Entwicklung ist kein rein technisches Problem Ghana: Der Traum vom Ende der Armut

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Ein Dorf in Ghana ist Teil eines visionären Projekts: Innert nur fünf Jahren soll es hier allen besser gehen. Ein Besuch vor Ort.

Strassenszene in Yendi, einer Stadt im Nordosten von Ghana.
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Strassenszene in Yendi, einer Stadt im Nordosten von Ghana. Foto: Rtevels (CC BY-SA 2.0 cropped)

10. Mai 2016
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Wer sich nach Nabari aufmacht, begibt sich auf eine Zeitreise. Zwei Stunden dauert die Autofahrt in das kleine Dorf vom modernen Flughafen Tamale, einer Provinzhauptstadt im Norden Ghanas. Das letzte Stück des Wegs führt über eine ausgewaschene, verlassene Piste. Dürre Büsche und sonnenverbrannte Gräser prägen die Landschaft. Es ist eine unwirtliche Gegend, flach und weit, trocken und karg.

Bei der Ankunft auf dem Dorfplatz ist es Mittag, die Temperatur liegt bei knapp vierzig Grad. Auf den ersten Blick unterscheidet sich Nabari kaum von anderen Dörfern am Rand der Sahelzone, die sich von hier aus nach Norden ausbreitet. Die Bauern, die auf kleinen Feldern den Mais kultivieren, leben in rund hundert Hütten – einfache Behausungen aus Lehm, in denen es weder Strom noch Wasseranschluss gibt. Wer hier wohnt, gehört zu jenen, die der britische Ökonom Paul Collier als die «bottom billion» bezeichnet: jene Milliarde Menschen, die zwar im 21. Jahrhundert leben, deren Realität sich aber kaum von der des 14. Jahrhunderts unterscheidet».

Doch Nabari ist nicht bloss irgendein Nest in Ghana. Nabari ist der Schauplatz einer Vision. Hier soll die Frage beantwortet werden, die seit Jahrzehnten im Zentrum der Entwicklungszusammenarbeit steht: Wie wird aus einem ärmlichen Dorf inmitten von Nirgendwo ein lebenswerter, wirtschaftlich aufstrebender Ort?

Ein Marshall-Plan en miniature

Nabari ist Teil eines der grössten und ambitioniertesten Projekte, das es in der Geschichte der Entwicklungszusammenarbeit je gegeben hat. Lanciert hat es der amerikanische Ökonom Jeffrey Sachs. Er ist überzeugt, dass sich die Aufbauprogramme der 1980er- und 1990er-Jahre in den armen Ländern zu einseitig auf Marktöffnung, Privatisierung und Einschränkung der Staatsaufgaben konzentriert haben. «Lange haben wir den armen Ländern gepredigt, den Gürtel enger zu schnallen – auch jenen, die sich gar keinen Gürtel leisten können», formuliert Sachs seine Kritik an dieser Herangehensweise.

In seinem Bestseller «Das Ende der Armut» propagiert der Wirtschaftsprofessor von der New Yorker Columbia-Universität stattdessen ein ausgeklügeltes Entwicklungs-Rundumpaket. Gleichzeitig und umfassend müssen nach seiner Ansicht die drängendsten Grundprobleme angepackt werden: Gesundheit, Landwirtschaft, Bildung, Marktentwicklung und Infrastruktur. Nur dadurch werde ein Entwicklungsschub ausgelöst, durch den die Menschen den Sprung auf die Leiter des Fortschritts schaffen. Sachs legt damit eine Art Marshall-Plan en miniature vor – eine Interventionsstrategie für den dörflichen Mikrokosmos, die sich später auf ganze Regionen und Länder, vielleicht sogar auf den gesamten Kontinent ausdehnen liesse.

Kann das funktionieren? Um es zu beweisen, startete Sachs 2004 in zehn afrikanischen Ländern eine Entwicklungs-Grossoffensive, die bislang rund 200 Millionen Dollar gekostet hat. Dass extreme Armut überall binnen weniger Jahre besiegt werden kann, will er zusammen mit dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen anhand von 14 Regionen mit jeweils rund 30 sogenannten Millenniumsdörfern zeigen, darunter eben Nabari im Norden von Ghana. Die Welt soll sehen, dass es selbst in den scheinbar hoffnungslosesten Ecken Afrikas funktionieren kann, selbst in Nabari, wo drei von vier Dorfbewohnern mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen müssen und viele Menschen am Ende der Trockenzeit hungrig ins Bett gehen, wenn die Vorräte knapp werden.

