Sexualität und Postnazismus Vom Wandel der Unschuld

Gesellschaft

„Ein Stück sexueller Utopie ist es, nicht man selber zu sein, auch in der Geliebten nicht bloss sie selber zu lieben: Negation des Ichprinzips.“ (Adorno 2003, S. 538)

Vom Wandel der Unschuld –  Sexualität und Postnazismus.
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Vom Wandel der Unschuld – Sexualität und Postnazismus. Foto: Iliyan Yankov (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

1. Februar 2016
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1997 tauschte Esteé Lauder eine Werbefotografie durch eine nahezu identische aus. Nur ein kleines Detail wurde verändert (vgl. Higonnet 1998, S. 7). Das Foto hält ähnlich wie ein Schnappschuss in einem Familienalbum, doch dafür zu artifiziell, eine idyllische Situation fest: Ganz im Vordergrund ruht ein Mann in einer Hängematte, ein Kind schläft auf seinem Oberkörper. Der rechte Arm des Mannes liegt bequem auf dem sattgrünen Gras, daneben ein Golden Retriever. Im Hintergrund ist verschwommen ein weisser Zaun zu sehen, der die leicht hügelige Rasenfläche von dem tiefblauen, mit einem weissen Wölkchen getupften Himmel trennt. Das schlafende Kind schmiegt seinen Kopf an den Hals des Mannes, dessen Gesicht der Kamera abgewendet ist und dessen linke Hand schützend den Kopf des Kindes hält. Links in der unteren Bildecke ist auf einer separaten grauen Fläche das beworbene Männerparfum abgebildet: Pleasures for Men. Estée Lauder zog dieses Bild aus dem Verkehr und ersetzte es durch ein anderes. Der Unterschied zwischen beiden ist einzig: auf dem zweiten Bild trägt der Mann einen Ehering auf dem ersten Bild keinen.

Letztes Jahr berichtete eine Freundin von mir, wie sie kürzlich gemeinsam mit einer Bekannten überlegte, wer sich zukünftig zum Babysitten ihres zu diesem Zeitpunkt noch ungeborenen Kindes eignen würde. Ihr fiel ein Nachbar ein und wie praktisch es wäre, das Kind gleich nebenan abgeben und wieder abholen zu können. Die Bekannte, selbst Mutter, warnte, sie würde ihr Kind nie einem ungebundenen Mann überlassen, der – wovon man im Falle jenes Nachbarn ausgehen könne – ein asexuelles Leben führt. Seither hat meine Freundin ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, ihr zukünftiges Kind in die Hände des Nachbarn zu geben, obgleich sie diesen nach wie vor nicht für einen potentiellen Sexualstraftäter hält.

In beiden Fällen geht es um die Phantasie, ein Kind sei in Obhut eines alleinstehenden Mannes gefährdet, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden. Eine Phantasie, die offenbar unabhängig davon, ob diese Befürchtung als realistisch erachtet wird oder nicht, wirksam ist und Realitäten schafft – in diesen Fällen: das Ausscheiden alleinstehender Männer als Babysitter, die Verfertigung von Bildern idyllischer Kindheit, in der die körperliche Nähe zwischen Kind und männlichem Erwachsenem ein neuralgischer Punkt der Idylle zu sein scheint.

Sexueller Missbrauch von Kindern erscheint als eine allgegenwärtige Bedrohung, ob in „Tatort“, „Soko“ oder sonstigen Krimiformaten, die Jagd auf Pädophile ist derzeit ein Topthema der Fernsehunterhaltung. Das Bild der kindlichen Unschuld wird zuweilen mit äusserster Aggressivität verteidigt, ablesbar etwa an der öffentlichen Erregung ob des Rückzugs zweier haftentlassener Sexualstraftäter, die im Jahre 2011 das Dorf Insel in Sachsen-Anhalt erfasste. In diesem wie in anderen Fällen zeigte sich, wie breit der Konsens in Sachen Wut auf Kinderschänder derzeit ist, nicht zuletzt auch daran, dass sich alsbald unter den BürgerInnenmob Neonazis mischten.

So angesagt die Verfolgung pädosexueller Verbrechen – ob auf dem Dorfe oder in der Kulturindustrie –, so tabuiert das dazugehörige Begehren. Obgleich nur ein geringer Anteil von Sexualvergehen an Kindern aufgrund pädophiler Neigung begangen wird, gilt diese in der öffentlichen Wahrnehmung als Ursache par excellence. „Verstärkt wird diese Wahrnehmungsverzerrung durch die Konzentration des Interesses auf das durch den Erwachsenen sexuell gefährdete Kind, die sowohl die öffentliche Debatte als auch die meisten Filme zum Thema prägt.“ (Mallmann/Schmidt, 2012)

Ist das Kind als Verkörperung von Unschuld und Reinheit ein altbekanntes Bild seit dem 17. Jahrhundert (vgl. Ariés 1975), steht es doch in unterschiedlichem Verhältnis zu der sich verändernden gesellschaftlichen Bedeutung des Sexuellen. Die Verknüpfung von dem Ideal kindlicher Unschuld und Asexualität mit dem Gefühl allgegenwärtiger Bedrohung durch pädosexuelle Straftaten sind m.E. Symptom einer Transformation der Sexualmoral seit den 1980er Jahren. Ein Wandel, der sich in westlichen Ländern insgesamt vollzogen hat – in Deutschland, wie ich im Folgenden zeigen möchte, steht dieser allgemeine Wandel in einem spezifischen Verhältnis zur deutschen Geschichte der Vergangenheitsbewältigung: nämlich in einem der Entkopplung, so meine These.

