Verlauf einer Ehe Messer am Abend

Lyrik

Küchenmesser.
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Küchenmesser. Foto: ThePacker

23. Januar 2019
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Jedes Mal, wenn ich die Schublade aufziehe,
bin ich von der Menge der Messer überrascht,
die sich im Verlauf unserer Ehe angesammelt haben.
Nicht nur die Menge überrascht mich, mich
überraschen auch die unterschiedlichen Grössen,
schmale, breite, gezackte, kurze und lange Klingen
wie auch längere, kürzere Griffe aus Holz
und aus Plaste und sogar aus Porzellan
gibt es welche, und sie haben Namen wie
Taschenmesser, Fahrtenmesser, sogar
ein Survivalmesser gibt es, das kaufte Agnes mir,
als wir in Budapest waren, daamals, daaamals,
weil sie den Waldmenschen in mir tolerierte.
In seinem Griff lassen sich Pflaster, Schnüre,
Streichhölzer unterbringen und am unteren Ende
des Griffes ist ein Kompass angebracht. Ein tolles Messer.

Ich nehme es heraus und fahre mit dem rechten Daumen
über die Schneide. Ein Blutstropfen tritt aus.
Ich schneide dünne Scheiben vom Laib ab,
meine Tochter Ester hasst dicke Scheiben Brot,
auch Butter mag sie nicht, und die Wurst
muss ich so dünn schneiden, dass sie fast durchsichtig ist.
Als sollte der Mensch nicht froh darüber sein,
dass er Brot und Wurst ohne Ende essen kann,
aber so ist der Mensch: wie mein Sohn Karl.
Er isst überhaupt kein Brot. Nie. Ich konnte es
nicht glauben, als er das erste Mal schrie, er mag
kein Brot. Ich stand am Tisch, ein hübsches Messer
aus Israel in der Hand, und er schrie, dass er
kein Brot essen kann. Ich zwang ihn,
das Brot zu essen. Er weinte nicht. Er sah mich
aus grossen Augen an, von unten nach oben zu mir,
er kaute und kaute und kaute und erbrach
den Brei auf meine Hose. Ich hob die Hand, liess
das Messer fallen und schlug ihn, er weinte
noch immer nicht.

Meine Frau war unterwegs. Das ist sie oft,
das muss sie sein als Fernsehfrau.
Manchmal können Ester, Karl und ich
sie auch sehen, wenn sie nicht zuhause ist.
Sie muss nicht zuhause sein, um doch zuhause zu sein.
Zauberhaft! Sie führt ein Interview in einem Konzertsaal
oder auf einer Baustelle, sie macht einen Job ohne Ende,
der sie voll ausfüllt. Ich habe mir
mein anzügliches Grinsen abgewöhnt,
wenn sie ernsthaft sagt: Meine Arbeit füllt mich
voll aus. Ich bin auch nicht mehr gekränkt. Als sie
das erste Mal so sprach: Meine Arbeit
füllt mich voll aus, frozzelte ich: Und ich nicht?
Das sind so, grüble ich überm Sortiment der Messer,
die Zoten eines Mannes. Agnes und ich
verzichten nur deshalb nicht auf Sex, weil er
dazugehört, er beruhigt und ist gesund,
alles andere kommt von selbst.

Nun nehme ich die Wurst, den Käse und die Tomaten
aus dem Kühlschrank, ich überlege, ob ich
einen Tomatensalat mache, haben wir noch Zwiebeln?
Ich glaube, wir haben keine mehr, oder
doch noch welche im Keller? Ich kann,
während ich die Tage rechne, durchs Fenster
die Kinder sehen. Sie bauen in der Tiefe des Gartens,
zwischen den Kirschbäumen, eine Höhle.
Sie lachen dabei. Ich kann sie nicht hören,
ich weiss, dass sie unaufhörlich lachen, sie
können gar nicht anders. Was sie sich sagen wollen,
das lachen sie. Nein, keinen Tomatensalat, weil
Tomatensalat mögen die Kinder nicht, meine Kinder,
die ich mit Agnes zeugte, ohne dass eine Absicht
dahinter gesteckt hätte. Agnes teilte
ihre Schwangerschaft vor einem Kaufhaus mit:

Wir waren verabredet, ich stand an einem Stand,
hinter dessen Tisch eine dünnhaarige Frau
Männersocken, vier Paar zu zwölf Mark, anbot.
Es seien Arztsocken, meinte sie, hundert Prozent
Baumwolle, und ich kaufte sie, weil ich dachte:
Ärzte brauchen Socken, die halten, wenn sie
24 Stunden am Tag durch die Gegend socken,
brauchen sie Socken, die nicht gleich wie
zerschossene Fahnen aussehen, und dann sah ich,
wie Agnes die Strasse überquerte, wie zufrieden
sie aussah, und dass sie den Gang einer
schwangeren Frau hatte, plötzlich, von
einer Diagnose auf die andere, und ich dachte,
wie töricht sie sei, und ich liebte sie.

