Sklavin des Herzens Schuld und Sühne und noch anderes

Kultur

Ein Dandy kommt 1831 nach Australien, der Cousin des neuen Gouverneurs jenes Kontinents, der als Straflager des britischen Empires besiedelt wurde.

Alfred Hitchcock (Madame Tussauds London).
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Alfred Hitchcock (Madame Tussauds London). Foto: neekoh.fi (CC BY 2.0 cropped)

5. Oktober 2018
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Charles Adare hat immer ein Lächeln im Gesicht - mag es Überlegenheit, wie es sich bei einem dieser ursprünglichen, adeligen Dandys nun einmal gehörte, oder eher einen Kommentar zum ganzen Film ausdrücken … vielleicht beides. Er entstammt dem britischen Adel, hat aber kein Geld. Er hofft, hier in der Strafkolonie schnell zu Geld zu kommen - natürlich nicht durch Arbeit, sondern durch Beziehungen. Elegant, mit steifem Kragen, vornehm, ganz Gentleman, aber auch und gerade durchsetzungsfähig - über den Dingen stehend, meint er.

Hitchcocks Dandys - später v.a. verkörpert durch Cary Grant, etwa in „Suspicion“ („Verdacht“), „North by Northwest“ („Der unsichtbare Dritte“) oder „To Catch A Thief“ („Über den Dächern von Nizza“) - sind in ihrer selbst erfundenen, verinnerlichten Exklusivität doch auch immer gebrochene Gestalten, nicht im psychischen Sinne, nein, sie sind zumeist geistig und körperlich durchaus the fittest of all. Nein, gebrochen ist ihr Verhältnis zur Zukunft. Wenn sie glauben, die Dinge im Griff zu haben, schlägt ihnen die Realität ordentlich eins um die Ohren. Und dennoch: ihre mentale Stärke reproduziert sich gerade dadurch, dass sie Krisen durchschreiten und als zumindest halbe Helden wieder heraustreten, vortreten und siegen - manchmal mit dem Lohn einer bei Hitchcock zumeist blonden Schönen, manchmal aber auch nicht.

So ergeht es Charles Adare, der in Australien auf den ehemaligen Sträfling Sam Flusky trifft. Der, ein ehemaliger Stallknecht, war wegen Totschlags des Bruders von Lady Henrietta zu sieben Jahren Verbannung in ein australisches Straflager verurteilt worden und dem Strang nur entkommen, weil es „gewisse Zweifel“ über den Verlauf der Tat und das Motiv gegeben hatte. Henrietta und Sam waren schon damals in Irland ein Paar, nach Schottland geflohen, aber von Henriettas Bruder verfolgt worden.

Nach Verbüssung der Haft hatte Charles Lady Henrietta, die ihm sofort nach Australien gefolgt war und dort auf seine Entlassung gewartet hatte, geheiratet. Inzwischen ist er reich geworden, gehört aber nicht zu denen, die von der noblen Gesellschaft wirklich aufgenommen und anerkannt werden. Der Geruch des Stallknechts und des Mörders haften unterschwellig weiter an ihm. Und in all den Jahren wurde aus Henrietta eine depressive, von Neurosen geplagte Alkoholikerin. Die Beziehung der beiden Fluskys ist fast eisig - so scheint es jedenfalls - geplagt von den Folgen der Liebe?

Alle, auch der Gouverneur, raten Charles davon ab, mit Flusky Geschäfte zu machen. Doch Charles lässt sich von niemandem Vorschriften machen. Immer öfter taucht er bei den Fluskys auf, hilft Charles dabei, Henrietta aus ihrer Lethargie herauszuholen. Er bringt sie zum Lachen, sie geht aus dem Haus, auf Empfänge der besten Gesellschaft usw.