Wurde bis Ende der 1980er Jahre im postnazistischen Deutschland das Motiv der sexuellen Unschuld auf unterschiedliche Weise mit Fragen der Schuld an den Verbrechen im Nationalsozialismus verbunden, so vollzieht sich seither eine Tendenz der Isolierung des Sexuellen von dem Diskurs der Vergangenheitsbewältigung. Im Folgenden möchte ich zunächst die Veränderung der gesellschaftlichen Bedeutung des Sexuellen im Postnazismus skizzieren, um dann das Motiv des unschuldigen Kindes als Symptom gegenwärtiger Sexualmoral zu interpretieren.

1950er Jahre – Sittsame Deutsche und perverse Nazis

In den 1950er Jahren wird die Sexualität der Nachkommen ein zentraler Schauplatz der Vergangenheitsbewältigung. Die Deutschen bringen ihre sexuellen Beziehungen in Ordnung, was bedeutet: in eine sexualkonservative Ordnung. Der als Wiederherstellung der sexuellen Ordnung wahrgenommene Sexualkonservatismus steht in Kontinuität mit der Sexualitätsauffassung der Nazis und weicht zugleich von dieser entscheidend ab.

Übernommen werden z.B. bestimmte Kategorien von unerwünschten Praktiken und Verhaltensweisen. So war etwa der unter den Nazis verschärfte § 175 in der BRD unverändert bis 1969 in Kraft. Die ebenfalls unter § 175 aufgeführte widernatürliche Unzucht mit Tieren wird bei Beibehaltung des Verbotes, tier-pornographisches Material zu vertreiben, in der BRD erst 1969 durch eine andere, eingeschränkte Verordnung ersetzt, die den Sex mit Tieren nur unter Strafe stellt insoweit diese dabei Verletzungen erleiden. Die NS-Kategorie der sexuellen Verwahrlosung – unter die weibliche Prostituierte, Lesben, als sexuell promiskuitiv oder asozial eingestufte Frauen fielen – blieb zentral in der postnazistischen Pädagogik der 1950er und 1960er Jahre, in tausenden Heimen trafen Mädchen auf ErzieherInnen, die bereits im Nationalsozialismus Dienst taten.

Doch diese und andere Kontinuitäten waren zugleich eingebettet in eine Wendung gegen die Sexualmoral der Nazis. Sich in verschiedener Hinsicht von Hitler wie von den Siegermächten verraten fühlend, wurde als eines der grössten im NS begangenen Verbrechen die Verwirrung der Geschlechterordnung durch die Nazis, die in diesem Zusammenhang ungezügelte Triebhaftigkeit repräsentierten, ausgemacht. Diese wurden von den Geläuterten beschrieben mit „Attributen, die die ehemaligen VolksgenossInnen aus der Propaganda gegen volksfremde Elemente gut kannten, gegen Flintenweiber, Schwule, Perverse, Lüstlinge…“ (Winter 2007, S. 55). Stets zeugte die Erregung über das perverse Nazitum der nun sittsam vor dem Heimatfilm in guter Stube Versammelten zugleich von dessen Verlockung. In den 1950ern „zollte die Rede vom unwiderstehlichen Nationalsozialismus, der jedes Volk verführt hätte und dieses eine tatsächlich in die Knie zwang, insgeheim Hochachtung; doch die Freude an sentimentalen Erinnerungen fand, wie jede pornographische, im Verschwiegenen statt“ (Quadfasel/Dehnert 2002, S. 57).

Man wollte Ordnung schaffen, wo die sexuelle Freizügigkeit der Nazis angeblich Unordnung und so letztlich auch Krieg und Verbrechen (über die Deutschen) gebracht hätten. Die Reinhaltung der Jugend war oberstes Gebot und so verschwanden etwa zu Beginn der 1950er Jahre die Kondomautomaten mit der Aufschrift „Männer, schützt Eure (!) Gesundheit“ aus den Pissoirs der BRD – „Man wollte lieber die Moral der Jugendlichen schützen als ihre Gesundheit“ (Schmidt 2005, S. 153). Die Frauen wurden vom Dienst am Volke zu dem an Mann, Kindern, Heim und Herd abgeordert; die Ehe wurde durch strengere Scheidungsverordnungen unter verschärften Schutz gestellt; mancherorts der Erwerb von Kondomen erschwert; Versuche, den § 218 zu lockern, scheiterten; es wurden Gesetze erlassen, bekannt als „Schmutz- und Schundgesetze“, die den Konsum und Vertrieb pornographischen Materials, unzüchtiges Verhalten in der Öffentlichkeit, Prostitution etc. einschränkten oder verboten (vgl. Herzog 2005, S. 127). Nach Ansicht vieler ZeitgenossInnen „unterschied sich der Angriff der Pornographie auf die Köpfe der Jugend nicht im Geringsten von dem ‚Attentat auf die Seelen unserer Jugend' durch den Nationalsozialismus“ (ebd., S. 141). Den Ruf nach Keuschheit als Abwendung von der Freizügigkeit im NS zu verstehen, traf – zugleich in ihm vormalige Kategorisierungen von volksschädigenden Perversionen fortführgeführt wurden – durchaus etwas,.

Weder prüde noch lüstern: Der Trieb im NS-Volkskörper

In der Tat waren im nationalsozialistischen Deutschland massgeblich auch sexualreformerische Positionen vertreten gewesen. Es gab neben sexualkonservativen Strömungen, die sich explizit gegen die Fortschrittlichkeit der Weimarer Zeiten wandten, auch solche, die von sexuellen Restriktionen und der Reduktion der Sexualität auf die Funktion der Fortpflanzung eine ungesunde Wirkung auf den Volkskörper ausgehen sahen. In der völkischen Sexualmoral standen sich also sexualkonservative und sexualreformerische Positionen gegenüber – beide einigte der Antisemitismus.

