Propagandhi auf Tour mit neuem Album Vertonter anarchistischer Radikalismus

Kultur

19. September 2013

Bereits Anfang 2013 machte ich beim beiläufigen Durchschauen des Programms der Wiener Arena eine Entdeckung, die einen Tag rettete, der versprach eher trüben Charakters zu sein: Propagandhi kommen auf Europatournee, das neue Album "Failed States" mit im Gepäck.

Chris Hannah von Propagandhi bei einem Konzert im Galpon Victor Jara von Santiago de Chile im Jahr 2007.
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Chris Hannah von Propagandhi bei einem Konzert im Galpon Victor Jara von Santiago de Chile im Jahr 2007. Foto: Carlos A. Restrepo V. (CC BY-SA 2.0 cropped)

19. September 2013
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Propagandhi - viel gäbe es zu schreiben über diese Institution harter, anarchistischer Gitarrenmusik.

Ich bediene mich hier des Begriffs "harte, anarchistische Gitarrenmusik", da die musikalische Einordnung dieser vier Kanadier - entgegen der politischen - eher schwer fällt.

1993 war mit dem Album "How to Clean Everything" stilistisch alles eher beim melodischen Punkrock/Skatepunk angesiedelt, wiewohl es hier trotz der eingängigen Melodien bereits hoch politisch zur Sache ging ("We stand for something more than a faded sticker on a skateboard" (1); aus: "Anti-Manifesto").

Das Folgealbum "Less Talk, More Rock" (1996), dessen Titel ironisch auf den starken Politcharakter von Propagandhi-Musik hinweist, war musikalisch ähnlich wie ihr Debüt, inhaltlich bot es die übliche Portion anarchistischen Radikalismus, und es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet auf "Less Talk, More Rock" auf einem ganzen Track nur geredet wird (mit Ramsey Kanaan des anarchistischen Buchverlags AK Press/PM Press (2) als Sprecher).

Das Logo, das auf die CD gedruckt wurde, ist seither in allen möglichen Anarchoforen zu finden oder macht als Aufnäher und Button in Szenekreisen seine Runden: ein A im Kreis, um das die politischen Grundpositionen der Band geschrieben stehen. "pro-feminist. animal-friendly. anti-fascist. gay-positive". Dennoch: Diese vier Schlagworte können nur andeuten, wofür Propagandhi steht.

Bereits als jugendlicher Anhänger der (damals in der Gegend in der ich aufwuchs betont linksradikalen und sich überschneidenden) Skateboard- und Punkrock/Hardcore-Subkultur, beeindruckte mich die Fähigkeit dieser Band, politisch alles abzudecken, was mir wichtig war (und ist) und dies, wie es scheint, noch zu 100%: Anarchismus, Feminismus, Antifaschismus, Antiimperialismus, Veganismus/Tierrechte, Antirassismus, Antikapitalismus, Menschenrechte, Religionskritik, Antimilitarismus/-krieg, Homosexuellenrechte/LGBT, Zapatismus/indigener Widerstand (vor allem im kanadischen Kontext), Ökologie, you name it ...

Nun, über ein Jahrzehnt später, gehe ich immer noch auf Propagandhi-Konzerte, höre ihre Platten und kann den Einfluss, den diese Band auf meine frühe politische Sozialisation hatte, nicht hoch genug schätzen.

Doch es bleibt nicht bei nostalgischen Rückblenden in meine frühe Jugend.

In der Arena prangte über dem grossen Propagandhi-Banner die schwarze Fahne der Direkten-Aktions-Tierrechtsgruppe Sea Shepherd (3).

Dies führt mich in Gedanken zurück in die Zeit, die ich jüngst in Melbourne verbrachte, wo die Sea-Shepherd-Flotte ihre Basis hat, wenn es gerade keine Walfangschiffe mit Buttersäure einzudecken oder schlicht zu rammen/versenken gilt.

Wiederum kommt die Erkenntnis: hier bin ich richtig - immer noch! Und auf einem Propagandhi-Konzert kann ich sogar mit meinem Anarchists Against the Wall T-Shirt herumlaufen, ohne blöd angemacht zu werden! (4)

So trittfest Propagandhi politisch sind, so wandlungsfähig sind sie musikalisch. Das haben sie spätestens mit ihrem Album "Today's Empires, Tomorrow's Ashes" (2000) bewiesen.

Der Sound entwickelte sich vom melodisch-eingängigen Punkrock hin zu progressivem Hardcore mit Thrash- und Metal-Elementen. Inhaltlich ist es meiner Meinung nach das stärkste und direkteste Album. Die meisten Texte kommen ohne metaphorische Kunstgriffe aus, sind konfrontativ, wütend, laut. ("I stand not by my country, but by people of the whole fucking world. No fences, no borders. Free movement for all. Fuck the border. It's about fucking time to treat people with respect." (5); aus: "Fuck The Border")

Ein gewichtiger Grund für die musikalische Umorientierung war sicher der neue Bassist Todd Kowalski. Kowalski war in der Punk/Hardcore-Politszene Winnipegs schon durch Bands wie Swallowing Shit oder I Spy bekannt.

