Der Genozid in Armenien Die Schatten der Vergangenheit?

Politik

Anlässlich des 100. Jahrestages der Deportationen der Armenier im Osmanischen Reich, aber auch wegen der im Rahmen der polnisch-russischen Spannungen wieder aufgelebten Debatte um Katyn ist der Begriff des Völkermords derzeit wieder in aller Munde.

Karte im armenischen Viertel von Jerusalem über den Genozid in der Türkei.
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Karte im armenischen Viertel von Jerusalem über den Genozid in der Türkei. Foto: Adiel lo (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

4. Mai 2015
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Die Gemüter erhitzen sich, diplomatische Noten werden ausgetauscht, Moralwachteln und Nationalisten beschuldigen einander der Geschichtslügen, und ergreifen den Anlass, um ihrer Selbstgerechtigkeit und ihrem Rassismus wieder einmal freien Lauf zu lassen.

Bei diesem verbalen und schriftlichen Schlagabtausch wird so getan, als sei das Genozid eine erwiesene Tatsache, die von irgendwelchen Schuften geleugnet wird – wie manchmal unterstellt wird, sicher mit dem bösen Hintergedanken, schon den nächsten Völkermord zu planen. Die Genozidvorwürfe gehen daher mit dem entsprechenden Erdogan- und Putin-bashing einher.

Dabei ist das Genozid als juristischer Begriff einer der umstrittensten überhaupt.

1. Das Völkerrecht

Zum Unterschied vom innerstaatlichen Recht, wo ein Gewaltmonopol das Recht setzt und alle seine Bürger darauf verpflichtet, gibt es im Völkerrecht eine solche übergeordnete Instanz nicht. Hier stehen sich Gewaltmonopole gegenüber. Alle Fragen des Völkerrechts betreffen dadurch unmittelbar die Souveränität und werden daher von Regierungen und Verfassungsjuristen mit Vorbehalt behandelt: Man möchte sich dieses Instrumentes vielleicht gegenüber einem anderen Souverän bedienen, aber dabei verhindern, dass es gegen den eigenen Staat in Anschlag gebracht wird.

Aus diesem Umstand, dass sich auf dem Boden des internationalen Rechts feindliche Brüder, Konkurrenten um Weltmacht und Weltmarkt gegenübertreten, ergibt sich auch, dass das Völkerrecht ständig umgeschrieben werden und sich den jeweiligen Konstellationen anpassen muss. Sowohl auf dem Gebiet der Gesetzgebung, also des Abfassens von Tatbeständen und den dafür verhängten Strafen, als auch in der Rechtspflege gibt es da viel Anlass für Streit und Reibungen. So gibt es z.B. seit 2002 einen internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der von den USA nicht anerkannt wird. Verschiedene mit den USA verbündete Staaten haben bereits Erklärungen abgegeben, dorthin niemals US-Staatsbürger ausliefern zu wollen. Viele Menschenrechts-Fans betrachten das als Skandal und Missachtung des Rechts durch die USA. Sie begreifen nicht, oder wollen nicht zur Kenntnis nehmen, dass nicht das Recht über der Macht steht, sondern umgekehrt, und dass es eben die Weltmacht ist, die die Normen setzt oder dies zumindest anstrebt.

2. Der historische Kontext, unter dem der Begriff „Genozid“ entstand

Der Mann, der das Genozid „schuf“, der jüdisch-polnische Jurist Raphael Lemkin, sollte im Auftrag der polnischen Exilregierung einen Begriff erfinden, oder einen Tatbestand definieren, mit dem die Verbrechen der deutschen und sowjetischen Besatzungstruppen in Polen angeklagt werden konnten. Die Schwierigkeit, die er vor sich hatte, war einerseits, dass damals der II. Weltkrieg noch im Gange war, obwohl sich die Niederlage der Achsenmächte bereits abzeichnete. Das erste und Allerwichtigste war, den Krieg als solchen, der ja durchaus als Völkermord betrachtet werden kann, aus dieser Definition auszugrenzen. Der Krieg ist nämlich etwas, was sich jede Nation als wichtigstes und letztes Mittel der Durchsetzung bzw. Selbstbehauptung vorbehält, ihn als solches als Verbrechen zu qualifizieren, geht gegen die Grundlagen des Völkerrechts.