Beispielhaft für eine sozialreformerische Position war der der Arzt, Psychotherapeut und Erfinder des autogenen Training Johannes H. Schultz, der in der auflagenstarken nationalsozialistischen Sexualberatungsschrift „Geschlecht-Liebe-Ehe“ für eine liebevolle Kindererziehung, für das Gewährenlassen kindlicher Onanie, für die Anerkennung weiblicher Lust und der Wichtigkeit des Orgasmus für beide Geschlechter plädiert und den Müttern im Dienste des späteren sexuellen Wohlergehens ihrer Sprösslinge dazu rät, diese zu küssen und zu liebkosen (vgl. Herzog 2005, S. 41).

Neben dieser Zeitschrift war vor allem das antisemitische, kirchenfeindliche SS-Hetzblatt „Das Schwarze Korps“ Medium der Gegner sexualkonservativer Positionen. In „Das Schwarze Korps“ galt Triebfeindschaft als Gefahr für die Gesundheit des deutschen Volkes, die christliche Sexualmoral lenke die „gesunden Triebkräfte“ in „unnatürliche Bahnen“ und mache sich so des Angriffs auf „die Herrschaft des starken, lebensfreudigen Germanentums“ schuldig („Das Schwarze Korps“ zit.n. Herzog 2005, S. 44). Als Hauptverantwortliche für die Zerstörung des deutschen Sexus wurden die Juden ausgemacht, die diesen durch Verfälschung des deutschen Instinktes für die natürliche Schönheit des Leibes und ehrlicher Nacktheit zersetzten. Die Sexualkonservativen hingegen sahen in der sexuellen Lüsternheit der Juden einen Angriff auf deutsche Ehe und Moral.

In „Das Schwarze Korps“ pflegte man bezüglich der Bewertung der Ehe eine Doppelmoral: Einerseits wurde in Abgrenzung zum Schmutz der jüdischen Sexualität die Achtung vor der Ehe betont, zugleich jedoch verteidigte „Das Schwarze Korps“ vor- und ausserehelichen Geschlechtsverkehr und auch die Zeugung unehelicher Kinder (vgl. Herzog 2005, S. 47).

Insgesamt waren die Regeln der Sexualmoral ambivalent, „nie stand ganz genau fest, wie weit diese für die Angehörigen des Herrenvolkes zu übertreten waren. Viele Kinder zur Welt zu bringen konnte einen zum Vorbild machen – oder zum Asozialen.“ (Dehnert/Quadfasel/Witte 2003, S. 34) Nicht Besiegelung, sondern Integration der klassischen Familie in das völkische Kollektiv war das Ziel der faschistischen Massenorganisationen, „die vom Einzelnen jene Liebe und Loyalität verlangten, die früher allein dem privaten kleinen Reich und ihrem Oberhaupt gegolten hatten. Solche Konkurrenz konnte die HJ ebenso wenig dulden wie Hitler selber: wer dazugehören wollte, hatte Mutter und Vater zu verraten, ebenso wie die ihre Kinder, wenn die Rassenhygiene es verlangte.“ (ebd., S. 25) Vom Trieb ebenso wie von seiner Unterdrückung schien Gefahr auszugehen – Gefahr der Rassenschande einerseits wie Lebensquell der arischen Rasse andererseits, denn „als abgeführter, mit der helfenden Hand der Volksgemeinschaft bewältigter […] bedeutete er Schönheit“ (ebd., S. 26). Diese sollten die Körper „spiegeln und Verlangen repräsentieren – dem organischen Ganzen, der Volksgemeinschaft, legitimiert, die Grenzen der Intimität zu durchstossen“ (ebd., S. 27).

Keineswegs hing also der Wert der Sexualität für die Nazis einzig von der Fortpflanzungsfunktion ab. Wie die „NS-Frauenwarte“ formuliert: „Die nationalsozialistische Ideologie ist zutiefst lebensbejahend. Nichts liegt ihr ferner als Prüderie …“ (zit.n. Herzog 2005, S. 51) Wo aber die Grenze dieser ihnen fernliegenden Prüderie zum Juden lag, der als Lüstling einerseits, als Lustfeind andererseits den deutschen Sexus zu schädigen drohte, konnte sich angesichts der widersprüchlichen Formulierung niemand gewiss sein.

Dass „der NS ein gigantisches Unternehmen zur Reorganisation der erotischen Energien der Volksgenossen bildete und in jedem seiner Glieder, der bekannten Kälte zum Trotz, vor Erregung zitterte“ (Dehnert/Quadfasel/Witte 2003, S. 24), war in frischer Erinnerung der sexualkonservativen ProtagonistInnen, die sich in den 1950er Jahren um die Wiederherrichtung dessen bemühten, was vom wilden Treiben im NS zerstört zu sein schien – nicht zuletzt die traditionelle Familie. Man predigte insgesamt sexuelle Zurückhaltung, ausserhalb, aber auch in der Ehe, Eltern sahen in den zu Rock'n Roll zuckenden Hüften eine barbarische Sexualisierung ihrer Nachkommen, vor dessen Verführung diese zu bewahren seien. An den adoleszenten Kindern schien die Gefahr des Triebes auf, den zuvor das völkische Kollektiv zu integrieren versprochen hatte: mit der Vernichtung der Triebfeindschaft wie ungezügelte Wollust repräsentierenden Juden, letztere verkörperten nun auch die perversen Nazis.