Spital, Schule, Aufklärungskampagnen

Wie die Methode von Sachs in der Praxis aussieht, wird in Nabari ein erstes Mal am südlichen Dorfrand sichtbar. Auf einem grossen Platz aus roter, gestampfter Erde steht hier eine stattliche Krankenstation, die mit ihrer einladenden Veranda, mit Solarpanels und einem grossen Wassertank in das triste Dorfbild passt wie ein farbiger Hut in einen Schwarzweissfilm.

Mathilda Adojpai, eine junge Ghanaerin, die sich in gepflegtem Englisch als leitende Pflegerin vorstellt, führt durch die aufgeräumten Krankenzimmer und die bestens ausgestattete Apotheke. «Wir arbeiten zu viert hier, drei Pflegerinnen und eine Hebamme», erklärt sie. Zudem komme regelmässig ein Arzt vorbei, und seit kurzem gebe es sogar eine Ambulanz. «Früher mussten die Kranken aus den umliegenden Dörfern stundenlang zur Krankenstation laufen. Das war beschwerlich, manchmal kam die Hilfe zu spät.» Mit der Klinik habe sich die Gesundheitsversorgung der gesamten Region spürbar verbessert. «Und Sie werden sehen, das hier war erst der Anfang», verspricht Adojpai – und winkt vor der Klinik einen jungen Mann herbei, der den Besucher durchs Dorf führen soll.

Ruhigen Schrittes weist Jakubu Wuni, der in Nabari aufgewachsen ist, den Weg zur neuen Schule des Dorfes. Das lange, gelbrot bemalte Gebäude wirkt verlassen. «Es sind Schulferien», erklärt der Mann in der örtlichen Sprache Mampruli. «Die alte Schule war viel kleiner, oft fiel der Unterricht aus.» Mit den neuen Unterkünften für die Lehrer sei das besser geworden. Und die Kinder bekämen heute sogar ein Mittagessen.

Der Rundgang führt weiter zu den neuen Sanitäranlagen, schliesslich zu einem geräumigen Speicher für die Ernte, «In den letzten Jahren hat sich in Nabari einiges verändert», fasst Wuni zusammen. Bevor er sich auf dem Dorfplatz verabschiedet, fügt er hinzu, dass vieles davon gar nicht zu sehen sei: die landwirtschaftlichen Kooperativen etwa, die gratis verteilten Moskitonetze, die Schulungen für die Bauern und die zahlreichen Kampagnen zu Familienplanung, Marktzugang, Hygiene und Gesundheit.

So wird das theoretische Konstrukt der «integrierten ländlichen Entwicklung» in Nabari greifbar. Auch wird rasch klar, weshalb Sachs die Entwicklungshilfegelder, die nach Afrika fliessen, für viel zu gering hält. 27 Millionen Dollar sind allein für die Dörfer in Nordghana budgetiert, in denen während der fünfjährigen Projektzeit rund 500 Einzelmassnahmen umgesetzt werden. Das weckt hohe Erwartungen, nicht zuletzt bei den Dorfbewohnern.

«Wir sind enttäuscht»

Unter einem Holzverschlag neben der Hauptstrasse suchen einige Dorfbewohner Schutz vor der noch immer gleissenden Sonne. «Wir warten auf den Regen», erklärt ein älterer Herr in einem T-Shirt des FC Barcelona. «Wir hoffen, mehr Glück zu haben als letztes Jahr.» Das vergangene Jahr: Immer wieder kommen die Männer bei der Diskussion um Kosten und Nutzen des Millenniumsprojekts darauf zurück. Zwar sind sie froh über die neue Klinik und die Schule. Doch in der Landwirtschaft, in der die Dorfbewohner seit Generationen ihr bescheidenes Auskommen finden, liegt einiges im Argen. «Wir sind enttäuscht», sagt ohne Umschweife Haruna Dakungu, einer der Jüngeren in der Runde. «Im ersten Jahr war die Ernte gut, auch dank der Schulungen, der Düngemittel und dem neuen Saatgut.» Im vergangenen Jahr sei aber der Regen ausgeblieben. «Das wenige, das wir ernten konnten, reichte kaum für die eigene Familie. Verkaufen konnten wir nichts.»