Freust du dich? fragte sie, kaum, dass wir uns
begrüsst hatten. Und sie setzte voraus, sie ahnte,
dass ich es wusste, schlagartig, obwohl schlagartig
ein Wort der Gewalt ist, und ich stand,
die Socken in der Hand, das zufriedene Lächeln
der Verkäuferin von Socken in meinem Rücken,
und ich sagte: Natürlich freue ich mich.

Oder ich mache den beiden Haferflocken.
Ja, Haferflocken sind eine gute Idee.
Ich greife nach der Milch, ich greife nach dem Topf,
ich giesse das eine ins andere und stelle den Topf
auf die Flamme. Ein bisschen warm sollte die Milch sein.
Ich habe jetzt ein Messer in der Hand, die Spitze
ist abgebrochen, es ist ein Messer aus dem
19. Jahrhundert, es gehörte zum guten Besteck
einer Wirtsfamilie, Vorfahren von Agnes, ja
über Agnes kam dieses Messer in meine Hände,
es ist schwer, aber nicht schartig wie diese Messer
in den Museen, wo sie hinter Glas liegen
und mir leid tun. Ihnen fehlt die Berührung einer
Hand. Ihnen fehlt die Wärme
einer menschlichen Hand. Und

da klingelt das Telefon. Ich weiss, wer
dran ist, ich weiss, was gesagt wird. Ich
nehme ab. - Alles in Ordnung? höre ich ihre Stimme.
- Aber ja, antworte ich, ich weiss, wer dran ist,
ich weiss, was gesagt wird. - Du, sagt sie, es dauert.
- Aber klar doch, sage ich, ich weiss, wer dran ist,
ich weiss, dass beim Drehen eines Films
Unwägbarkeiten entstehen, sie socken durch die Gegend
und sie machen einen Job ohne Ende, da kann schon
plötzlich, spontan sich was ändern. Bist du noch dran?
fragt Agnes. - Wo soll ich sonst sein? - Bist du
gereizt? - Quatsch, sage ich, läuft's gut?
- Du klingst verärgert, sagt sie, kann ich noch
Ester und Karl Gute Nacht sagen? - Ich fürchte,
sage ich, ich kriege sie so schnell nicht aus dem Garten.
- Dann gib ihnen einen Gute-Nacht-Kuss von mir, sagt
sie.- Aber klar, sage ich. - Ich liebe dich, sagt sie,
es ergab sich so, sagt sie, der Typ hat uns angeboten,
weiterzudrehen, wir sparen dadurch Zeit ... Bist du
noch dran? - Dran bist du noch lange nicht,
denke ich, ja, sage ich, sag mir, dass du mich liebst,
höre ich, wie sie es sagt. - Ich sage: Ich liebe dich.
Ich bin ein moderner Mensch. Es ist meine Zeit,
ich bin dran, ich weiss, was gesagt wird. Na hopsassa
aber! - Ich hole dich vom Bahnhof ab, schlage ich vor.
- Das wäre lieb, sagt sie, und wir schalten die Telefone
synchron aus.

Dann öffne ich eine Flasche Bier. Ich sollte
kein Bier trinken, denn wenn ich ein Bier trinke,
dann möchte ich ein zweites und ein zwölftes,
immerhin wollte ich noch Agnes abholen,
vom Bahnhof, mit dem Wagen, wenn die Kinder
noch nicht schliefen und ihr Gelächter
nicht aufhörte vor dem Sturzflug in den Schlaf.
Ich kann nicht so viel Bier trinken, wie ich
Bier trinken möchte, weil ich nachher, wenn
Agnes angerufen hat, den Wagen aus der Garage hole,
es ist sicherer so, weil seit Wochen einer umgeht,
gestern stand es wieder in der Zeitung,
der Frauen umbringt und sie über die Zäune wirft.

