Ingmar Bergman: Wilde Erdbeeren Ein Toter, der doch lebt

Kultur

28. Februar 2018

Ein versteckter Ort. Nur zu finden für den, der auch sucht, zur richtigen Zeit. Smultronstället, der Ort, an dem die wilden, süssen Erdbeeren wachsen.

Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman (1918–2007) während den Dreharbeiten zu «Wilde Erdbeeren».
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Der schwedische Regisseur Ingmar Bergman (1918–2007) während den Dreharbeiten zu «Wilde Erdbeeren». Foto: Louis Huch (PD)

28. Februar 2018
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Wer sie findet, kostet vom Leben, vom Baum der Erkenntnis. Ein seltener Ort, ein privater Ort für den, der er ihn entdeckt. Ein Ort, den man vor anderen lieber geheim hält.

Isak Borg, der Mediziner, Biologe, ist alt geworden. 78 Jahre alt. Nun soll er für seine Forschung ausgezeichnet werden, in Lund. Isak Borg hat einen Traum. Er sieht sich selbst in einem ihm fremden Stadtteil von Stockholm. Er hat die Orientierung verloren. Ein Sarg fällt von einer Kutsche, weil sie an einem Laternenpfahl mit den Rädern hängen bleibt. Der Sargdeckel öffnet sich. Eine Hand schaut heraus, bewegt sich, reicht sich Borg. Der Körper des Toten erscheint. Es ist Borg selbst, der im Sarg liegt.

Der Alptraum – fantastisch traumhaft von Bergman in dieser entfremdeten Mischung aus Schwarz und Weiss und grellem Licht visualisiert – veranlasst Borg, nach einem Streit mit seiner langjährigen Haushälterin Agda (Jullan Kindahl), die die Ich-Bezogenheit des Professors seit Jahren an Leib und Seele zu spüren bekommen hat, nicht mit dem Flugzeug nach Lund zu fliegen, sondern das Auto zu benutzen. Mit seiner Schwiegertochter Marianne (Ingrid Thulin), die ihren Mann verlassen hat, Borgs Sohn Evald (Gunnar Björnstrand), macht er sich im sommerlichen Schweden auf den Weg über Östergötland und den See Vättern in den Süden des Landes bis Lund, das kurz vor Malmö liegt.

Borgs Reise im Angesicht des nahen Todes wird zu einer Suche, einer nach seinem Leben und nach dem, was ihm und anderen an ihm entgangen ist. Er sei ein egoistischer Steinklotz, sagt Marianne zu ihm, und nicht nur sie ist der Meinung, dass Borg sein Leben lang nur an sich gedacht hat. Ihr Mann, sein Sohn, sei aus dem selben Holz geschnitzt wie der Vater, ein eiskalter Mensch, von dem sie sich trennen musste, um den Qualen ihrer Ehe zu entgehen.

Bergman schildert diese Reise – heute würde man vielleicht von einem Roadmovie sprechen – als eine, in der die seelische Innenwelt Borgs sich mit den äusseren Ereignissen auf der Reise zu einer fast homogenen und kaum voneinander unterscheidbaren Fahrt in die eigene Vergangenheit verschmelzen. Borg zeigt Marianne das Ferienhaus, in der er und seine Geschwister viele Sommer bei Tante Olga (Sif Ruud), Onkel Aron (Yngve Nordwall) und deren Kindern verbracht haben. Borg phantasiert, träumt die Szenen seiner Jugend. Sara (Bibi Andersson) sieht er, seine Jugendliebe, mit Sigfrid (Per Sjöstrand), der ihr nachsteigt und sie später heiratet, die doch ihn heiraten wollte. Eine andere Sara unterbricht seine Träume (ebenfalls gespielt von Bibi Andersson), hübsch, blond, lebhaft, die ihn bittet, auf ihrem Weg nach Italien sie und ihre beiden Begleiter, Anders (Folke Sundquist), der Pfarrer werden will, und Viktor (Björn Bjelfvenstam), der Arzt werden will, mitzunehmen.

