Theorie der Praxis und Berliner Schule Wie die Filmzeitschrift “Revolver” seit 20 Jahren das Träumen gegen die Wirklichkeit zelebriert

Kultur

1998 erschien die erste Ausgabe von “Revolver – Zeitschrift für Film”. Die Idee: Keine Filmkritiken, sondern eine „Theorie der Praxis”.

Christoph Hochhäusler in der Lichtburg Essen, Juni 2018.
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Christoph Hochhäusler in der Lichtburg Essen, Juni 2018. Foto: 9EkieraM1 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

3. September 2018
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Alle, die an dem Prozess namens Kino beteiligt sind, sollen hier Auskunft und Beispiel geben. Herausgegeben wird die Zeitschrift von einem Berliner Kollektiv, das in erster Linie aus FilmemacherInnen besteht. Ein Interview mit dem Regisseur und “Revolver”-Ko-Herausgeber Christoph Hochhäusler:

Am Anfang von Revolver steht der Wunsch zu lernen: Filme zu gucken, Gespräche zu führen, Erfahrungen zu teilen und im Zuge dessen als Regisseur zu lernen – ein Anspruch, der vor allem für Dich, Benjamin Heisenberg und Nicolas Wackerbarth gilt. Könntest Du eine konkrete journalistische Erfahrung schildern, die Dich persönlich als Filmemacher weitergebracht hat?

Ich glaube, das wichtigste, als Summe, war für mich die Erkenntnis, dass alles erlaubt ist. Dass die Filmgeschichte ein Testament der Regellosigkeit ist. Und dass das sowirdsgemacht der Branche eine Art Pfeifen im Walde ist. Natürlich gibt es auch ganz konkret Sätze, die hängengeblieben sind und vielleicht auch in meiner eigenen Arbeit nachhallen. Etwa Tankred Dorsts Wort „Wer lebt, stört” – der Eigensinn eines Charakters als Grundbedingung des Erzählens. Immer wieder Alexander Kluge. Sein Traum vom Film als Forschung. Oder Jean Douchets Bild von der „Brücke der Fiktion”, die man überqueren muss. Und viele andere.

Bei Cahiers du Cinema, wo ebenfalls Filmemacher im Mittelpunkt der Redaktion stehen, ging es anfangs vergleichsweise mehr darum, Ideen vom eigenen Schaffen zu reflektieren und zu propagieren, kurz: ästhetische Positionskämpfe zu führen. Wo siehst Du Gemeinsamkeiten und Unterschiede?

Ein wichtiger Unterschied ist, dass wir nie Kritiken geschrieben haben. Revolver veröffentlicht Gespräche und Selbstzeugnisse. Natürlich äussert man sich auch, wenn man Fragen stellt, aber im Mittelpunkt stand immer der Prozess der Anderen, die „Theorie der Praxis”. Truffauts Frage „Wie haben Sie das gemacht?”, sein Hitchcock-Buch, wäre also die direktere Verbindung zu dem, was wir versuchen und versucht haben. KünstlerInnen sind ja eher nicht die besten Interpreten ihrer Arbeit, aber über ihre Methoden geben sie meistens gut und gerne Auskunft.

Eine gewisse Rolle spielt dabei sicherlich auch der (sehr deutsche) Graben zwischen den KünstlerInnen und der Kritik. Als FilmemacherInnen wollten wir nicht über andere Arbeiten urteilen, sondern auf Augenhöhe Erfahrungen teilen. Natürlich waren die Cahiers mindestens in ihren Anfängen auch in einer völlig anderen Situation, gerade was die Rolle und Wichtigkeit des Kinos und der Cinephilie in Frankreich betrifft. Mit dieser Resonanzkammer konnten Filmdiskurse eine Breitenwirkung entfalten, von der wir nur träumen können.

Vielleicht noch eine Frage zum Selbstverständnis in den Anfangsjahren: Welche Rolle haben Schlüsselfilme aus den Geburtsstunden der Berliner Schule für Revolver gespielt – etwa „Die innere Sicherheit“?

Für mich war das ein sehr wichtiger Film. Und nicht ohne Grund haben wir Angela Schanelecs „Marseille” auf DVD veröffentlicht. Das waren schon so etwas wie Meilensteine auf unserem Weg. Aber gleichzeitig war unsere Gruppe nie eingeschworen auf bestimmte Positionen. Den einen Film, auf den sich alle hätten einigen können, gab es eigentlich nie.

Wie steht (und stand Revolver) zu dem Label „Berliner Schule“?

