„Produktifizierung“ aller Verhältnisse Diktatur des Effizienzdenkens

Gesellschaft

Wir leben in einer effizienzversessenen Gesellschaft, die, um möglichst viel Output in kürzestmöglicher Zeit auszuspucken, alle Lebensvollzüge bis zur Raserei auf Trab bringt.

Installation view, Haus der Kunst, München.
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Installation view, Haus der Kunst, München. Foto: Martin Falbisoner (CC-BY-SA 3.0 unported - cropped)

25. September 2017
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Korrektur
Die alte Einsicht, dass alles, was gut getan sein soll, seine Zeit braucht, dass es ein angemessenes, stimmiges Verhältnis zwischen einer Arbeitsaufgabe und der dafür benötigten Zeit gibt, ist ausser Kraft gesetzt, seit es mit Maschinenkraft möglich wurde, die Dinge schneller laufen zu machen, als sie von sich aus laufen können. Die Maschinen, dazu ausersehen, den Menschen ihre Arbeit zu erleichtern und Sklaverei zu ersparen, haben im Zuge des industriellen Fortschritts die Menschen, die sie sich zunutze zu machen glaubten, versklavt. Die Instrumente, die Mittel zu Zwecken sein sollten, sind inzwischen ausschlaggebend dafür, welche Zwecke gesetzt werden. Während man vor nicht allzu langer Zeit noch darüber streiten konnte, ob der Zweck die Mittel heiligt, wird heute ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Mittel bestimmen, welche Zwecke gesetzt werden sollen.

Can implies ought: Was der Mensch kann, das soll, das muss er machen. Das war der Fortschrittsimperativ der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts. Darüber sind wir weit hinaus. Nicht was der Mensch kann, sondern was der Apparat, die zum System verschmolzene Maschinerie kann, dem müssen Menschen als Funktionspartikel im System dienstbar sein. Das, was ich Maschinerie nenne, ist längst nicht mehr nur das gute alte Räderwerk, in dem der Arbeitskollege von Charly Chaplin im Film „Modern Times“ durchgedreht wird. Die Maschinerie hat sich längst auch der Dienstleistungsberufe bemächtigt, die bis zu einem gewissen Grade immer noch im Stande der Unschuld geglaubt werden. Die Dienstleister in den heilenden, helfenden, lehrenden, fördernden, behandelnden, beratenden oder therapeutischen Professionen, die sich übrigens wie Pilze nach einem warmen Sommerregen vermehren, fühlen sich immer noch als Akteure, während sie tatsächlich in Verfahren, Prozeduren und getaktete Abläufe eingespannt sind, deren absolut vorrangiger Daseinszweck darin besteht, dass sie störungsfrei und hochbeschleunigt, also „effizient“ und natürlich profitabel abgewickelt werden können.

Inputs und Outputs

„Gute Arbeit kann ich mir nicht leisten“, das ist ein Stossseufzer, den insbesondere diejenigen, die in sozialen Professionen tätig sind, kaum noch unterdrücken können. Man muss hören, was da gesagt wird: Um der Effizienz, also um der Wirkung meiner Arbeit willen, muss ich darauf verzichten, gute Arbeit verrichten zu wollen. Gute Arbeit ist offenbar unbezahlbar geworden. Aber was meine ich, wenn ich „gute Arbeit“ sage? Die allgemeinste Antwort wäre: Gute Arbeit ist solche, die nützt und nicht schadet.

Das heisst also: Wenn ich feststelle, dass ich mir gute Arbeit nicht leisten kann, dann begnüge ich mich nicht nur mit weniger guter Arbeit, sondern ich nehme in Kauf, dass die Arbeit, die ich mir leisten kann, Schaden anrichtet. Und da fragt sich, wer denn nun eigentlich diesen Satz sagt. Spielen wir das einmal am Gesundheitswesen durch. Das ist immerhin ein Erfahrungsfeld, mit dem wir alle schon in der einen oder anderen Art Berührung hatten. Wir könnten auch das Bildungssystem ins Visier nehmen, denn da gelten ähnliche Spielregeln, oder das Produktions- oder Handwerkswesen oder die winzigen Reste bäuerlicher Tätigkeit, die es in modernen Gesellschaften noch gibt. Aber am Gesundheitswesen wird besonders drastisch deutlich, dass wir in einem „weltweiten Irrenhaus“ (Erich Fromm) leben. John Berger sprach kurz vor seinem Tod vom „weltweiten Gefängnis“, in das wir samt und sonders und sogar mit unserer bereitwilligen Zustimmung eingesperrt sind. Und Ivan Illich spricht von „Absurdistan“. Diese Zuschreibungen sind keine Metaphern, sondern real, wie John Berger nicht müde wird zu betonen.