Ich schmiere die Stullen und schneide sie
mundgerecht. Neben Karls Teller stelle ich
einen Joghurtbecher, ich brate ihm ein Ei, seltsam,
dass er Eier mag aber kein Brot, ich gehe
auf die Terrasse und rufe: Abendbrot! Ich weiss,
es wird zehn Minuten dauern, ehe sie kommen,
eher wird es länger dauern, bis sie sich
kichernd in die Küche schubsen und ich werde sagen:
Wascht euch erst mal die Hände!
Ich habe mal
meinen Ruf von der Terrasse mit einem Recorder
aufgenommen, ich habe ihn auf die Terrasse gestellt
und habe meinen Ruf gehört und gelauert,
und ich wunderte mich nicht, dass die Kinder
ihr Spiel nicht unterbrechen wollten, es klang wie der Ruf
eines traurigen Mannes, dem es eigentlich egal war,
was seine Kinder taten.

Und dann treten sie an mir vorbei
ins Haus. Wascht euch die Hände! sage ich ihnen, und sie
grinsen sich an, und ich möchte das Band zwischen ihnen
mit einem Messer auseinander schneiden, und als sie dann
am Tisch sitzen, frage ich: Was habt ihr heute gemacht?
- Oooch, Buchstaben gelegt, sagt Ester.
- Buchstaben? - Frau Elstermann hat Buchstaben
auf dem Tisch ausgeschüttet. Aus ner Plastiktüte, wo
drauf stand „Gut gekauft, gern gekauft“.
- Du kannst noch nicht
lesen, sage ich, woher willst du wissen,
was auf der Tüte stand? Ester blickt mich geringschätzig an,
sie kann lesen, Agnes hat ihr so viele Bücher geschenkt,
es hat sich ergeben, dass Ester bald lesen konnte, das
hatte ich vergessen. - Und weiter? frage ich gereizt - Sie hat gesagt,
wir bilden jetzt das Wort EMIL, und weisst du,
was dann passiert ist? Sie prustet, kichert, verschluckt sich,
muss husten, ich denke: Hoffentlich erstickt sie nicht und ich denke,
woher soll ich wissen, was dann passiert ist.
- Der Balduin hat gesagt, er möchte lieber das Wort PIMMEL bilden,
das hat auch nur einen Buchstaben, den EMIL nicht hat,
und nun prusten beide los und schreien: Pimmel hat Balduin
gesagt, Pimmel, hat Balduin gesagt. - Biste neidisch?
fragt Ester ihren Bruder: Ich habe eine Fotze, das
ist viel besser. Und sie lachen und lachen,
und ich betrachte
den geronnenen Blutstropfen auf der Kuppe meines rechten Daumens,
wann hatte ich mich geschnitten?
und als Karl sagt, er möchte noch ein Bratei,
mache ich ihm noch eines, obwohl Agnes meint, er solle
nicht so viele Eier essen, der Cholesterinspiegel erhöht sich
in unzulässiger Weise, so hat sie es gesagt: in
unzulässiger Weise. Das Schweigen in meinem Rücken
ist laut und fröhlich, sie reden mit Blicken, sie spielen
mit Tellern und dem Besteck und dem Essen,
als es an der Tür schellt, und Ester springt auf: Ob Mama kommt?
und rennt in die Diele und ich höre Frau Schaller oder
Frau schneller: Ist dein Vater da? Was ist los mit mir,
dass ich mir nicht mal den Namen der Nachbarin merken kann.
Ester steht in der Tür: Frau Scheffler will dich sprechen. Sie hat
einen Riecher dafür, wann ich allein bin, sie ist sehr oft allein,
weil ihr Gatte ein Offizier ist, und ich hatte ihr
zu verstehen gegeben, dass auch ich viel allein bin,
weil meine Frau beim Fernsehen arbeitet, aber ich
hätte immerhin die Kinder, reizende Kinder hätte ich,
meinte Frau Scheffler, und meine Frau sagte mal, als wir
nach dem Akt voneinander liessen, dass Frau Scheffler
sehr gepflegt sei und bestimmt noch einen festen Bauch
habe, so fest, dass ein Messer daran abprallen würde.
Ja und? hatte ich entgegnet, sie hat auch kein Kind geboren,
und was ich noch dachte, sagte ich nicht: Ich sehe sie
ausserdem manchmal, wenn sie Gymnastik macht
auf der Terrasse oder im Keller auf dem Weg in die Sauna,
sie ist nackt, sie ist schliesslich in ihrem Haus.
- Könnten Sie? fragt sie mich,
diesen Brief für mich abgeben, ich möchte ihn nicht
der Post anvertrauen. Er ist ziemlich dick und duftet
nach Parfüm. Falls Sie morgen in die Stadt fahren,
natürlich solle ich mir keine Umstände machen, aber es wäre
sehr, sehr liebenswürdig. Gebrüll aus der Küche. Frau Scheffler sagt:
Ich werde mich revanchieren! Und sie sagt: Sie haben wirklich
reizende Kinder!

