Rezension zum Film von Akira Kurosawa Rashomon - einer der ungewöhnlichsten Filme der Geschichte

Kultur

Michael Hanekes Statement, dass es keine Wahrheit gebe, da diese vom Standpunkt abhinge, trifft vielleicht auf keinen Film in grösserem Umfang zu, als auf „Rashomon“ von Akira Kurosawa, einen der ungewöhnlichsten und beeindruckendsten Filme der Geschichte.

Akira Kurosawa am Filmset während den Dreharbeiten zu «Seven Samurai».
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Akira Kurosawa am Filmset während den Dreharbeiten zu «Seven Samurai». Foto: 映画の友 (PD)

26. August 2011
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Die letzte Szene macht die Äusserung Hanekes („Caché“, „Das weisse Band“) am deutlichsten: drei Männer finden in einer Ecke des halb verfallenen Tempels Rashomon ein kleines Baby, in Laken gehüllt. Einer der Männer nimmt die Laken an sich, woraufhin er von einem anderen Mann stark kritisiert und als Dieb beschimpft wird. Doch der Dieb rechtfertigt sich: später hätte irgendjemand sonst diesen Kimono genommen, warum sollte er ihn nicht also jetzt nehmen, wo das Baby ihn eh noch nicht tragen könne? Ist dieser Mann, der die Laken an sich genommen hat ein Dieb oder nicht? Ist seine Tat zu rechtfertigen oder muss er dafür verurteilt werden? Für ihn ist es rechtens, seine Argumentation ist – zumindest für ihn selbst – schlüssig. Der Andere jedoch kontert, dass es nicht sein Eigentum sei und er seine Finger davon zu lassen habe.

Wer von beiden hat nun Recht? Akira Kurosawa spielt mit der Wahrheit und ihrem Stellenwert in der Gesellschaft, in einem seiner bekanntesten Filme ist die Satire genauso Realität wie das, was sie parodiert. Ist die Parodie Realität, die Szene, auf der sie basiert aber nicht? Oder umgekehrt? Was können wir glauben, was können wir wissen? Nur eines: dass wir nichts mit Sicherheit sagen können, was nun hinter diesem Film steckt, was reell und was falsch ist. „Rashomon“ spielt mit dem Zuschauer, wie es kaum je ein Film getan hat. Und er hat sichtlichen Spass daran.

Alles beginnt zu einem Zeitpunkt, den wir nicht einordnen können. Wir sehen einen halb verfallenen japanischen Tempel. Irgendwo. Irgendwann. Dichter Regen peitscht hernieder. Zwei Männer haben sich in dem Tempel zurückgezogen. Sie sind vor den Regenmassen geflüchtet. Der eine von ihnen stammelt, er habe noch nie so eine furchtbare Geschichte gehört, der andere sagt, er habe dadurch seinen Glauben an das Gute im Menschen verloren. Und gnadenlos peitscht der Regen weiter hernieder, als ein Dritter den Tempel betritt. Er will die Geschichte hören, die so furchtbar ist, dass die zwei Männer kaum ein Wort herausbringen. Ein Mann wurde ermordet, sagt man schliesslich. Der Neue lacht. Einer bloss? Sechs würde man nur wenige Meter entfernt finden. Eine schreckliche Zeit sei das, erwidert ein anderer. Krieg, Pest, Umweltkatastrophen. Vielleicht findet diese Geschichte in einer dystopischen Zukunft statt, vielleicht in einer gebeutelten Vergangenheit.

Man beginnt, die Geschichte zu erzählen. Sie handelt von Tajomaru (Toshirô Mifune), einem Räuber, Macho und Frauenhelden. Dieser erwacht eines Tages unter einem Baum und erblickt zwei Menschen – einen Mann und dessen Ehefrau. Vom Anblick dieser Frau derart verzaubert, versucht er, sie für sich zu gewinnen – auch, wenn er dafür ihren Mann töten muss. Wenig später wird dieser Ehemann tot aufgefunden und alle Beteiligten geben ihre Version der Geschichte wieder. „Rashomon“ ist kniffelig, verschachtelt und komplex, voller loser Enden, die dem Zuschauer vor die Füsse geworfen werden, damit er daraus etwas Schönes mache.