Das Label war nicht unumstritten bei uns. Und ich glaube, die Skepsis von Franz Müller und Saskia Walker zum Beispiel – beide Teil des Herausgeberkollektivs, beide BefürworterInnen eines formal weniger rigorosen Kinos – besteht bis heute. Aber irgendwann waren wir eben mitten in der Debatte, zunächst, weil wir lange vor dem Aufkommen des Etiketts die meisten der so adressierten Regisseurinnen und Regisseure im Heft hatten, und dann natürlich, weil Benjamin Heisenberg und ich gewissermassen eingemeindet worden sind. Doch als „Sprachrohr” haben wir uns nie verstanden.

Wie würdest Du die Rolle des Revolver für die Entwicklung der Berliner Schule beschreiben?

Es gab bestimmt gewisse Rückkoppelungseffekte. Im Kern war und ist die „Berliner Schule“ ja weniger eine Bewegung als jene „Nachbarschaft ohne Jägerzaun“, von der Christian Petzold einmal gesprochen hat. Zum Teil haben sich die FilmemacherInnen durch uns auch erst näher kennengelernt. Und man hat natürlich auch gelesen, was die anderen zu sagen hatten usw.

Wie hat sich Dein Blick (aber auch der Blick der Öffentlichkeit) auf die Berliner Schule über die Jahre gewandelt bzw. das Netzwerk selbst?

Heute sehe ich eher die Unterschiede als die Gemeinsamkeiten. Das hat mit der Dynamik des Labels zu tun, dem Widerstand gegen die Pauschalisierungen („Lange Einstellungen”) aber sicher auch mit der Tatsache, dass sich das Feld von selbst stärker ausdifferenziert hat. Es gibt inzwischen einfach eine sehr grosse Bandbreite innerhalb der FilmemacherInnen, die unter „Berliner Schule“ zusammengefasst worden sind.

Die Bandbreite reicht von Komödie („Toni Erdmann“) und Krimi („Kreise“) über Action- („Der Räuber”), Gangster- („Im Schatten“) und Historienfilm („Phoenix”) bis hin zu Western („Gold“), Dystopie („Im my Room“) und Politthriller („Die Lügen der Sieger“). Revolver spielte dabei allenfalls insofern eine Rolle, als dass wir den skeptischen Einwürfen von Dominik Graf zum Thema (Mailwechsel, Revolver Heft 16) Raum gegeben haben.

Worin bestand Grafs Skepisis und wie aktuell ist sie heute?

Dominik hat an den Filmen eine Tendenz zum „Schneewittchenfilm” kritisiert, sah die Gefahr einer „Schönheit hinter Glas”, die sich dem Leben entzieht. Das kann ich bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Ob er das heute noch genauso sieht, weiss ich nicht. Aber seine Kritik war dabei immer zugewandt, interessiert, differenzierend. Insofern war sie mir sehr willkommen.

Du hast einmal in einem Band geschrieben, der anlässlich einer Retrospektive der Berliner Schule am MoMa entstanden ist, es ginge Euch um ein Kino, welches von einer Art Ur-Selbstvertrauen als Medium getragen sei – weshalb auch das Kino der klassischen Hollywood-Ära einen wichtigen Referenzpunkt darstelle: als Kino, dessen Selbstvertrauen noch unangetastet ist von der Präsenz anderer (visueller) Medien wie TV und Video. Ich habe das mit Blick auf die Filme der Berliner Schule aber auch mit Blick auf die Ausgaben des Revolver intuitiv verstanden. Nichtsdestotrotz habe ich mich stets etwas über diesen anachronistischen Anspruch gewundert. Könntest Du das erläutern?

Im Kern sehe ich die „Berliner Schule“ als romantisches Projekt, im Sinne eines Träumens gegen die Wirklichkeit. Zu diesem Traum gehört die Annahme, dass das Kino Bedeutung hat – und es also einen Unterschied macht, welche Einstellung man wählt, welchen Ton. Aber unser Dilemma ist, dass wir nicht vergessen können, dass das Kino diese Bedeutung in Deutschland nicht hat.

Ist Revolver auch so ein romantisches Projekt?

Ich finde Revolver eigentlich erstaunlich pragmatisch. Es geht darum, zu verstehen, wie Filmemacher zu bestimmten Entscheidungen kommen, um ein Nachdenken auf handwerklicher Ebene. Pragmatisch ist daran auch, wie die Hefte entstehen. Wir bezeichnen uns als Kollektiv, zu dem heute neben mir, Benjamin Heisenberg und Nicolas Wackerbarth auch Franz Müller, Marcus Seibert und Saskia Walker sowie die Kuratoren Hannes Brühwiler und Istvan Gyöngyösi und darüber hinaus die Produzentinnen Zsuzsanna Kiràly und Cécile Tollu-Polonowski gehören. Aber das heisst in der Praxis vor allem, dass niemand per se für bestimmte Aufgaben verantwortlich ist, sondern immer die Personen, die gerade aktiv sind.

