich die Oberbefehlshaber der drei Waffengattungen, namentlich der Marineadmiral José Toribio Merino, der Luftwaffengeneral Gustavo Leigh, der Oberbefehlshaber des Heeres Augusto Pinochet sowie der General der Carabineros César Mendoza aufeinander ab. Am Vorabend des 11.9. unterzeichneten sie gemeinsam eine Deklaration des Putsches in der sie sich auf die Bewahrung der „historisch-kulturellen Identität des Vaterlands“ beriefen.

Staatsstreich und Festigung der Militärdiktatur

Am Morgen des 11. Septembers 1973 mobilisierten die Streitkräfte ihre Truppen. Die Marine nahm die Hafenstadt in Valparaíso ein, während die Armee Concepción, eine Hochburg der Arbeiterklasse im Süden Chiles, besetzte. Die Hauptstadt, in der am heftigsten Widerstand geleistet wurde, besetzte nach und nach das Heer. Da Allende nicht Willens war zu kapitulieren, bombardierte gegen die Mittagszeit die Luftwaffe den Präsidentenpalast La Moneda. Allende starb bei den Gefechten, unklar ist jedoch ob er sich das Leben nahm oder von Putschisten getötet wurde.

In den darauf folgenden Tagen richtete die Junta ihr Augenmerk auf die Verfolgung der Opposition. Hunderte von Menschen starben, tausende wurden in Lagern interniert und gefoltert, oppositionelle Medien verboten.

Noch im gleichen Jahr gründete die Militärdiktatur die Geheimpolizei Dirección de Inteligencia Nacional (DINA), welche ihre politischen Gegner landesweit, aber auch im Ausland verfolgte. Berühmt-berüchtigtes Beispiel ist das transnationale Terrornetzwerk Operación Cóndor, das die Ausschaltung von Regimegegner_innen und der Kampf gegen die "internationale terroristische Aggression", wie es in einem Dokument der argentinischen Präsidentschaft vom 18. September 1979 heisst, zum Ziele hat. An dem Netzwerk beteiligten sich neben lateinamerikanischen Militärdiktaturen auch die CIA und hochrangige französische Militärs. Die Initiative für den Aufbau ergriff jedoch Manuel Contreras, der damalige Leiter der DINA. Diese spielte weiterhin eine Schlüsselrolle (1, 2) in dem Austausch von Informationen zwischen den Diktaturen. Auf das Konto der DINA gehen mindestens 119 politische Morde.

Parallel zur systematischen Verfolgung von Regimegegner_innen wurden erste Internierungs- und Folterlager errichtet. Diese wuchsen bis zum Ende der Diktatur am 11. März 1990 auf bis zu 1.200 an und verteilten sich über das gesamte Land. Auch die Colonia Dignidad, eine christliche Sekte um den Nazi Paul Schäfer wurde, in Absprache mit diesem, von Geheimdiensten als Folterzentrum genutzt. Sie spielte jedoch schon weit vor dem Putsch eine bedeutsame Rolle: so unterstützte die Colonia Dignidad schon früh die Aktivitäten der faschistisch-terroristischen Organistation Patria y Libertad mit Waffen aus Deutschland, durch welche diese in der Regierungszeit der UP Attentate und Sabotageakte verübte. Gute Beziehungen mit den USA, unter der Nixon- und Ford-Regierung, verhinderten indessen Untersuchungen der Menschenrechtslage sowie Resolutionen gegen das Regime in den Vereinten Nationen [4].

Die Ideologie des politischen Systems unter Pinochet speiste sich zu bedeutenden Teilen aus einer völkisch-nationalistischen und antikommunistischen Haltung. Die „Rettung der Nation“ gegen "kommunistische Söldner" [5] wurde propagiert. Es herrschte eine autoritäre Oligarchie vor, die ein rigiden Antipluralismus durchsetzte.

1980 gab sich die Diktatur durch eine eigene Verfassung einen seriösen Anstrich. Diese Schaffung eines institutionellen Rahmens durch und für das Regime kann als Legitimierungsversuch gewertet werden. Galt Pinochet, der seit 1974 zusätzlich als Präsident auftrat, „der Schein der Verfassungsmässigkeit“ [6] als wichtig. Grundlegende Merkmale sind die benötigte ¾ Mehrheit im Kongress zu deren Änderung und das binominale Wahlsystem, welches in jedem Wahlkreis nur zwei Sitze für die jeweiligen Siegerparteien bereit stellt. Dies begünstigt einseitig die Parteirechte, die seit der Transition die Opposition im Parlament stellt, und diskriminiert kleinere Parteien. Die Verfassung, die durch ein Schein-Plebiszit in Kraft trat, ist heute noch in Teilen gültig.

Gegen Mitte der 70er Jahre litt die nationale Ökonomie unter einer schweren Krise. Um dieser zu begegnen wurde von den so genannten "Chicago Boys", einer Gruppe chilenischer Wirtschaftswissenschaftler, eine neoliberale Wirtschaftspolitik eingeleitet. Die Öffnung der Märkte und massive Privatisierungen waren unmittelbare Folge. Die umfassenden Privatisierungsmassnahmen betrafen Bereiche wie das Gesundheits- und Bildungswesen, Infrastruktur wie die Post, Elektrizität, das öffentliche Transportwesen und den Strassenbau. „Da der innere Feind der Militärs“, so der Sozialwissenschaftler Strassner, „weitgehend mit dem Klassenfeind der Wirtschaftseliten deckungsgleich war, ergänzten sich die neoliberale Wirtschaftspolitik und die militärische Repression“ [7]. Durch den Rückzug des Staates aus wirtschaftlichen und sozialen Kernbereichen verelendeten grosse Teile der Bevölkerung. Litten 1970 noch 6% unter extremer Armut, waren es 1987 bereits 13,5% der Bevölkerung. Der Anteil der Armen in der Bevölkerung stieg ebenfalls von 11 % 1970, auf 24,6% im Jahre 1987 an [8].