Kurosawa gibt sich nicht die Mühe, all das aufzulösen, was es aufzulösen gilt. Warum auch? Wozu sollte es dienen? Der Wahrheit? Welche dieser Geschichten ist die Wahrheit? Stimmt überhaupt irgendeine davon oder ist alles erlogen? Ist die Wahrheit eine Mischung aus all diesen Geschichten, die man vor dem Gericht erzählt? Ein Gericht, das man nie sieht, eine Polizei, die nie auf dem Bildschirm erscheint, denn der Zuschauer selbst ist das Gericht, nur er wird unmittelbar angesprochen und muss entscheiden, was rechtens ist und was nicht.

Der Film ist ein unmittelbares Medium, das weniger Fantasie erlaubt als ein Buch oder ein Radiostück. Der Film ist visuell. Der Zuschauer bekommt bewegte Bilder vorgesetzt, die ihm als Wahrheit verkauft werden und der Zuschauer muss dies so hinnehmen, er hinterfragt in den meisten Fällen nicht, da sein Vorstellungsvermögen nicht derart angeregt ist wie bei einem Buch oder im Radio, denn die Bilder sind da. Hier jedoch ist Skepsis angebracht. Nicht alles, was einem als Zuschauer vorgesetzt wird, ist richtig.

Der Film kann als Mittel zu Propagandazwecken missbraucht werden, hier bei Kurosawa wird er zum Mittel für Täuschung und Realitätshinterfragung. Diese Hinterfragung ermöglicht, dass ein jeder Zuschauer, den man nach Sichtung des Films fragt, was er gesehen habe bzw. worum es in dem Werk ging, eine andere Antwort erwidert. „Rashomon“ erlaubt das wie nur wenige Filme und darin liegt, laut Regisseur Robert Altman, die Qualität dieses einzigartigen Werkes, das durch diese Eigenschaft die ganze Kunst des Mediums in sich vereint. In unendlicher Bildgewalt bekommt man eine Version dieser sagenumwobenen Geschichte erzählt, doch wir hören die Erzählungen oft nicht, sondern sehen sie nur in Bildern auf Zelluloid gebannt und müssen uns fragen, ob dies der eigentliche Tathergang ist oder die Geschichte, wie der Erzähler sie sieht oder eine Erfindung des Erzählers, der sich einige Freiheiten mit seinem angeblichen Erlebnis erlaubt.

Dieser Ansatz von Kurosawa erlaubt scheinbar alles, denn all das ist ein Spiel, das schon längst jenseits den Grenzen von Realität und Fiktion stattfindet und das auch ein Auftreten des Übernatürlichen erlaubt. Hier ist es die Stimme des Toten, die erklingt und ihre Geschichte erzählt. Der Zuschauer akzeptiert das, denn er weiss: Tote sprechen nicht. Dieses Paradoxon erklärt sich durch das ganze Konstrukt des Films, in dem alles und nichts realistisch ist. Alles ist gleichwertig. Alles ist Lüge oder alles ist Wahrheit. „Es interessiert mich nicht, ob es eine Lüge ist, solange es unterhaltsam ist“ sagt eine Person in „Rashomon“. Diese Aussage spricht für sich und für vieles mehr.

Cineast
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Rashomon – Das Lustwäldchen

Japan

1950

-

88 min.

Regie: Akira Kurosawa

Drehbuch: Shinobu Hashimoto, Akira Kurosawa

Darsteller: Toshirô Mifune, Machiko Kyô, Masayuki Mori

Produktion: Daiei

Musik: Fumio Hayasaka

Kamera: Kazuo Miyagawa

Schnitt: Akira Kurosawa

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