Das Junge, Frische, Streitbare, das Freundschaftliche, das Lebendige tritt noch einmal in Borgs Leben, die Erinnerung an eine fast unbeschwerte Kindheit und Jugend, von der er so weit entfernt scheint. Ein Verkehrsunfall unterbricht die heitere Stimmung jäh. Ein streitendes Ehepaar, die Almans (Gunnel Broström, Gunnar Sjöberg), kommt von der Strassen ab, der Wagen überschlägt sich, fährt nicht mehr. Borg und Marianne nehmen beide mit. Aber als deutlich wird, wie zänkisch und zynisch die Almans miteinander umgehen, setzt Marianne beide wieder auf die Strasse.

Als ob durch die Erlebnisse auf der Fahrt nach Lund und seine erinnerten Träume sein gesamtes Leben in Episoden noch einmal – in Gestalt anderer – vor ihm abläuft, differenziert sich bei Borg das „Gute” vom „Schlechten”, das Harte vom Weichen, das Schöne vom Hässlichen. Der Besuch bei seiner 96-jährigen Mutter (Naima Wifstrand) wird für Marianne zu einer Art wachem Alptraum – angesichts dieser kühlen, hartherzigen Frau, deren Kinder bis auf Isak Borg alle tot sind, deren Enkelkinder sie fast nie besuchen kommen, einer Frau, die ihre Wohnung zu einem Sammelsurium von Gegenständen gemacht hat, die sie an das Vergangene erinnern sollen – in aller Härte, die sie anderen vermittelt hat.

Während Anders und Viktor um die Richtigkeit von Glauben oder Wissen streiten und prügeln, träumt Borg seine Verurteilung wegen Kaltherzigkeit, Gefühlsarmut und Selbstgefälligkeit. Auch die Strafe ist schon vorgesehen: Einsamkeit.

Marianne resümiert: Borgs Mutter sei kalt, ihr Mann Evald sehne sich nach dem Tod und nicht nach dem Kind, das sie unterm Herzen trage, und Borg habe richtig gesagt, er sei ein lebender Toter.

Trotz allem ist „Smultronstället” nicht etwa ein melodramatischer Film, keine nur schwer verdauliche Reise durch das Innenleben eines alten Mannes oder gar trockene psychologische Studie. Weit davon entfernt. Die Balance zwischen der Schwere eines egozentrisch anmutenden Lebens und der Leichtigkeit, mit der Bergman diese Geschichte erzählt, erfüllt den Betrachter mit einer Mischung aus Sehnsucht und Lebensfreude, Schmerz und Verständnis. Borg wird eben nicht als kaltes Ekel präsentiert, sondern als Mensch, der sich in seiner Ich-Bezogenheit ein Stück Freiheit bewahrt hat. Dass er sich dabei über andere hinweggesetzt hat und nicht in der Lage war, eine innige Beziehung zu auch nur einem Menschen einzugehen, drückt die Tragik seines Lebens aus. Die andere Seite jedoch ist genauso wichtig. Denn auch alle anderen haben Borg nie verstanden.

Die Augen sind in „Smultronstället” in gewisser Weise die Hauptakteure, die Blicke der Personen zueinander, in die Vergangenheit, ins Innere, in die Abgründe wie in die Freuden. Borg blickt auf Sara, auf seine Frau Karin und deren Liebhaber, in die Gesichter der Familienmitglieder, in die Mariannes und seiner Mitfahrer. Das Auge wird zum zentralen Ort der Erinnerung, des Gefühls und der Erkenntnis.

Das Visuelle ermöglicht eine Rekapitulation des Gewesenen. Doch es bewirkt ebenso, dass beim Sehen und durch das Sehen die Schleier fallen, die es behinderten. Auch Marianne erkennt z.B. auf dieser Reise, dass ihr Schwiegervater ein im Grund seines Herzens liebevoller Mensch ist. Wenn man so will, ist „Wilde Erdbeeren” auch eine Reise in diese seelischen Gefängnisse, in die Gefangenschaft, in der Menschen stecken und in die sie sich begeben, auch in bezug auf die Beurteilung anderer, die Gefühle, die man anderen gegenüber wegen deren Verhaltens hegt.

Nicht umsonst zählt „Wilde Erbeeren” zu Bergmans gelungensten Filmen.

Ulrich Behrens

Wilde Erdbeeren

Schweden

1957

-

92 min.

Regie: Ingmar Bergman

Drehbuch: Ingmar Bergman

Darsteller: Victor Sjöström, Ingrid Thulin, Bibi Andersson

Produktion: Allan Ekelund

Musik: Erik Nordgren

Kamera: Gunnar Fischer

Schnitt: Oscar Rosander