Doch zwei Dinge werfen Henrietta immer wieder zurück in ihre innere Leere. Die Haushälterin der Fluskys, Milly, spinnt seit langem eine Intrige gegen Henrietta. Und zum anderen holt Henrietta ein dunkles Geheimnis ihrer Vergangenheit immer aufs Neue heim, das sie und Sam auf Dauer zu verbinden und zugleich zu trennen scheint. Charles, der sich rasch in Henrietta, die er aus seiner Kindheit kennt, verliebt, scheint keine Chance zu haben, diesen Knoten aus Schuld und Sühne zu lösen …

„Warum weinest du …?

Was Hitchcock letztlich zu diesem Film getrieben hat, der auf einem Roman von Helen Simpson beruht, unterliegt mehr oder weniger der Spekulation. „Under Capricorn“ ist weder ein Thriller, nicht einmal ein Krimi, sondern ein Kostümfilm mit einer fast schon simplen Story von Schuld und Sühne, die durch den Master of Suspense im Verlauf der Geschichte selbst ad absurdum geführt - ausgerechnet (oder logischer Weise?) durch den Dandy, der keineswegs dumm, sondern sehr klug ist. Die Fluskys wohnen in einem Anwesen, das „Minyago Yugilla“ heisst. Dies bedeute (aus welcher Sprache auch immer die Worte kommen mögen) übersetzt: „Warum weinest du …?“ Charles interpretiert diese geheimnisvollen Worte jedoch an einer Stelle des Films im Sinne von „Warum machst du so viel Lärm um nichts?“

Hitchcock stellt uns in dieser simplen, fast schon trivialen Story, in der Zuspitzung des Geschehens die Frage, warum Henrietta sich in einer schlafwandlerischen Neurose, getränkt mit Alkohol, befindet. Charles stellt ihr in jeder Sekunde seiner Zuneigung diese Frage. Warum weinest du? So wird er, der Dandy, zum Katalysator des Aufbrechens des verborgenen und tragischen Konflikts. Und als Henrietta ihm die Wahrheit erzählt, den Grund all ihres Übels, kommentiert er diese „Enthüllung“ ihr und vor allem uns mit „Viel Lärm um nichts“. Damit meint Charles nicht, die Geschehnisse um Henriettas Bruder seien läppisch. Läppisch sei es, nach so vielen Jahren noch so ein Aufhebens darum zu veranstalten oder gar im Unglück zu versinken.

Später wird Hitchcock in „Marnie“ diese Frage nicht mehr stellen. Denn in diesem Film - abseits jeglicher Kostümierung und Trivialität - wendet er sich wirklichen psychologischen Fragestellungen zu und verbindet sie mit dem ihm eigenen Suspense.

ACHTUNG SPOILER !

So ist denn die Antwort auf die ganze Misere - „Viel Lärm um nichts“ - diejenige, die aus Charles Mund tatsächlich Hitchcock selbst gibt. „Sklavin des Herzens“ kann man fast nur so verstehen. Denn der Grund für die innere Leere der Henrietta ist, dass Sam aus Liebe zu Henrietta ein Verbrechen auf sich genommen hatte, das in Wirklichkeit Henrietta aus Notwehr gegen ihren hasserfüllten Bruder begangen hatte.

Warum sich deswegen noch quälen? fragt der Dandy zu Recht, klärt die Dinge, die einfach nur einmal ausgesprochen werde mussten, und überführt die intrigante, egozentrische und verschlagene Haushälterin, die Henrietta seit Jahren mit Alkohol tränkt und sie am Schluss gar vergiften will, um an Sam heranzukommen, den sie liebt - und verlässt Sam und Henrietta, die von ihren Schuldgefühlen endlich erlöst sind, durch Rückkehr nach Irland. Ob der Dandy hier aus lauter Edelmut weicht oder tatsächlich nur eine Niederlage eingesteht, weil er Henrietta niemals bekommen würde … wer weiss das schon? Vielleicht ist an beidem etwas wahr.

SPOILER ENDE !