Viele Dorfbewohner hatten im Rahmen des Millenniumprojekts einen Kredit für Düngemittel und Saatgut aufgenommen. «Nach der schlechten Ernte können die meisten aber nicht einmal mehr die Zinsen bezahlen. Viele von uns sind verschuldet und haben heute weniger Geld als vorher», sagt Dakungu. Einer der Bauern fügt hinzu, dass sie im Dorf gar Bäume gefällt und zu Holzkohle verarbeitet hätten, um aus den Verkaufserlösen ihre Kredite bedienen zu können. Ein anderer berichtet, er verstecke sich, wenn Leute vom Projekt ins Dorf kämen. «Weil ich keine Chance sehe, meine Schulden zu begleichen.» Jetzt bleibe nur die Hoffnung auf Regen.

«Uns wurde gesagt, dass alles besser wird, und wir haben es geglaubt», sagt Haruna Dakungu zum Abschied. «Klar, im Dorf hat sich einiges verändert. Doch weniger arm sind wir nicht. Bleibt es nochmals trocken, dann schaffen wir es kein weiteres Jahr.»

«Afrika ist kein Labor»

In Nabari endet das Millenniumsprojekt erst in anderthalb Jahren, für eine abschliessende Beurteilung ist es also noch zu früh. Doch die Zwischenbilanz fällt ernüchternd aus. Eine kürzlich veröffentlichte Evaluation bestätigt diesen Eindruck. «Bisher hatten die Massnahmen in den Millenniumsdörfern keinen Effekt auf die Armutsrate oder die Einkommen», bilanzieren die Autoren der Studie, Entwicklungsexperten des britischen Institute of Development Studies. Sie verglichen die jüngsten Entwicklungen in den Millenniumsdörfern im Norden Ghanas mit 68 umliegenden «Kontrolldörfern», die nicht Teil des Projekts sind.

Für viele Entwicklungsexperten ist das keine Überraschung. Immer wieder wurde das Millenniumsprojekt in den vergangenen Jahren scharf kritisiert, in vielen Regionen sind die Ergebnisse unter den Erwartungen geblieben. In einem viel beachteten Buch veranschaulicht die amerikanische Journalistin Nina Munk, die Sachs auf vielen Afrika-Reisen begleitet hat, die Diskrepanz zwischen den grossen Ambitionen und der bescheidenen Wirkung. «Sachs unterschätzt die komplexen, wechselnden Realitäten in den Dörfern», schreibt sie. «Afrika ist kein Labor, es ist chaotisch, vielfältig, unvorhersehbar.»

Die Beispiele für Fehleinschätzungen der Projektleiter sind zahlreich: In Uganda wurden Ingwer und Mais angebaut, obwohl es für Ersteren keinen Markt gab und Letzteren niemand essen mochte, weil er als Gefängniskost verschmäht war. In Kenia führten die Interventionen zu unerwarteten Zuwanderungsströmen, viele Fortschritte wurden durch eine Dürre und die politischen Unruhen zunichtegemacht.

Viele Fachleute werfen Sachs nun eine Art besserwisserische Ignoranz vor: Der Professor aus New York entwickle in seinem Büro die Pläne zur Rettung einer Welt, die er nur von Stippvisiten im klimatisierten Geländewagen kenne, deren Sprache er nicht spreche, deren Kultur ihm unbekannt sei.

Optimismus ist Programm

Das Büro der ghanaischen Millenniumsdörfer befindet sich in Bolgatanga, einer kleinen Stadt nicht weit von der Grenze zu Burkina Faso. Beim Besuch wird schnell klar, dass die Kritik am Grossprojekt auch hier ihre Spuren hinterlassen hat. Die Ankunft eines Journalisten löst wenig Freude aus. Vom vereinbarten Termin will der Mann am Empfang nichts wissen und gibt unumwunden zu verstehen: «Ich traue Ihnen nicht.» Erst nach mehrmaligem Nachhaken sind die Verantwortlichen zu einem kurzen Treffen bereit. Der Erkenntnisgewinn hält sich allerdings in engen Grenzen. Vielmehr sind die Erörterungen der beiden Männer ein Beispiel dafür, wie wenig man in einer halben Stunde sagen kann, wenn man sich unbeirrt im schwammigen Jargon der Entwicklungszusammenarbeit ausdrückt. Von «wissenschaftsgeleiteten Projektinterventionen» ist viel die Rede, von «Kontextsensitivität», «best practices» und «ownership».