Karl hat sich mit der Gabel in die Hand gestochen.
Der Schreck ist grösser als der Schmerz, fast sehne ich mich,
dass er ernsthaft verwundet wäre, dann könnte ich
das Gefühl haben, gebraucht zu werden, der Retter
meines Sohnes zu sein, Nothelfer, ich wäre voll ausgefüllt
mit diesem Job ohne Ende, ihm in der Not beizustehen,
er würde nie vergessen, dass sein Vater ihm
das Leben gerettet hat,
- Papa, fragt Ester, dürfen wir noch
ein bisschen fernsehen? Ich nicke und gehe in den Garten
und schneide Gras. Ich schneide langsam, ich benutze eine Sichel,
ein Marienkäfer setzt sich auf meinen linken Unterarm,
er sucht einen Weg durch meine Haare, es ist
Schwerstarbeit für ihn, oder ich täusche mich, und er
befindet sich auf einem philosophischen Spaziergang,
immerhin hat er eine Alternative: Er könnte fliegen, dann
stehen die Kinder gewaschen und gekämmt in ihren Schlafanzügen
in der Tür und rufen: Gute Nacht, Papa! -Gute Nacht! rufe ich
und winke mit der Sichel. Wie viel Zeit ist
seit dem Abendbrot vergangen?

Kurz vor 23 Uhr öffne ich die Garage
und fahre den Wagen auf die Strasse, ich muss noch nicht los,
verabredet ist, Agnes gegen Mitternacht
vom Bahnhof abzuholen, des Mannes wegen, der sein
Unwesen treibt in der Gegend, mit dem Auto brauche ich
nicht länger als fünf Minuten. Als ich den Wagen abschliesse,
kann ich Frau Scheffler im Licht der Wohnzimmerlampen
sehen, sie spreizt die Beine und dehnt sich im Rücken, sie trägt
ein bikiniähnliches Stück Kleidung. Die Strassen sind leer. Die Häuser
stehen grau an der Strasse.
Ich gehe zurück ins Haus und öffne
noch eine Flasche Bier, als ich sie ansetze, da

klingelt das Telefon. Ich weiss, wer dran ist,
ich weiss, was gesagt wird. Ich nehme ab. - Alles
in Ordnung? fragt Agnes. - Wie immer. - Ich liebe dich,
sagt sie, ich weiss, was geschehen ist, ich werde es
gleich erfahren. - Der Wagen steht bestimmt schon
auf der Strasse, schmeichelt sie mir. Ich muss nichts sagen,
ich nehme den Brief der Nachbarin in die Hand, ich hatte ihn
neben das Telefon gelegt, um ihn morgen nicht zu vergessen,
P. Merkel , lese ich, Pauline Petra Peter Paul Pawel ...
- Wir werden noch bleiben, sagt Agnes, der Schauspieler
hat uns angeboten in seinem Haus zu übernachten, ein
wunderschönes Haus am See! Dann können wir morgen früh
gleich weiterdrehen und ich muss nicht noch mal
in der nächsten Woche los! Das ist doch günstig.

Ich nicke, ich schweige, welcher Schauspieler?
Fällt mir nicht ein der Name. - Bist du noch dran? fragt meine Frau.
- Natürlich, sage ich: Kommt ihr gut voran? - Es geht,
sagt sie fröhlich: Schlaf dann gut, mein Lieber, ich geb dir
nen dicken Kuss. - Ich dir auch, sage ich. Agnes legt vor mir auf,
ich gehe in die Küche und wasche das Geschirr ab, ich ordne
die Teller und Tassen in den Schrank und das Besteck
in die Schublade, ich
bin von der Menge der Messer überrascht,
die sich im Verlauf unserer Ehe angesammelt haben.
Nicht nur die Menge überrascht mich, mich
überraschen auch die unterschiedlichen Grössen,
schmale, breite, gezackte, kurze und lange Klingen
wie auch längere, kürzere Griffe aus Holz
und aus Plaste und sogar aus Porzellan
gibt es welche, und sie haben Namen wie
Taschenmesser, Fahrtenmesser, ich werde
noch eine Stunde spazieren gehen, bevor ich mich
ins Bett lege, das Survival-Messer, das Agnes mir
in Budapest gekauft hat, stecke ich in die Jackentasche.
Man kann nie wissen.

Eckhard Mieder