Ja, was hat Hitchcock zu diesem Film getrieben? Wahrscheinlich vor allem seine Begeisterung für Ingrid Bergman, die er zuvor in „Notorious“ und „Spellbound“ so phänomenal eingesetzt hatte und die inzwischen zum Weltstar avanciert war. Jedenfalls liess Hitchcock im Gespräch mit Truffaut durchscheinen (1), das neben falschen Entscheidungen bezüglich des Drehbuchs der Einsatz der begehrten schwedischen Schauspielerin ihn zu diesem Roman geführt hatte, von dem er meinte, die Rolle der Henrietta sei der Bergman auf den Leib geschnitten.

Wie dem auch sei, fällt „Under Capricorn“ scheinbar aus dem Gesamtwerk Hitchcocks heraus. Scheinbar, denn Hitchcock, selbst in gewisser Weise ein Dandy - und das ist nicht negativ gemeint -, experimentierte allzu gerne: hier mit minutenlangen, nicht geschnittenen Szenen, die zudem sehr dialoglastig waren (worüber sich die Bergman nach Aussage von Hitchcock selbst aufgeregt haben soll). Damit hatte er in „Rope“ mit James Stewart Erfolg gehabt. Nur in „Under Capricorn“ wirken diese Szenen eher mühsam und zäh.

Trotzdem hat auch dieser „Experimentalfilm“, für den Hitchcock lieber den rauen Burt Lancaster als Gegengewicht zu dem Dandy Charles in der Rolle des Sam gesehen hätte als den allzu eleganten Joseph Cotten, seinen Stellenwert in der Geschichte seiner Filme. Der Dandy Hitchcock traute sich eben, Experimente, auch wenn sie im Gesamten gesehen fehlschlugen, öffentlich zu produzieren.

Ein weiteres scheint in „Under Capricorn“ durch. Hitchcock selbst entlarvt die Geschichte als eine triviale Story, obwohl es den drei Hauptdarstellern zu verdanken ist, dass dieser Film trotzdem funktioniert. Und im gleichen Atemzug entblösst er die ganze feine Gesellschaft - die reichen und / oder einflussreichen Nutzniesser in ihren erstarrten Konventionen wie die Opfer in ihrer devoten Mentalität bezüglich eben dieser Konventionen, auch wenn diese sie plagen.

Nur der ewig lächelnde Charles scheint den Spuk durchschaut zu haben. Charles, das Alter Ego des Regisseurs, könnte man meinen, verlässt die Insel der Strafgefangenen und ihrer Bewacher mit einem Lächeln in der Gewissheit, dass ihn in Irland nichts anderes erwartet als in Australien - das ist sein Schicksal, über das er sich nun in dandyhafter Manier erheben kann. Der Glückliche.

DVD

Leider enttäuscht die von Phoenix Bild- und Tonträger Vertriebs GmbH 2008 herausgegebene Edition des Films masslos. Wie auch zumeist bei den ersten Filmen Hitchcocks aus den 20er und frühen 30er Jahren wurde auf die Überarbeitung des Ausgangsmaterials kein Wert gelegt. Der Farbfilm „glänzt“ durch massive Pixelfehler, etliche Szenen, in denen die Farben verschwimmen und sonstige Beschädigungen des Ausgangsmaterials deutlich zu sehen sind. Leider wurde hier wie auch bei den ersten Stumm- und Tonfilmen Hitchcocks bei DVD-Editionen nichts unternommen, um die Filme einigermassen zu restaurieren. Ein Ärgernis.

Ulrich Behrens

Solaris

Sowjetunion

1972

-

167 min.

Regie: Alfred Hitchcock

Drehbuch: John Colton, Margaret Linden, Hume Cronyn, James Bridie

Darsteller: Ingrid Bergman, Joseph Cotten, Michael Wilding

Produktion: Sidney Bernstein, Alfred Hitchcock

Musik: Richard Addinsell

Kamera: Jack Cardiff

Schnitt: Bert Bates