Rezension zum Film von Luis Buñuel Tagebuch einer Kammerzofe

Kultur

Die visuelle Verschlüsselung sowie die Mischung aus realen und surrealen Elementen spielt bei Luis Buñuels Filmen zumeist eine grosse Rolle.

Wachsfigur von Luis Buñuel (links im Bild).
Mehr Artikel
Mehr Artikel

Wachsfigur von Luis Buñuel (links im Bild). Foto: Gerardo nuñez (CC BY 3.0 unported - cropped)

23. August 2018
0
0
7 min.
Drucken
Korrektur
In dem 1964 in der französischen Provinz gedrehten Film „Le Journal d'une femme de chambre” schien Buñuel darauf zu verzichten. Fast alles liegt offen wie eine klaffende Wunde. Charaktere wie Handlung sind so durchsichtig wie Glas, und doch, könnte man sagen, sind sie eher Repräsentanten, Charaktermasken ihrer Zeit, Zeichen für eine Gesellschaft, in der sich alle bewusst oder nicht auf eine Zeichen-Sprache, auf ein „gezeichnetes” Verhalten festgelegt haben, dem sie gar nicht entrinnen wollen. Buñuel verlegte die im Roman von Mirbeau im 19. Jahrhundert spielende Handlung in die Zeit Ende der 20er Jahre.

Céléstine (Jeanne Moreau) kommt aus Paris in ein Provinznest, um dort die Stelle einer Kammerzofe bei den Monteils anzunehmen. Der mürrische und wortkarge Angestellte der Monteils, Joseph (Georges Géret), bringt sie mit dem Pferdegespann zu Madame Monteil (Françoise Lugagne), die Céléstine in ihre Arbeit einweist. Madame Monteil ist eine jener standesbewussten, in Hierarchiefragen durch und durch „bewanderten” Frauen, die Céléstine zu jeder Zeit spüren lässt, wie unverrückbar diese Hierarchie ist. Ihr Mann vertreibt sich die Zeit mit Jagen: entweder ist er hinter Frauen her oder hinter Wild. Schnell begreift Céléstine, in welche Gesellschaft sie geraten ist. Der Vater von Madame Monteil, Monsieur Rabour (Jean Ozenne), bittet sie, ihr abends vorzulesen, aber in Wirklichkeit geht es ihm um etwas anderes. Rabour hat eine Sammlung von Frauenschuhen in seinem Zimmer – er ist Schuhfetischist. Céléstine soll diese Schuhe anziehen und vor ihm auf und ab gehen.

Der Nachbar der Monteils, Kapitän Mauger (Daniel Ivernel), der in ständiger Feindschaft zu den Monteils mit der Angestellten Rose (Gilberte Géniat) auf einem Nachbargrundstück lebt und ständig Müll über die Mauer wirft, um Monteil zu provozieren, ist ein alter militärischer Haudegen und Antisemit – wie Joseph im übrigen auch, der mit dem Küster (Bernard Musson) antisemitische und antibolschewistische Parolen schwingt und Aktionen vorbereiten will.

Während sich Madame Monteil um den wertvollen Plunder in ihrem Haus sorgt, seltsame chemische Experimente durchführt und ihr Herz dem örtlichen Priester (gespielt von Drehbuchautor Jean-Claude Carrière) ausschüttet, jagen Joseph, Monsieur Monteil und Nachbar Mauger Céléstine hinterher. Doch die lässt alle abblitzen. Sie kündigt die Stellung, nachdem man Rabour inmitten seiner Schuhe auf dem Bett tot aufgefunden hat. Als kurz vor ihrer Abfahrt allerdings ein Mädchen, Claire (Dominique Sauvage), das Céléstine eine Nacht bei ihr schlafen hat lassen, im Wald vergewaltigt und ermordet aufgefunden wird, entschliesst sich die Zofe zu bleiben. Sie gibt dem Drängen von Joseph nach, der sie angeblich heiraten will. Die Ehe, sagt er, sei ihm so heilig, dass er vor der Hochzeit nicht mit ihr schlafen wolle, es sei denn, sie verspreche ihm, ihn auf jeden Fall zu heiraten. Céléstine hält Joseph jedoch für den Mörder an Claire – und wenig später zeigt sie ihn beim örtlichen Richter (Claude Jaeger) an ...

Charaktermasken, eben doch verschlüsselte Zeichen und eine Art Initialzündung, die durch den Mord an Claire ausgelöst wird, bestimmen die Handlung der Personen, setzen aber zugleich die Gesellschaft, die Buñuel hier zeichnet, als etwa Fixes, Unbewegliches, Starres. In gewisser Weise ist Céléstine zunächst lediglich – wie der Zuschauer – Betrachter dieses sozialen Geschehens, bevor sie dann, nach der Vergewaltigung und dem Mord, in dieses Geschehen gezielt eingreift. Rabour, der Schuhfetischist, ist noch die harmloseste Gestalt in einer maroden, aber nichtsdestotrotz funktionierenden und durchaus gefährlichen, grossbürgerlichen Gesellschaft, in der selbst die Hausangestellten, allen voran Joseph, ihren Fetischen nachhängen und nachgehen. Céléstine ist eher amüsiert über den alten Herren.