Von der Befreiung zum Missbrauch

Diese Deutung einer vom Exzessiven des Sexuellen ausgehenden Gefahr, die mit den nationalsozialistischen Verbrechen phantasmatisch verknüpft war, erfährt Anfang der 1960er Jahre durch die Kinder der TäterInnengeneration eine Wendung. „In Umkehrung der Nachkriegsformel, die das Ausleben von Sexualität mit Mord und Grausamkeit in Verbindung gebracht hatte, wurden Mord und Grausamkeit nun mit Unterdrückung von Sexualität verknüpft.“ (Herzog 2005, S. 164) Sexuelle Repression, an ihnen durchexerziert, erscheint den Kindern als Erbe der Nazizeit und spätestens mit der Sexuellen Revolution Ende der 1960er Jahre setzte sich die Idee von der Befreiung der Sexualität als Teil des Kampfes gegen den Faschismus durch – Befreiung vom Faschismus = Befreiung der Sexualität.

Eine Bewegung, die über die Linke hinaus Wirkung zeigte, etwa darin, dass bereits 1968 „die Westdeutschen mehr Abbildungen nackter oder halbbekleideter Menschen erworben haben als jedes andere Volk der Erde“ (ebd., S. 178). Gerade aber in der Auffassung einer befreiten Sexualität als einer unbändigen, tabusprengenden und transformativen Kraft (vgl. u.a. Schmidt 1998), befand man sich näher an der ‚zutiefst lebensbejahenden', völkischen Sexualmoral als gedacht. Im Nachhinein besteht laut Herzog ein „Haupteffekt des ‚Normalisierungsprojekts der fünfziger Jahre' […] auch darin, dass die sex-freundlichen Seiten des Nationalsozialismus in Vergessenheit gerieten“ (Herzog 2005, S. 130).

Ende der 1970er Jahre kommt der „Blues über die Liebeslandschaften“ (Schmidt 2005, S. 161) – ein Misstrauen gegenüber den Errungenschaften der Sexuellen Revolution hält Einzug. Nicht wenige Pornoproduzenten gingen pleite (vgl. Herzog 2005, S. 179), während zeitgleich u.a. durch schwule und lesbische Initiativen, die Frauenbewegung, Arbeitsgruppen zur Sexualerziehung etc. die sexualpolitische Liberalisierung erfolgreich vorangetrieben wird (u.a. werden bekanntlich eine Reform des § 218 und eine erneute des § 175 durchgesetzt).

War wenige Jahre zuvor eine frei gelebte Sexualität als Gegenentwurf zum Nationalsozialismus gehandelt worden, kommen nun Schattenseiten des Sexuellen ins Visier – in ganz unterschiedlicher Hinsicht. Feministinnen gehen das sexistische Verhalten von linken Chauvis an, thematisieren Belästigung und Unterdrückung von Frauen im heterosexuellen Alltag und am Arbeitsplatz, kritisierten den Erhalt traditioneller Rollenmuster (auch in der Linken), im Kontext der Anti-Porno-Bewegung kommen Themen wie Prostitution und sexueller Missbrauch auf die Agenda.

Zunächst Thema von Anti-Missbrauchs-Kampagnen der 1970er Jahre, tritt eine allgemeine Umdeutung ein – erschienen zuvor Sexualstraftäter in der öffentlichen Wahrnehmung als perverse Triebtäter (in der Figur des fremden Mitschnackers und Schokoladenonkels), wird nun öffentlich diskutierbar, dass die meisten Täter aus dem nahen Umfeld der Opfer stammen. „Die Entdämonisierung der Täterfigur erschliesst […] ein neues Gefahrenpotential, denn scheinbar jeder kann zum Täter werden und ist damit immer schon verdächtig […].“(Mallmann/Schmidt 2012) Parallel dazu sind seither eine Ausweitung des Missbrauchsbegriffs zu beobachten und die allgemeine Durchsetzung einer Rhetorik, in der das vorherrschende Bild des Opfers sexuellen Missbrauchs mit Attributen von Unschuld und Asexualität verbunden wird. „Concepts of the innocent, blameless, and unconsenting ‚victim' and the ‚survivor' of rape and sexual abuse became key sexual terms“ (Angelides 2003, S. 90).

Verhandlungsmoral und Diagnosen eines Abflauens der Lust

Die aus den von der Linken angestossenen Diskussionen um Liberalisierung in den 1960er und 1970er Jahre (Enttabuisierung und Pluralisierung) und um Selbstbestimmung den 1980er Jahre (Thematisierung von sexuellem Zwang und Missbrauch) hervorgegangene gesamtgesellschaftliche Veränderung der Sexualmoral charakterisiert Schmidt als eine Ablösung der restriktiven Sexualmoral durch die sogenannte Konsens- oder Verhandlungsmoral. Ein Kodex, der „den sexuellen Umgang friedlicher, kommunikativer, berechenbarer, rationaler verhandelbar, herrschaftsfreier machen oder regeln will“ (Schmidt 2005, S. 11; vgl. auch Schmidt 1998). War die alte Sexualmoral „eine der Akte und qualifizierte bestimmte sexuelle Handlungen – zum Beispiel voreheliche oder aussereheliche Sexualität, Masturbation, Homosexualität, Oralverkehr, Verhütung oder was auch immer – prinzipiell als böse, weitgehend unabhängig von ihrem Kontext“ so bewertet die Verhandlungsmoral „nicht sexuelle Handlungen oder Praktiken, sondern die Art und Weise ihres Zustandekommens, also Interaktionen“ (ebd., S. 11).