Widerstand wird populär

Ab 1978 kam erstmals die Besetzung fester Termine als Gedenkrituale und Gegenveranstaltungen wie etwa dem 4. September, der Machtergreifung der UP oder eben dem 11. September auf. An diesem Punkt geriet die Deutungsmacht des Regimes empfindlich ins Wanken. Massendemonstrationen zu den Gräbern prominenter Opfer der Diktatur legten den Grundstein für die heutigen Märsche hin zum Hauptfriedhof. Repressionen blieben nicht aus und erreichten am 10. Jahrestag des Putsches einen Höhepunkt.

Anfang der 80er Jahre gewann der Widerstand gegen die Diktatur an Aufwind. Die ersten populären Protestwellen gehen auf die Verelendung durch die neoliberalen Reformen in Chile zurück. Die Initiative ergriffen regimetreue Gewerkschaften. Kleine und mittelständische Unternehmen, die sich während der Regierung der Unidad Popular noch aktiv an Destabilisierungskampagnen beteiligten, unterstützten die Gewerkschaften rasch, sahen sie sich von den Wirtschaftsreformen doch in ihrer Existenz bedroht. Die katholische Kirche deckte den Gewerkschaften derweil den Rücken. Sie selbst trat schon 1975 mit der Gründung der Vicaría de la Solidaridad in Erscheinung, welche Verschwundene registrierte und ihre Angehörigen unterstützte. „Überhaupt zeigte sich [... Mitte der 80er Jahre] immer deutlicher eine tiefe Spaltung der chilenischen Gesellschaft in Anhänger und Gegner des Pinochet-Regimes“ [9].

Die Armenviertel La Victoria, Villa Francia und Lo Hermida, galten seit jeher als kämpferisch. Die Unidad Popular genoss grossen Rückhalt unter den Bewohner_innen, den pobladores. Dadurch wurden sie auch zur Zielscheibe staatlicher Repression während der Diktatur. Den Widerstand konnten sie damit allerdings nicht brechen. Die pobladores schlossen sich in Nachbarschaftsgruppen und Stadtteilkommitees zusammen, planten regimekritische Aktionen und organisierten ollas comunes, Essen zu günstigen Preisen, ähnlich linker Volksküchen in Deutschland. Den Frauen kam der Organisierung in den poblaciones eine Schlüsselrolle zu.

Vom „paktierten Übergang“ zur Demokratie

1985 kam auf Initiative des Erzbischofs Kardinal Juan Fransisco Fresno der Acuerdo Nacional para la Transición a la Plena Democracia (Nationalen Übereinkunft für den Übergang zur vollen Demokratie) zusammen. Dieses Bündnis, an dem sich alle Parteien ausser der kommunistischen beteiligten, trat in Dialog mit der Militärdiktatur und forderte Schritt für Schritt eine Rückkehr zur Demokratie. Aus diesem Grund wird der Transitionsprozess auch als „paktierter Übergang“ bezeichnet, gab es dementsprechend Verhandlungen über Art und Weise des Übergangs mit der Diktatur. Bestandteil des Paktes war u.a. Militärs hohen Ranges, die an Menschenrechtsverletzungen beteiligt waren, juristisch nicht zu behelligen.

Als 1989 das Plebiszit Pinochets zu einer weiteren Amtszeit als Präsident scheiterte, erfolgte langsam diese Phase des Übergangs. Arenhövel spricht sich allerdings gegen einen alleinigen Pakt aufgrund Abmachungen zwischen der militärischen und demokratischen Elite aus: „Der Transitionsmodus eines „paktierten Übergangs“, des Konsenses und der Versöhnung war daher nicht allein den konkreten Eliten-Konstellationen geschuldet, sondern trug ebenfalls den in grossen Teilen der Bevölkerung tiefsitzenden Ängsten vor einer Wiederholung konfliktreicher, polarisierender Auseinandersetzungen Rechnung“ [10]. Solche Ängste sollten Formen politischer Partzipation bis heute prägen.

Sebastián Sternthal

[1] Boris Schöpnner 2008. Nachbeben. Chile zwischen Pinochet und Zukunft. Frankfurt: Trotzdem Verlagsgenossenschaft. S. 222-3.

[2] Vergleiche: Mark Arenhövel 1998. Transition und Konsolidierung in Spanien und Chile. Strategien der Demokratisierung. Giessen: Focus, S. 169

[3] Stefan Rinke 2007. Kleine Geschichte Chiles. München: Beck. S. 157

[4] Vergleiche: Stefan Rinke 2007. Kleine Geschichte Chiles. München: Beck, S. 161

[5] Rinke, Stefan 2007: Kleine Geschichte Chiles. München: Beck, S. 157

[6] Stefan Rinke 2007. Kleine Geschichte Chiles. München: Beck, S. 160

[7] Veit Strassner 2007. Die offenen Wunden Lateinamerikas. Vergangenheitspolitik im postautoritären Argentinien, Uruguay und Chile. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften, S. 231

[8] Quelle: Peter Imbusch 1995. Unternehmer und Politik in Chile. Eine Studie zum politischen Verhalten der Unternehmer und ihrer Verbände. Frankfurt am Main: Vervuert, S. 201

[9] Stefan Rinke 2007. Kleine Geschichte Chiles. München: Beck, S. 171

[10] Vergleiche: Mark Arenhövel 1998. Transition und Konsolidierung in Spanien und Chile. Strategien der Demokratisierung. Giessen: Focus, S. 124