Lemkin wollte einen Tatbestand festlegen, nachdem folgende Ereignisse strafbar gemacht werden konnten:

1. der Völkermord an den Armeniern 1915 ff., der seit damals unter den Juristen, die sich mit internationalem Recht befassten, eine ungelöste und ungesühnte Tat darstellten, einen historischen Präzedenzfall, der auch ihn selbst seit seiner Studienzeit beschäftigt hatte,
2. die Verbrechen der Nationalsozialisten an den europäischen Juden, deren Ausmass damals, 1944, noch gar nicht abzusehen war, obwohl jedem klar war, dass das alles bisher auf diesem Gebiet Dagewesene sprengen würde, und
3. die Massaker des sowjetischen Geheimdienstes an polnischen Offizieren, von denen die polnische Exilregierung seit 1941 wusste, dabei aber bei den Westalliierten auf wenig Gegenliebe stiess, weil diese die Kriegskoalition gegen Hitlerdeutschland nicht gefährden wollten.

Diese drei Massenmorde oder Massenvernichtungen sollten also in diesen Begriff hineinpassen. Damit war zunächst einmal klar, dass die Zahl der Opfer nicht das Ausschlaggebende des Verbrechens sein konnte, da bei keinem der 3 Fälle die Anzahl auch nur annähernd bekannt war.

3. Der Begriff als solcher

Das Genozid als zu verfolgendes und zu bestrafendes Verbrechen ist mit dem deutschen Wort „Völkermord“ unzureichend wiedergegeben. Lemkin ging es darum, die betroffene Personengruppe so zu definieren, dass alle 3 oben beschriebenen Fälle hineinpassten. Er wähle daher den griechischen Ausdruck „Genos“, das einen Stamm, auf jeden Fall eine Gruppe blutsverwandter Leute bezeichnet. Hier war es wichtig, die Verfolgung aufgrund von politischer Gesinnung aus der Genozid-Definition auszuschliessen – Kommunisten zu verfolgen und umzubringen, wie z.B. eine halbe Million in Indonesien, fällt nicht unter Genozid. Interessanterweise war es gerade die Sowjetunion, die in den folgenden Jahren immer wieder darauf drang, politische Verfolgung zu keinem völkerrechtlichen Tatbestand zu machen. Die von der massenhaften Vernichtung betroffene Personengruppe musste also die Charakteristiken aufweisen, die im Nachkriegs-Sprachgebrauch mit dem unappetitlichen Begriff „unschuldige Opfer“ zusammengefasst wurden: Leute, die von sich aus garantiert keinen Anlass gegeben hatten, Opfer von Verfolgung zu werden.

Dieser Genos-Begriff gibt immer wieder Schwierigkeiten auf, wenn es um die Frage geht, ob hier ein Genozid vorliegt oder nicht. Die Armenier, die im Osmanischen Reich als eigene Millet – eine bestimmte Autonomierechte geniessende Glaubensgemeinschaft – anerkannt waren, fallen genaugenommen nicht unter den Genos-Begriff. Noch problematischer ist die Angelegenheit bei den Opfern des Holocaust, die vom nationalsozialistischen Staat zu einem Volk definiert wurden, während sie in ihrem Selbstverständnis Angehörige der jeweiligen Nation waren, auf deren Staatsgebiet sie lebten, also Ungarn, Polen, usw. Es wird also bei der Anerkennung der Shoah als Genozid die Definition der Täter über das Selbstverständnis der Opfer gestellt.

Bei den polnischen Offizieren handelte es sich um Kriegsgefangene und Angehörige der Streitkräfte und Vertreter der Elite – das war der Grund, warum sie der Sowjetmacht im Wege standen, nicht bloss der Umstand, dass sie polnische Staatsbürger waren. Auch bei den Ermordeten von Srebrenica ist der Genos-Begriff fragwürdig: Die Muslime als staatsbildende Nation Jugoslawiens wurden in der Kardeljschen Verfassung von 1974 von einer Religionsgemeinschaft zu einer Nationalität umdefiniert, wo ähnlich wie bei den Juden im 3. Reich nur mehr die Abstammung zählte.

Andere Gemetzel, wo der Genos-Begriff zu Recht in Anschlag gebracht werden könnte, wie bei diversen Massenvernichtungsaktionen im Zuge des Kolonialismus, werden nie in den Rang eines Genozids erhoben, weil sich kein Ankläger findet, der an einer solchen Art von Verurteilung interessiert wäre.