Zu Missernte und Schuldenproblem wollen die beiden nicht Stellung beziehen, Es sei noch zu früh für eine Bilanz. Auf die Frage, ob die Massnahmen nach 2017 vom ghanaischen Staat weitergeführt würden, geben sie sich betont optimistisch: «Wir haben mit den zuständigen lokalen Behörden eine Vereinbarung unterschrieben. Das Projekt wird weitergeführt.»

Entwicklung ist kein rein technisches Problem

Diese Zuversicht sei zwar sympathisch, aber ziemlich realitätsfremd, sagt ein einheimischer Journalist, der lieber nicht genannt werden möchte. Ghanas staatliches Krankenversicherungssystem, von dem auch die Fortführung der Klinik in Nabari abhängt, sei in hohem Masse dysfunktional. Aufgrund der jüngsten Kürzungen der Staatsausgaben sei zudem anzunehmen, dass viele der eingeleiteten Bildungsmassnahmen nach 2017 nicht fortgeführt würden. Es handele sich also nur um kosmetische Retuschen, nicht um substantielle Veränderungen. Die Kritik wird sogar noch grundsätzlicher: «Die Millenniumsdörfer basieren auf einer falschen Idee. Die Menschen können nicht einfach von Armut befreit werden, sie müssen sich letztlich selbst davon befreien.»

Ist das Millenniumsprojekt also gescheitert? In Nabari und in vielen anderen Dörfern, in denen es kurz vor dem Abschluss steht, deutet vieles darauf hin: Die Armut kann nicht beendet werden durch technokratische Massnahmen, die losgelöst sind vom grösseren politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext.

Bei näherer Betrachtung ist es nicht ohne Ironie, dass Sachs' umfangreiches Entwicklungsprogramm vielleicht gerade daran krankt, dass es zu begrenzt ist. Denn der eingeschränkte Fokus auf die Dorfebene setzt voraus, dass Entwicklung unabhängig von der weiteren Umgebung stattfindet und dass auch die Suche nach den Ursachen der Armut an der Dorfgrenze aufhört. Dabei sind sich die meisten Fachleute längst einig, dass Armut ein komplexes Problem ist, bei dem Ursache und Wirkung zeitlich und räumlich weit auseinanderliegen können.

Zudem blendet Sachs aus, was vielen Experten als Schlüssel zur Entwicklung gilt: Die Politik. Der Kampf gegen die Korruption, Rechtsstaatlichkeit, die Einhaltung menschenrechtlicher Standards, die Gleichstellung der Geschlechter und demokratische Institutionen spielen im Entwicklungsplan der Millenniumsdörfer keine Rolle. Daraus ergebe sich eine «Tyrannei der Experten», sagt der Ökonom William Easterly, der seit bald zwei Jahrzehnten als Sachs' prominentester Antipode gilt.

Der Schwerpunkt auf technokratischen Lösungen zur Armutsbekämpfung führe dazu, dass die eigentliche Ursache des Problems ignoriert werde: «Armut wird vor allem bedingt durch ein dysfunktionales politisches System, die uneingeschränkte Macht des Staates und die Rechtlosigkeit der Armen.»

Die richtigen Fragen stellen

Das Millenniumsprojekt wird scheitern, so viel ist jetzt also schon abzusehen. Zwar wäre es falsch, dies mit einem Versagen der Entwicklungszusammenarbeit als Ganzes gleichzusetzen. Trotzdem sind die Erkenntnisse aus den Millenniumsdörfern über deren Kontext hinaus von Bedeutung. Denn obgleich Sachs ein Extrem darstellt, sind andere Entwicklungshelfer oft gleichermassen überzeugt zu wissen, was geschehen muss – wenn nur die Menschen in den Entwicklungsländern das endlich auch begriffen.

Ben Ramalingam, ein britischer Entwicklungsfachmann, hat deshalb einen ganz grundsätzlichen Rat: «Wir müssen uns wandeln: von Menschen, die die Antwort kennen, zu Menschen, die die richtigen Fragen stellen.»

Fabian Urech / Infosperber

Dieser Artikel erschien zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17. April 2016.