Wesentlich ist nach diesem Kodex nicht, was getan wird – ob der Sex in oder ausserhalb der Ehe stattfindet, genital oder oral, ob Blümchensex oder in Lack und Leder – sondern wichtig ist, dass „es ausgehandelt wird“ (ebd., S. 12) – und zwar von den Beteiligten selbst, nach Massgabe ihres Wollens und Willens. Die von der Entwicklung der 1960er und 1970er Jahre angestossene Verankerung dieser neuen Sexualmoral bewirkte nachhaltige Veränderungen des Sexualverhaltens, die von wissenschaftlicher Seite häufig als mit einer allgemeinen Abnahme von Lust verbunden dargestellt werden.

Die auffälligsten Eckdaten der Veränderung des Sexualverhaltens bis Anfang der 1980er Jahre betreffen eine Liberalisierung und Demokratisierung, die sich z.B. in einer ansteigenden Entbindung des Geschlechtsverkehrs aus der Institution der Ehe sowie einer Angleichung des Sexualverhaltens von heterosexuellen Männern und Frauen in diesem Zeitraum zeigt. In der BRD nehmen die Zahl der Eheschliessungen und die Geburtenraten rapide ab, Scheidungszahlen hingegen steigen – kurz: Die Kernfamilie verliert ihre Stellung als eindeutig dominierende Lebensform und als legitimer Rahmen sexueller Betätigung (vgl. Eder 2002, S. 222). Auch in der DDR zeigt sich ein deutlicher Wandel im Sexualleben von jungen Erwachsenen, jedoch verzeichnen die Eheschliessungen – die im Übrigen in diesen Jahren durch sozialpolitische Massnahmen wie zinslose Kredite für und bevorzugte Vergabe von Mietverträgen an Eheleute gestützt werden – im Vergleich zur BRD einen nicht so starken Einbruch (ebd.).

In den 1980er und 1990er Jahren dann steigen unter jungen Erwachsenen die nicht-ehelichen sequentiellen Monogamien zwar an, die Anzahl an KoituspartnerInnen jedoch geht insgesamt zurück. Scheint diese Generation weniger sexuell und geschlechtlich festgelegt zu sein, treten Umfragen zufolge zugleich konventionelle Wünsche nach Geborgenheit, Nähe, Treue und Romantik zunehmend in den Vordergrund (vgl. ebd., S. 224f.).

Insgesamt, so der Konsens in den Sexualwissenschaften, werde Sexualität ab den späten 1980er Jahren praktisch wie symbolisch weniger grossgeschrieben als noch vor dreissig Jahren. Weniger als die Generation zuvor erlebten Jugendliche sexuelle Erfahrungen als einen Weg aus der Abhängigkeit von den Eltern (vgl. ebd.), heterosexueller aber auch sonstiger sexueller Aktivität werde kaum politische Bedeutung beigemessen, die Pubertät werde weniger von der Empfindung eines Einbruchs des Sexuellen begleitet (vgl. Schmidt 1998, S. 54), insgesamt werde sexuelle Erregung als von minder drängender Qualität empfunden, Sex zu haben stehe heute tendenziell eher „gleichrangig neben anderen Erlebnissen“ (Eder 2002, S. 224). Während Ende der 1960er vier Prozent der Männer und acht Prozent der Frauen fehlendes Interesse am Sex und eine schwache Libido zu Protokoll gaben, waren es 1990 58 % der Frauen und 16 % der Männer (vgl. Herzog 2005, S. 308). „In diesem Klima von Lustlosigkeit und Unbehagen“, schreibt Herzog, „erschien das Jahr 1968 als eine Zeit, wo Verbote der Sexualität noch einen Reiz verliehen hatten.“ (ebd., S. 309)

Ob ein Klima der Lustlosigkeit Zeichen eines – schwerlich messbaren – tatsächlichen kollektiven Lustschwundes sein mag oder nicht fast im Gegenteil eher Zeichen eines erhöhten gesellschaftlichen Drucks zur Optimierung des Lustempfindens, der eben dieses für die Subjekte kärglich erscheinen lassen mag … feststellbar scheint: Bei gleichzeitigem Schwinden der Emphase des fortschrittlichen, tabusprengenden und freiheitlichen Charakters des Sexuellen wird der individuellen Sexualität ein grösserer Freiraum zugestanden, doch die Lust wird als schwindend empfunden. Wichtig dabei: Die meisten der vormaligen Perversionen – kategorisiert in Ziel und Objekt der Handlung – transformieren sich in zunehmend akzeptierte Teilgebiete der Gesamtfläche sexueller Lustmöglichkeiten, deren Legitimität sich an der Massgabe der wechselseitigen Zustimmung, dem eigenen Wollen bemisst.

Alte Perversionen in neuem Gewand

Mit dem Kodex der Verhandlungsmoral als Produkt einer Liberalisierung und Demokratisierung geht also eine Verschiebung von zuvor geächteten und verbotenen Tätigkeiten in den Bereich des Akzeptierten und Erlaubten einher. „Auf der Ebene manifest gelebter Sexualität gelten viele Praktiken, die zuvor den Perversionen zugeordnet waren, mittlerweile als normal“ (Oberlehner 2005, S. 115). Beruhen im Zeichen der Verhandlungsmoral Selbstbestimmung, Liberalisierung und Enttabuisierung der Sexualität auf der Massgabe einer gleichberechtigten Abstimmung des Wollens der Beteiligten, so betrifft die Enttabuisierung nicht alle Lüste, sondern steckt mit diesem Kriterium das Feld des Erwünschten gegen jene sexuellen Wünsche ab, die ihrer eigenen Logik nach der Massgabe der Verhandlungsmoral offensichtlich zuwiderlaufen. Sexuelle Praktiken, bei denen die gleichberechtigte Abstimmung des Wollens in Frage steht oder dezidiert unterlaufen wird, bleiben „als Perversion erhalten und werden heute unnachsichtiger ausgespäht und verfolgt als früher“ (Schmidt 1998, S. 13). Es verbleibt ein Restbereich des Perversen.

