Die Blume des Bösen Mitgefangen, mit gehangen?!

Kultur

Chabrol ist in den vergangenen Jahren ruhiger geworden, aber nicht weniger bissig.

Die französische Schauspielerin Nathalie Baye spielt in dem Film die Mutter mit politischen Ambitionen.
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Die französische Schauspielerin Nathalie Baye spielt in dem Film die Mutter mit politischen Ambitionen. Foto: Bernard Boyé (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

18. August 2004
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Während Klassiker wie „Le boucher“ (1969) oder „Les fantômes du chapelier“ (1982) noch stärker als spannungsgeladene Thriller angelegt waren, ist sein Film „La fleur du mal“ eher bedächtig, treibt fast unmerklich seine Protagonisten – allesamt, wie sollte es bei Chabrol anders sein, Angehörige des Bürgertums – durch eine Geschichte von Lug und Trug, Verbrechen und Fassade.

Allein die Verhältnisse der Familie Charpin-Vasseur sind derart verwickelt, dass sich aus ihnen selbst schon die Möglichkeit der Intrige, der Lüge und des Verbrechens ergeben könnte. Gérard (Bernard Le Coq) ist Apotheker und in zweiter Ehe mit Anne (Nathalie Baye) verheiratet. Beider Ex-Partner starben bei einem mysteriösen Autounfall. Anne hat aus erster Ehe eine Tochter, Michèle (Mélanie Doutey), die Psychologie studiert. Gérard brachte in die Ehe seinen Sohn François (Benoît Magimel) mit. In der Familie lebt zudem die Tante Annes, Micheline Charpin, genannt Line (Suzanne Flon), deren Vater mit den Nazis kollaboriert hatte und später ermordet worden war. Line wurde damals des Mordes an ihrem Vater verdächtigt, aber freigesprochen.

Aus diesem familiären Gespinst zaubert Chabrol eine kleine, aber feine Kriminalgeschichte. Anne kandidiert als unabhängige Bewerberin für die demnächst vakant werdende Stelle des Bürgermeisters irgendwo in der Gegend um Bordeaux. Gérard passen diese politischen Ambitionen seiner Frau überhaupt nicht. Er vertreibt sich die Zeit in seiner Apotheke mit jungen Frauen auf der Couch. Zudem gerät er bei Annes Tochter Michèle in Verdacht, der Verfasser eines anonymen Flugblatts zu sein, in dem die Vergangenheit der Familie blossgestellt wird. François, der gerade von einem mehrjährigen Aufenthalt aus den USA zurückgekehrt ist, verachtet seinen Vater. Zudem ist er seit seiner Kindheit in Michèle vernarrt, und sie in ihn. Kaum ist François in den Schoss der Familie zurückgekehrt, verzieht er sich mit Michèle in ein Haus, dass Line gehört.

Währenddessen putzt Anne zusammen mit ihrem Wahlkampfhelfer Matthieu (Thomas Chabrol) die Klinken bei potentiellen Wählern in Sozialwohnungen. Matthieu ist Anne sehr zugetan, während Gérard böse ist, dass François – kaum zurück aus den USA – eine intime Beziehung mit Michèle beginnt. Denn Gérard hat keine Skrupel, auch seiner Stieftochter nachzustellen. Während Anne – oberflächlich empört über die Zustände in den Sozialwohnungen, in Wirklichkeit jedoch angewidert von deren Bewohnern – Stimmen sammelt und gute Chancen zu haben scheint, Bürgermeisterin zu werden, stellt Gérard Michèle sein Arbeitszimmer zur Verfügung, um ihr später dort nachzustellen. Ein Totschlag, der Wahlsieg Annes und ein Familiengeheimnis, das Line offenbart, enthüllen die tragischen Verwicklungen der Familie Charpin-Vasseur ...

Der Tod und das Leben spielen eine merkwürdige Rolle in den Familien, die Chabrol zeigt. In einer manchmal zum Bersten ruhigen Weise, in der das Verhalten der Figuren fast schon selbstverständlich erscheint, konstruiert und rekonstruiert Chabrol die Tragik einer Klasse, in der Egozentrik und Skrupellosigkeit, Mitgefühl und Zuneigung kaum noch auseinander zu halten sind, eine explosive Mischung abgeben, so dass am Ende Erfolg und Scheitern derart dicht beieinander liegen, dass nur noch eine Schlussfolgerung möglich bleibt: Sie können nicht anders.

Der Tod kommt als Totschlag oder Mord. Ob mysteriöser Unfalltod, Vatermord, Stiefvatermord – all dies dient einer Art Bereinigung der Vergangenheit, die eigentlich gar nicht existiert, so präsent ist, als wenn 60 Jahre ein Pappenstiel wären. Nur Line weiss dies, versucht und hat schon immer versucht, schützend ihre Hand über die Familie zu halten. „Wir leben immer nur jetzt“, sagt sie. Der bewusst herbeigeführte Tod scheint das Schmieröl, das den familiären Kollaps verhindern soll. Die Vertuschung des Verbrechens, das Schweigen über den Tod, den Mord ist die Kehrseite dieser Medaille.