Beide Bands sind auch politisch interessant. Swallowing Shit war musikalisch im Crustpunk/Grindcore beheimatet und inhaltlich hauptsächlich darauf aus, konservative/rechte Bevölkerungsgruppen zu provozieren (mit Songs wie "Burn Winnipeg to the Fucking Ground", "Pro-Abortion Anti-Christ" oder "Lyrics That May Offend The Honkeys" (6) war das ein Kinderspiel).

I Spy war eine Hardcore-Band, in der politische Botschaften zumeist über persönliche, teils recht einfühlsame aber nicht minder wütende Geschichten Kowalskis transportiert wurden. (7)

Das Propagandhi-Album "Potemkin Speed Limits" (2005) war das letzte, das auf dem Label Fat Wreck Chords des NOFX-Bassisten Fat Mike veröffentlicht wurde. Fat Wreck Chords zu verlassen war wohl eine Entscheidung, die länger schon überfällig war, passten Propagandhi doch nicht mehr wirklich (oder noch nie?) in das Fat-Wreck-Profil. "Supporting Caste" (2009) und "Failed States" (2012) erschienen dann u.a. im Propagandhi-Label G7 Welcomming Committee Records (8). Musikalisch knüpfen sie an den progressiven Sound an, der 2000 eingeschlagen wurde, politisch blieb alles - wie war es anders zu erwarten? - beim Alten, nicht jedoch, ohne aktuelle Themen aufzugreifen.

Der Song "Cognitive Suicide" auf "Failed States" etwa richtet sich gegen Geschlechternormierung, der Albumtitel persifliert die bekannte Kategorisierung der US-Aussenpolitik mit dem dezenten Hinweis, auf die Verknüpfung von Krieg und Staat überhaupt.

Wenn es irgendeine Band gibt, die ihre politischen Ideale wohl nie aufgeben oder verwässern wird (wie z.B. Against Me! oder But Alive [jetzt Kettcar]), - das ist meine Gewissheit in solchen Momenten wie vor kurzem in der Arena -, dann ist es Propagandhi. Daher ist Propagandhi auch im Grunde die einzige Band, wo man mich bei Konzerten dort antrifft, wo ich sonst nie bin: beim Merchandise-Stand!

Sebastian Kalicha / Artikel aus: Graswurzelrevolution Nr. 380, Sommer 2013, www.graswurzel.net

(1) "Wir stehen für mehr als für einen ausgebleichten Aufkleber auf einem Skateboard."

(2) Ramsey Kanaan gründete 1987 AK Press in Schottland und ist seit 2007 bei PM Press in Oakland aktiv.

(3) Zwar gäbe es an Sea Shepherd auch einiges zu kritisieren, das mildert aber nicht den Wert ihrer radikalen direkten Aktionen gegen das Töten in den Weltmeeren. Siehe: https://www.seashepherd.org

(4) Propagandhi sind aktive Unterstützer u.a. des International Solidarity Movement (ISM; palsolidarity.org), für das sie div. Solishows spielten (eine davon ist auf der DVD "Live from Occupied Territory" [2007] zu sehen). Auch israelische Kriegsdienstverweigerungsgruppen werden unterstützt. Für einen allgemeinen Überblick, wen Propagandhi unterstützen und wofür sie politisch stehen, siehe auch die Kategorie "Resources" auf propagandhi.com.

(5) "Nicht an meinem Land halte ich fest sondern an den Menschen der gesamten Welt. Keine Zäune, keine Grenzen! Bewegungsfreiheit für alle! Scheiss auf die Grenze. Es wird verdammt nochmal Zeit die Menschen mit Respekt zu behandeln."

(6) "Fackelt Winnipeg ab!", "Pro-Abtreibungs Anti-Christ", "Texte, die honkeys [abwertender Begriff für Weisse] möglicherweise beleidigen".

(7) Die Lust zur Provokation blieb aber auch I Spy treu. So zieren das Plattencover des einzigen Albums "Perversity Is Spreading … It's About Time!" (1998) drei nackte Ärsche, die Papst Johannes Paul II ins Gesicht scheissen, inkl. einer Hand, die das Ganze noch in seinem Konterfei verwischt.

(8) https://www.g7welcomingcommittee.com. G7 veröffentlicht nicht nur Musik-CDs, sondern z.B. auch Audio-CDs von Libertären wie Noam Chomsky oder Howard Zinn.