In diesem sind Praktiken angesiedelt, die auch von der alten Sexualmoral als pervers geächtet wurden – doch richtet sich im Kodex der Verhandlungsmoral, ebenso wie im Bereich der erlaubten, liberalisierten Lüste, auch im Bereich des Illegitimen die Verortung weniger nach einer Einordnung der sexuellen Akte als nach einer Beurteilung des Wollens.

So wird im Zuge der derzeitigen Novelle des Tierschutzgesetzes nicht gleich der alten Sexualmoral des § 175 argumentiert, Sex mit Tieren sei dem Menschen widernatürlich, sondern, dass sexuelle Handlungen am Tier dieses zu artwidrigem Verhalten zwingen (vgl. Mangold 2012). Tierschutzverbände betonen, dem Tier sei es nicht möglich Zustimmung oder Ablehnung gegenüber einer sexuellen Offerte eines Menschen zu äussern. „Anstössig ist also nicht mehr die widernatürliche Lustbefriedigung des Menschen, sondern der Mangel an kommunikationsethischer Ebenbürtigkeit.“ (ebd.) Eine alte Perversion in neuen Registern.

Der Begriff sexuelle Verwahrlosung erfährt in einer Debatte in den Jahren 2006 und 2007 eine Renaissance unter dem Vorzeichen der Verhandlungsmoral. Anstoss wird an einem Vorschlag der Jungen Liberalen Niedersachsen genommen, Pornographie ab 16 Jahren freizugeben. Es bildet sich eine breite Front von CSU bis Jugendhilfeverbänden, die vor der Gefahr einer fortschreitenden sexuellen Verwahrlosung von Jugendlichen warnten. 2007 publiziert der Stern unter dem Titel „Voll Porno“ eine Reportage die weite Beachtung findet, in der der Autor Walter Wüllenweber „eine sexuelle Verwahrlosung der deutschen Unterschichtsjugend“ zu befürchten sieht: PädagogInnen heute „beobachten nichts Geringeres als eine sexuelle Revolution. Doch dabei geht es nicht um freie Liebe. Mit Freiheit und mit Liebe hat es nichts zu tun. Der Motor für diese Umwälzung der Sexualität sind keine Ideale.

Es ist Pornografie […], ist eine Form der Verwahrlosung: sexuelle Verwahrlosung.“ (Wüllenweber 2007) „Voll Porno“ ist, wie der Untertitel des Sternartikels verheisst, „Wenn Kinder nicht mehr lernen, was Liebe ist“... Betont wird in der Reportage, Pornos würden von der gesamten Gesellschaft konsumiert, das Skandalöse sei, wenn – wie in der Unterschichtsjugend zu beobachten – Medien im Bereich des Sexuellen die Funktion von Sozialisierung von Kindern vollends übernähmen. Kinder könnten im Internet pausenlos „Nummern ohne jede[n] Gefühl[s], Intimitäten ohne Ansehen der Person“ ansichtig werden (ebd.). Im Gleichklang mit der Anforderung der Verhandlungsmoral, nur das zu tun, was jede und jeder von sich aus will, scheint gegenwärtig der Anspruch an sexuelle Beziehungen gestellt zu werden, auf der „'Substanz' der innerlichen, zärtlichen Gefühle aufgebaut“ (Pfaller 2005, S. 12) zu sein. Nicht der Porno an sich, den Erwachsene (wenn auch bitte in Massen) allein oder in gegenseitigem Einverständnis konsumieren, ist „Voll Porno“ – sondern wenn Kinder mit Sexuellem in Berührung kommen, welches sich einer ihm unterstellten Intimität begibt.

Vorgestellt ist Sexualität hier als Sphäre des Intimen und Persönlichen, in der man ganz bei sich ist und auf ein ebensolches Gegenüber trifft. „Verhandlungsmoral ist ein idealtypisches Konstrukt. Sie ist nur moralisch, solange gleich starke, das heisst ökonomisch, emotional und sonstwie nicht erpressbare Partner beteiligt sind.“ (Schmidt 2005, S. 16)

Als Repräsentant des Obszönen und Perversen steht derzeit der Kinderschänder auf Platz 1. „Kaum ein anderes Motiv eignet sich besser als Hintergrund zur Darstellung von Schuld und Obsession als das Verbrechen an der kindlichen Unschuld. Dabei geht meist eine idealisierte und entsexualisierte Vorstellung von Kindheit mit der Dämonisierung des vermeintlich omnipräsenten Täters einher.“ (Mallmann/Schmidt 2012) Laut Angelides lässt sich seit Mitte der 1980er Jahre ein Anwachsen der gesellschaftlichen Panik rund um das Thema Pädophilie und Kindesmissbrauch in westlichen Gesellschaften konstatieren. Zeitgleich kann ein deutlicher Trend zu einer verstärkten Verlötung des Bildes des unschuldigen Kindes mit dem Phantasma sexueller Reinheit festgestellt werden. Erscheint Pädophilie gegenwärtig als Angriff auf das Ideal des unschuldigen, asexuellen Kindes par excellence, so hängt dies mit einem aus dem Ideal der Verhandlungsmoral ausgeschlossenen Aspekt von Sexualität selbst zusammen, wie im letzten Abschnitt gezeigt werden wird. Dieser schliesst mit dem Gedanken, dass die Ideale von sexueller und politischer Unschuld sich gegenwärtig darin gleichen, scheinbar nichts miteinander zu tun zu haben.