Eben der Antisemitismus und Antibolschewismus Josephs, gepaart (auch über die Gestalt des Küsters, seines Gesinnungsgenossen) mit einer düsteren katholischen Mentalität, die die Religion akzeptiert, aber die Priester ablehnt, könnten als Pendant, und eben auch als Fetisch, gesehen werden zur „standesgemässen” Arroganz und Lustfeindlichkeit der Hausherrin einerseits, der verlogenen, egozentrischen Lüsternheit und dem ins Nichts laufenden Jagdtrieb des Hausherrn Monteil. Diese Herrschaften tun im Grunde: nichts. Aber, wie Marx sagen würde: dies ist ein bestimmtes Nichts, eines dass vom gefährlichen Verfall einer Klasse handelt, der eben nicht zum sozialen Kollaps führt, sondern sich ständig reproduziert.

Es bleiben aber auch Geheimnisse, etwa die seltsamen chemischen Experimente der Madame Monteil oder vor allem das Verhalten Céléstines gegenüber Joseph, den sie einerseits für den Mörder Claires hält, dem sie andererseits aber erlaubt, ihr nachzusteigen, und dem sie vormacht, sein Heiratsversprechen zu akzeptieren. Ein Trick, um ihn geständig zu machen, sich an ihm zu rächen? Oder ein zumindest teilweises Nachgeben auf eigenen Wunsch? Buñuel lässt dies „offen”.

Die Vergewaltigung und den Mord allerdings führt und Buñuel sozusagen unverschlüsselt vor Augen. Claire streift durch den Wald, und die Bezüge zu „Rotkäppchen” sind in dieser Szene derart offensichtlich, dass sie wirken, als ob sie dem Publikum aufgezwungen werden sollen. Eine Schlüsselszene zu den Verschlüsselungen? Sicher. Denn „Le Journal d'une femme de chambre” zeigt den „diskreten Charme der Bourgeoisie” als fetischisierten Wahn, als Übertragung (durchaus auch in einem psychologischen Sinn) der Lebenslust auf allerlei Fetische: im Judenhass, in Kunstgegenständen, in chemische Experimenten, in der Jagd, Schuhe usw., einer Übertragung, bei der diese Lebensfreude zerstört wird.

Offen bleibt, ob Joseph die kleine Claire wirklich ermordet hat. Vieles spricht dafür. Er war mit seinem Gespann unterwegs im Wald, traf das Mädchen und sein Blick sprach Bände. Aber letztlich ist diese Frage gleichgültig, denn Täter hätte auch Monteil oder Mauger sein können. Claire (Rotkäppchen) steht für die Unschuld, die in einer maroden Gesellschaft hilflose Unschuld. Claire ist Zeichen und zugleich ein Moment für die einzige Verhaltensänderung, die der Film zeigt und mit der sich die Zofe scheinbar oder anscheinend auf einer höheren Ebene in diese Gesellschaft „einkauft”: Céléstine kehrt um, anstatt nach Paris zurückzukehren. Warum? Wegen Claire? Kaum, obwohl sie behauptet, entsetzt zu sein. Doch Entsetzt-Sein hat in diesem Film Buñuels keinen Platz. Sämtliche Beteiligten nehmen das schreckliche Ereignis als etwas Un-Schreckliches auf, als Alltag, als gewöhnlich, und fast alle beklatschen eine antisemitische Demonstration als ebenso alltäglich, gewöhnlich, bis Buñuel diese Demonstration durch rasche Schnittfolgen am Horizont einer Strasse „vergehen” lässt.

Wird Céléstine, die das Verhalten der Männer Joseph, Monteil und Mauger kalt und berechnend für sich auszunutzen weiss (oder dies zumindest glaubt zu können) in den Kreis der „Besser-Gestellten” aufgenommen? Auch dies könnte eine Konsequenz sein. Und doch lässt Buñuel auch dies mit Zweifeln behaftet; denn zum Schluss wird Céléstine berichtet, Joseph würde wohl bald wieder aus der Haft entlassen, weil man nichts gegen ihn in der Hand habe.

So könnte man den Film im übrigen auch als schwarze Komödie sehen, als Abgesang auf eine kriegswillige und mordlüsterne Gesellschaft, die in den Abgrund des Todes stürzt, um sich aus den Trümmern Jahre später wieder zu regenerieren. Dann würde der Humor sozusagen aus der abstrusen, ja absurden Lächerlichkeit einer Gesellschaft resultieren, die permanent dem Tode nahe ist, ohne unterzugehen, weil die Überlebenden des Massakers sie und sich schon bald rekonstruieren und rekonstituieren.

Jeanne Moreau ist Céléstine, wie sie leibt und lebt. Michel Piccoli ist Monteil, wie er leibt und lebt.

Ulrich Behrens

Tagebuch einer Kammerzofe

Frankreich

1964

-

97 min.

Regie: Luis Buñuel

Drehbuch: Luis Buñuel, Jean-Claude Carrière

Darsteller: Jeanne Moreau, Dominique Sauvage-Dandieux, Michel Piccoli

Produktion: Serge Silberman

Musik: Antoine Petitjean

Kamera: Roger Fellous

Schnitt: Luis Buñuel, Louisette Hautecoeur