Ähnlich ist es mit dem 2. Teil des Wortes. Bei den alten Griechen wurde Lemkin offenbar nicht so richtig fündig – sie waren zu kleinstaatlich organisiert, um richtig klotzige Massenmorde hinzukriegen. Also wandte er sich dem Römischen Reich zu und klebte einen lateinischen Begriff an den griechischen an. Mit dem blossen Hinrichten und Abschlachten ist es hierbei aber auch nicht getan: Damit ein Genozid vorliegt, muss die Absicht nachgewiesen werden, die betroffene Personengruppe vernichten zu wollen. Liegt ein derartiger Beweis vor, so genügt das theoretisch bereits für ein Genozid-Urteil, auch wenn die Absicht gar nicht zur Durchführung gelangt ist. So ergibt sich das juristische Paradox, dass die wirklich konsumierten Genozide an afrikanischen und amerikanischen Eingeborenen nie zur Anklage gelangen, während Kriegshandlungen unter dem Gesichtspunkt eines Genozids untersucht und abgehandelt werden, weil sich ein Ankläger findet, der behauptet, diese Absicht hätte bestanden, wie im Fall von Bosnien.

4. Die Geschichte der Genozid-Anklagen und -Vorwürfe

Thematisch gehört das Genozid zu den „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, die nicht verjähren und vor jedem Gericht der Welt angeklagt werden können. Wegen der politischen Implikationen in Sachen Verfolgung wurde es jedoch ausgegliedert und 1948 durch UNO-Resolution die Völkermord-Konvention erlassen, die seither von einer Reihe von Staaten ratifiziert wurde. Das Gedränge hielt sich in Grenzen. Die Schweiz z.B. ratifizierte sie erst im Jahr 2000. Die Zurückhaltung erklärt sich daraus, dass die meisten Staaten darin kein Mittel ihrer Aussenpolitik entdeckten oder aber, wie die Türkei oder die Sowjetunion, als mögliche Täter ins Visier genommen wurden, was ihr Begeisterung für diese völkerrechtliche Keule dämpfte. In den Nürnberger Prozessen kam der Genozid-Anklagepunkt nicht zum Einsatz – die Urteile wurden auf Grundlage der „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verhängt. Das war deshalb, weil sich die Debatten um den Genozidbegriff hinzogen und er deshalb dem Gericht nicht als Instrument zu Verfügung stand.

Während des Kalten Krieges führte der Begriff in juristischen Fachzeitschriften und UNO-Kommissionen ein Schattendasein. Erst in den 90-er Jahren, nach dem Abgang der SU erwachte er zu Leben und ist inzwischen eine regulärer Bestandteil der Aussenpolitik vieler Staaten geworden. Die EU machte die Anerkennung des Armenier-Völkermords durch die Türkei zur Bedingung eines EU-Beitritts. Die bosnische Regierung möchte den Genozid-Begriff für einen Staatsgründungs-Mythos instrumentalisieren. In der Ukraine dient der „Hungermord“, der Holodomor, zur Begründung einer antirussischen Politik.

5. Die politische Bedeutung des Genozid-Begriffs

Man muss begreifen, was der Genozid-Vorwurf gegenüber einem Staat bedeutet: damit wird er bezichtigt, sein Gewaltmonopol missbraucht und damit seine Legitimation eingebüsst zu haben. Auch wenn es eine Vorgängerregierung war, die dieses Verbrechens bezichtigt wird, so bleibt aufgrund der ebenfalls völkerrechtlichen Rechtskontinuität doch das meiste an der gegenwärtigen hängen: Ein Staat, dem Völkermord vorgeworfen wird, wird zu einem Unrechtsstaat erklärt. Bei aller Vergangenheitsbewältigung und Auschwitz-Gedenkfeiern usw. hat Deutschland nie eine offizielle Erklärung über den Völkermord an den Juden abgegeben – das, was jetzt von der Türkei in Bezug auf die Armenier verlangt wird.

Es kommt den EU-Staaten gelegen, dass sich die Armenier-Massaker dieses Jahr zum hundertsten Mal jähren. Der Grund für die jetzige Verurteilung der Türkei ist diese runde Zahl jedoch nicht.

Die Türkei ist der EU schon seit einiger Zeit ein einziges Ärgernis: Ihre Regierung lässt nämlich durchblicken, dass sie nicht vorhat, sich zum Hinterhof der EU zu machen, und dass sie auch ohne EU-Beitritt gut leben kann. Auch mit den USA hat sie sich angelegt: Sie schert aus der antirussischen Politik des Westens aus und schliesst sich den Sanktionen gegen Russland nicht an, sondern bietet ihnen sogar Unterschlupf für Pipeline-Projekte. Sie unterstützt den IS. Und was alle besonders ärgert: Die türkische Regierung kann sich diese Haltung leisten. Sie ist nicht erpressbar, weil sie durch ihre Lage ein viel zu wichtiger Vorposten der NATO ist, um sie Sanktionen oder einer Blockade zu unterwerfen, die sie womöglich endgültig aus dem westlichen Lager abdriften lassen würden.

Also muss sich die westliche Wertegemeinschaft zähneknirschend mit etwas Genozid-Getöse zufriedengeben.

Amelie Lanier