Vorbildliche Unschuld

Das landläufige Gefühl der Bedrohung durch Sexualstraftäter oder weltweite Kinderpornonetzwerke zeugt meist recht wenig von der Sorge um das Wohl der tatsächlichen Kinder, als vielmehr von der Abwehr einer aus der Verhandlungsmoral ausgeschlossenen und in dem Bereich des Perversen verorteten Dimension sexuellen Begehrens : dass Lust und Absicht nicht kongruent sein müssen. Ebenso wie es heute weniger denn je erwünscht ist, „eine Differenz zwischen der Arbeit und der eigenen Person zu ziehen“ (Pfaller 2008, S. 120), so auch zwischen sich und dem Begehren. Der Verhandlungsmoral zufolge soll nicht sein, was jedem Errötenden ins Gesicht geschrieben steht: Die überraschende Erregung von Lust wider Absicht. Verführung zur Lust unter Umgehung erklärter Absichten scheint ausgeschlossen – nach dem Ideal der Kongruenz von Willen und Lust erscheint als einzig andere Möglichkeit eine gewalttätige Überwältigung, verkörpert im Bild des Kinderschänders. Hingegen „[s]üsse kleine Mädchen müssen stellvertretend jene Unschuld verkörpern, als die sich die Landsleute wähnen – innerlich rein von aller Anfechtung, aber umstellt von bedrohlichen Lüsten.“ (Les madeleines 2004)

Virulent ist hier die „Phantasie von einer kindlichen, unschuldigen Asexualität als Ideal, dem auch Erwachsene nacheifern sollten“ (Pfaller 2005, S. 12). Man stellt sich selbst in der Figur kindlicher Unschuld vor, „die sich angesichts des fremden Begehrens als hochgradig belästigt erfährt. Die Unschuld ist, dieser Phantasie zufolge, die Norm; ihre Überschreitung hingegen das ‚Obszöne', ein dem Unheimlichen vergleichbarer skandalöser Einbruch.“ (Pfaller 2005, S. 12) Insofern ist die Korrespondenz zwischen der oft panikartigen Furcht vor der als allgegenwärtig wahrgenommenen Gefahr des Kindesmissbrauchs und dem Bild des asexuellen und unschuldigen Kindes, wie ich einleitend formuliert habe, für die gegenwärtige Bedeutung des Sexuellen ein neuralgischer Punkt: Eine durch Norm der Unschuld konstituierte Projektionsfläche einer – aufgrund der Abwehr von Erfahrungen der Inkongruenz von Absicht und Lust – als fremd und äusserlich erscheinenden ‚eigenen' Sexualität, die nicht Lust, sondern Abscheu erregt und in dieser Form genossen wird.

Ein Ideal, welches um eine wesentliche Lustquelle beschneidet, die in der Möglichkeit liegt, „dass etwas, das nicht unter allen Umständen problemlos als lustvoll empfunden werden kann – etwas Obszönes, Schreckliches, Geschmackloses –, gerade aufgrund dieser seiner problematischen Qualitäten in eine Ursache gesteigerter Lust verwandelt wird“ (Pfaller 2008, S. 128). Stattdessen kommt es Pfaller zufolge „auf dem Terrain der Sexualität zu einer panischen Vermeidung und Umgehung jeglicher (als ‚Entfremdung' erlebter) Alterität“ (Pfaller 2005, S. 10). Die Verhandlungsmoral ist liberal insofern sie das Feld der erlaubten Handlungen erweitert, doch wenn „man nur das darf, was man selbst ganz will, und nichts sonst, dann darf man […] in Wahrheit sehr, sehr wenig.“ (Pfaller 2008, S. 125) Dies betrifft nicht nur die Erwachsenen, sondern auch die Kinder, deren Verhalten nach Massgabe des Bildes ihrer Unschuld und Asexualität interpretiert und reglementiert wird.

Undenkbar heute der Umgang mit kindlicher Sexualität wie in den Kinderläden der 1970er Jahre, als von Eltern diskutiert wurde, wie trotz des NS-Erbes der autoritären Strukturierung ihrer eigenen Sexualität, den Kindern eine positive sexuelle Entwicklung zu ermöglichen sei (vgl. Herzog 2005, S. 204ff.). Der Befriedigung der sexuellen Neugier der Kinder sollten möglichst wenig Grenzen gesetzt werden, bekannt ist, dass einige Eltern und ErzieherInnen ihr Genital den Kindern zum Betasten freigaben. Heute wird sexuelle Neugier nicht selten als Hinweis auf sexuellen Missbrauch eines Kindes gedeutet und in diesem Zusammenhang den ehemaligen ProtagonistInnen der Kinderladenbewegung pädophil motivierte Übergriffe vorgeworfen.