Das Heft wird nicht (immer) von allen gemacht, sondern von denen im Kollektiv, die Zeit und Lust haben. Wer macht, hat Gestaltungsmacht. Natürlich gibt es auch Grundsatzentscheidungen, die wir alle gemeinsam treffen, was mitunter ein zähes Ringen ist. Pragmatisch ist auch unser Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Keiner der Autoren oder Herausgeber wird bezahlt, auch weil jede Bezahlung der Mühe spotten würde. Das heroische „aus freien Stücken” ist in Wirklichkeit also ein Trick, damit sich niemand unterbezahlt fühlt.

Worin besteht für Dich die Aktualität dieses romantischen Ansatzes?

Die Aktualität hat – so vermute ich – mit einem bestimmten Verhältnis zum Mainstream, zum Hollywood-Modell und seinen Fernseh-Schwundformen zu tun. Bis zu einem gewissen Grad ist das ein Gegenkino, dass den dominanten hyperaktiven Code braucht, um seine Wirkung zu entfalten. Es ist ein Kino, das auf Unterschiede aus ist. Leise gegen laut, langsam gegen schnell, Statik gegen Verwandlung. Aber nicht aus Trotz – sondern weil diese Positionen, Erfahrungen, Erzählweisen unterrepräsentiert sind. Es geht darum, Alternativen zu denken. Das hat auch eine politische Dimension.

Die Berliner Schule ist auch von Dir und deinen KollegInnen bei Revolver im internationalen Kontext diskutiert worden, aber auch von diversen KritikerInnen, zuletzt etwa von Marco Abel und Jaimey Fisher in ihrem Buch „The Berlin School and Its Global Contexts“. Hier erscheint die Berliner Schule als „ästhetisches Netzwerk“, das weit über Berlin hinaus geht und Knotenpunkte in so unterschiedlichen Ländern wie Südkorea, Japan, Argentinien, Thailand und den USA hat. Das hat auch mit der Tatsache zu tun, dass Kino seit einigen Dekaden quasi global wahrgenommen wird: Internationalisierung der Festivals, Verfügbarwerdung der Filme via DVD (und später blu ray), Verbreitung der Informationen via digitale Medien, etc. Worin besteht der gemeinsame Nenner dieses „ästhetischen Netzwerks“ für Dich?

Für die „Berliner Schule“ habe ich einmal versucht, diesen Nenner aufzuschreiben: „Persönliche Perspektive, elliptisches Erzählen, minimalistischer Ausschnitt, Echtzeit, bürgerliches Leben, implizit politisch, statische Charaktere, opake Oberfläche Mensch, reduziertes Schauspiel, leise Töne, Konzentration“ hiessen einige der Schlagworte. Dieses Programm ist international in viele Richtungen anschlussfähig.

Welche Rolle spielt Revolver heute in diesem internationalen Netzwerk? Ihr habt auch einen Partner in Argentinien, richtig?

Ja, da ist es gelungen, den Funken überspringen zu lassen. Ursprünglich hatte Julieta Mortati sogar vor, unter dem gleichen Namen zu publizieren. Aber wir haben sie dann ermutigt, das Projekt unabhängiger zu denken. Las Naves, so heisst die Zeitschrift seitdem, hat ein verwandtes Konzept, versammelt also auch O-Töne von FilmemacherInnen, erscheint auch im gleichen Format, auf Papier. Allerdings organisieren sich die Hefte anders, die Texte werden thematisch gruppiert. Zu Beginn haben sie auch viele Texte von uns übernommen. Inzwischen ist es eher ein lockerer Austausch, was um so schöner ist, finde ich.

Die Macher von dem allseits geschätzten Fussballtaktik-Blog Spielverlagerung.de haben nach Jahren ihrer journalistischen Tätigkeit die Seiten gewechselt und sind in das aktive Fussball-Geschäft eingestiegen: als Spielberater, Assistenz-Coaches, etc. Worauf könnte es bei Revolver hinauslaufen? Die Seiten könnt ihr nicht mehr wirklich wechseln, Regisseure seid ja schon.

Revolver hat immer wieder Möglichkeiten geboten bekommen und auch genutzt, über das Zeitschriften-machen hinaus zu gehen. So haben wir zum Beispiel eine DVD Edition herausgebracht (mit der Filmgalerie 451), Filmreihen kuratiert (u.a. mit dem Goethe Institut in Paris und Buenos Aires), ein Fassbinder-Symposium veranstaltet (im .CHB), Vorträge und Vorlesungen gemacht. Auch die Präsenz im Netz ist wichtiger geworden. Ab September werden wir im Kino im Gropius Bau Kino machen, drei mal im Monat. Darauf freue ich mich sehr.

berlinergazette.de

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