Der Wahlkampf Annes entspricht seiner Struktur nach fatalerweise genau diesem Muster. Anne will Macht, um etwas zu verändern. Was, bleibt im Dunkeln. Ekel überkommt einen, wenn sie und der aalglatte Matthieu sich in die Wohnungen armer Leute begeben, deren Leben und Mentalität sie sowieso nicht verstehen können. Sie flüchten geradezu über das Treppenhaus, um frische Luft zu schnappen: ihre Luft, denn die da oben im zehnten oder elften Stock „riechen“ ungewohnt schlecht. Andererseits Gérard, ein hintertriebener Egozentriker, dessen Ehe mit Anne schon lange nur noch Fassade ist, vielleicht schon immer war. Gérard führt einen anderen Kampf: Er erobert Frauen. Dieser Kick ist für den reichen Apotheker Ausdruck seiner Macht(besessenheit). Der besondere Kitzel für ihn wäre die Eroberung Michèles. Als er diese Grenze überschreitet, muss er mit dem Leben bezahlen.

Doch das ist Chabrol nicht genug, weil es seinen Figuren nicht genug ist. Michèle und François mögen sich seit ihrer Kindheit. François war vor seiner Familie geflüchtet, vor allem seinem Vater. Jetzt kehrt er zurück. Warum? Er liebt Michèle. Sie scheinen ein Traumpaar zu sein. Doch auch hier erweist sich Chabrol als listiger Säer von Zweifeln. Die beiden scheinen zu perfekt füreinander geschaffen. Der inzestuöse Geruch ihrer Beziehung ist stets präsent. Der Tod Gérards setzt beiden – möglicherweise – eine Grenze.

Chabrol ist kein Moralapostel. Er bewertet seine Protagonisten nicht, er stellt sie „nur“ bloss. Er zeigt, wie sie sich geben, und die Konsequenzen ihres Verhaltens. Der Wahlsieg Annes markiert den Tod all dessen, was sie und Matthieu an mehr oder weniger lauen Versprechungen abgegeben haben, den Tod des Politischen als einer Sphäre im Leben aller Menschen. Anne repräsentiert als designierte Bürgermeisterin nicht das Politische, sondern die Kaste der Politiker, die das Politische für sich vereinnahmt haben. Für die Menschen in den Sozialwohnungen ändert sich nichts.

Ihnen wurde das Politische entzogen; sie stehen mehr oder weniger mit leeren Händen da. Und während Anne und Matthieu den Sieg der Kaste bei Champagner und kaltem Buffet feiern, müssen Line und Michèle eine Leiche die Treppe hinauf schleppen. Der Tod lauert an jeder Ecke. Gérard wird zum Symbol eines (gross-)bürgerlichen Lebens, in dem das Überschreiten der Grenzen, zu dem diese Mentalität allerdings selbst provoziert, Opfer fordert. Die Zufälligkeit seines Todes täuscht über die Konsequenz hinweg, die sich aus der Mentalität dieses Lebens ergibt, ja, ist selbst Fassade einer den Protagonisten unbewussten Herrschaft ihrer eigenen Regeln.

Sie produzieren und reproduzieren eine Lebensweise, ohne sich darüber wirklich im klaren zu sein. Nur Line – steinalt geworden – weiss in der Retrospektive um die Tragik dieses Lebens, ohne jedoch von dem Regelwerk, das ihre Familie beherrscht, lassen zu können: Sie muss Michèle schützen; der Kreis schliesst sich und ein neuer tragischer Reigen kann beginnen.

Chabrols „La fleur du mal“ wird nicht jedem zusagen. Es gibt Kritiker, die dem Film fehlende Spannung vorwerfen. Im Vergleich mit älteren seiner Filme mag dies zutreffen. Aber manchmal ergibt sich Spannung nicht aus einer vordergründigen Verwendung kriminalistischer Effekte oder der Einbettung einer derartigen Geschichte in die Hülle eines Thrillers. „La fleur du mal“ beherrscht eine subtile Zeichnung der Charaktere und ihres Verhaltens, ihrer Worte. Das macht mir den Film lieb.

Ulrich Behrens

Die Blume des Bösen

Frankreich

2003

-

99 min.

Regie: Claude Chabrol

Drehbuch: Caroline Eliacheff, Louise L. Lambrichs, Claude Chabrol

Darsteller: Nathalie Baye, Bernard Le Coq, Mélanie Doutey

Produktion: Yvon Crenn, Marin Karmitz

Musik: Matthieu Chabrol

Kamera: Eduardo Serra

Schnitt: Monique Fardoulis