Im Zeitalter der Verhandlungsmoral erscheint das Bild der Sexuellen Revolution ambivalent: Einerseits im nostalgischen Rückblick als eine Zeit der Ideale von Liebe und Individualität und der Rebellion gegen Verbote, die – im Unterschied zu der derzeit wahrgenommenen Leidenschaftslosigkeit im Zeichen der Tabufreiheit – sexuelle Erfüllung brachte, und andererseits als Ursprung eines im schlimmsten Fall in Kindesmissbrauch geendet habenden Triebdurchbruchs. Was aber der Tendenz nach aus der gegenwärtigen Erinnerung an die Sexuelle Revolution verschwindet, ist die für diese zentrale Verknüpfung von Sexualität und politischer Schuld. Es entkoppeln sich seit 1989 Diskussionen um Sexualität von dem bisher zentralen Bezugspunkt Nationalsozialismus (vgl. Herzog 2005, S. 299). In der Identifikation mit Bildern der Unschuld besteht eine Gemeinsamkeit: Ebenso man sich in der Berliner Republik weitgehend tolerant im Bereich des Sexuellen gibt, so unverkrampft seit dem Mauerfall auch im Patriotismus – ob im Bett oder in der Weltpolitik, geläutert erscheinen die Absichten.

Sonja Witte
zuerst erschienen im "Extrablatt - Aus Gründen gegen fast Alles" (Ausgabe 9, 2014)

Fussnoten:

1 Eine gekürzte Version dieses Textes ist unter dem Titel »Im Spiegel der Unschuld – Über das Liebesleben im postnazistischen Deutschland« in dem 2013 im Ventil-Verlag erschienen Sammelband »The Mamas and the Papas – Reproduktion, Pop und widerspenstige Verhältnisse« (Lukas Böckmann/ Annika Mecklenbrauck Hg.) erschienen.

2 Vgl. Kohl 2011.

3 »Wir können uns durchaus vorstellen, bestimmte Straftaten zu begehen, Diebstahl, Steuerhinterziehung, Kunst- oder Bankraub, möglicherweise sogar einen Mord. Aber die Vorstellung, ein Sexualdelikt zu begehen, ist schon viel schwieriger. Ein pädosexuelles Delikt übersteigt bei fast allen von uns die Vorstellungskraft« (Dr. Frottier, forensischer Psychiater, zit. in: Mallmann/Schmidt 2012, o.S)

4 Ein Hauptargument für die Beibehaltung des Paragraphen beruhte auf der Annahme einer generellen bisexuellen Veranlagung männlicher Jugendlicher, auf die eine Anfälligkeit für homosexuelle Verführung zurückgeführt wurde. »Hierin, und nicht etwa, wie oft behauptet, in der Befürchtung, Homosexuelle würden sich nicht fortpflanzen und nicht dem Ideal harter Männlichkeit entsprechen, bestand das eigentliche konzeptionelle Vermächtnis der NS-Homophobie.« (Herzog 2005, S. 118) 1950 kam es z.B. zu einem grossangelegten Prozess, in dessen Vorfeld gegen 700 Personen ermittelt und schliesslich gegen 140 Anklage wegen Verstoss gegen den § 175 erhoben wurde. Zahlreiche Verurteilungen wurden unter dem Vorsitz eines Richters ausgesprochen, der bereits zu NS-Zeiten zu Gericht über Homosexuelle sass. Mehrere Angeklagte begingen Selbstmord (vgl. ebd., S. 114). In der DDR waren erst ab 1988 und in der BRD sind seit 1994 homosexuelle Handlungen kein Straftatbestand mehr.

5 »Die deutschen Sexualtabus fallen in jenes ideologische und psychologische Syndrom des Vorurteils, das dem Nationalsozialismus die Massenbasis zu verschaffen half und das in einer dem manifesten Inhalt nach entpolitisierten Form nachlebt.« (Adorno 2003, S. 536)

6 »Im April 1978 veröffentlichte die Zeitschrift Emma einen einflussreichen Artikel mit dem Titel »Das Verbrechen, über das niemand spricht«, in dem ein 14jähriges Mädchen ihre Missbrauchsgeschichte erzählt. Bald wurde das Verbrechen jedoch zu einem, über das, seiner Tabuisierung zum Trotz, beinahe jeder sprechen konnte. Die sich in den Folgejahren vollziehende Enthüllung zahlreicher vermeintlicher oder tatsächlicher Missbrauchsfälle war mal mehr, mal weniger mit populistischen Strafandrohungen verbunden […].« (Mallmann/Schmidt 2012, o.S.)

7 Die Definitionsmachtdebatte in der Linksradikalen zeigt sich somit nicht als gegen einen allgemeinen Konsens gerichtete, sondern als Variante des zeitgenössischen Kodexes. (Vgl. dazu Les madeleines 2001)

8 Im Unterschied zu Mitte der 1960er Jahre haben Frauen in den 1980er Jahren ebenso viele Sexualpartner wie die Männer, auch haben Frauen nun nicht mehr später, sondern sogar häufig früher als Männer ihren ersten Geschlechtsverkehr (vgl. Oberlehner 2005). Ein Sprung zeigt sich auch hinsichtlich der Quantität von Koituserfahrung überhaupt: Bei einer Umfrage unter Studierenden 1966 in der BRD gaben etwa 30 % der Studenten und 20 % der Studentinnen an Koituserfahrung zu haben, 1981 waren es 80% der Männer und 60 % der Frauen (vgl. Eder 2002, Schmidt 1998).

9 In der erwähnten Publikation im Erscheinen zum Forschungsprojekt „Übergriffe und Objekte“ legt Insa Härtel eine Analyse dieses „Stern“-Artikels vor (vgl. FN 1).

10 »Within the last two decades, in most Western societies there has been nothing short of an explosion of social panic surrounding paedophilia and proported paedophile networks.« (Angelides 2005, S. 273)

11 »This suggests not only a refusal to acknowledge difficulties and contradictions in relation to childhood; it implies that we use the image of the child to deny those same difficulties in relation to ourselves […].« (Rose 1984, S. 8)



Literatur:

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