Also wer sagt den Satz „Gute Arbeit kann ich mir nicht leisten.“?
  • Vielleicht die Krankenschwester mit der Uhr in der Hand, aber längst auch schon im Kopf und im Herzen.
  • Vielleicht der Verwaltungschef des Krankenhauses, der seinen Betrieb ökonomisch optimieren will oder soll.
  • Oder die Patientin, deren Arzt ihr Zusatzleistungen empfiehlt, die er „dringend geboten“ nennt, die sie aber aus der eigenen Tasche bezahlen müsste, was sie nicht kann.
Meinen die Krankenschwester, der Verwaltungschef und die Patientin überhaupt dasselbe, wenn sie von „guter Arbeit“ sprechen?

Fraglich, ob heutzutage das, was die Patientin gern hätte, aber nicht bezahlen kann, wirklich „gute Arbeit“ ist. Fühlt sie sich nicht vielmehr benachteiligt, weil ihr bestimmte Produkte aus einer Produktpalette vorenthalten werden? Krankenhaustage zum Beispiel oder aufwendige diagnostische Verfahren, teure Medikamente oder Heilbehandlungen und alles, was in sehr unterschiedlicher Qualität im medizinischen Ersatzteillager feilgeboten wird, vom Zahnersatz über die künstliche Hüfte bis hin zum Ersatzherzen. Würde es ihr überhaupt noch einfallen, vom Arzt etwas anderes zu erwarten als eine Zugangsberechtigung zu einem dieser vielversprechenden Produkte?

Die Krankenschwester dagegen spricht wirklich von ihrer Arbeit. Ihre Klage lässt vermuten, dass sie eine ziemlich genaue Vorstellung davon hat, was gute Arbeit in ihrem Metier wäre. Sie wäre wahrscheinlich auch bereit und fähig, sie zu tun; nur wird sie eben tagtäglich systematisch daran gehindert. Während übrigens gleichzeitig von ihr verlangt wird, dass sie perfekt funktioniert.

Und der Verwaltungschef? Ich fürchte, er würde dies Eingeständnis überhaupt nicht über die Lippen bringen, denn es ist, wie man im Verwaltungskauderwelsch sagen würde, „imageschädigend“. Er wird vielmehr – werbewirksam – darauf bestehen, dass das Krankenhaus, welches er managt, die bestmögliche Leistung (auf Kauderwelschig: „performance“) erbringt. Zu dieser vollmundigen Aussage legitimiert er sich dadurch, dass er von „guter Arbeit“, also von etwas, was Menschen tun, überhaupt nicht spricht. Gute Arbeit hat in seinem Denken ebenso wenig Platz wie schlechte Arbeit. Er hantiert seinerseits mit Produkten, mit den verdinglichten Ergebnissen von menschlichem Tun. Indem er die Produkte von der Tätigkeit abspaltet, ist er die leidige Frage nach der Arbeit los. Es geht nun nur noch um Inputs und Outputs, und alles, was dazwischenliegt, spielt sich, seiner Aufmerksamkeit gänzlich entzogen, in einer Blackbox ab und kann als qualité négligeable betrachtet werden.

Ein gutes Produkt ist eines, das bei möglichst geringem Einsatz von Mitteln einen möglichst grossen Effekt erzielt, wobei ganz nebenher Ziele durch Effekte ersetzt und Effekte mit Zielen verwechselt werden. Die Fragen „Was will ich?“, „Was sollte ich tun?“, „Was sollte ich unterlassen?“, „Warum?“, „Wozu ist etwas gut?“, „Wem hilft das?“, die ja öffentlich verhandelt werden müssten, verschwinden völlig zugunsten der alleinigen Frage nach dem „Wie geht das?“. Wobei dieses „das“, das da gehen soll, dezisionistisch, um nicht zu sagen selbstherrlich von einer ökonomisch interessierten, naturwissenschaftlich bornierten, technisch versierten und bürokratisch fanatisierten Expertenkaste verbindlich vorgegeben wird. Sie definiert den Output und kalkuliert den Input, und der Rest ist Verfahren, das wie geschmiert laufen muss.

„Produktifizierung“ aller Verhältnisse

Wir müssen uns den Verwaltungsdirektor nicht einmal gewissenlos vorstellen. Sollte es ihm immerhin schwanen, dass das System, dem er dienstbar ist, an der Aufgabe einer guten medizinischen Versorgung scheitert, dann würde er das wahrscheinlich einem Mangel an Verteilungsgerechtigkeit zuschreiben und nicht einem Mangel an guter Arbeit. Produkte bzw. Befriedigungsmittel haben eben die fatale Neigung, knapp zu sein, also nicht für alle, die einen Anspruch darauf erheben, zu reichen. Die Konsequenz: Wenn der Vorrat an Befriedigungsmitteln nicht reicht, dann muss er eben aufgestockt werden, bis schliesslich alle Ansprüche leidlich befriedigt werden können. Dieser Illusion verdanken wir die ungeheure Aufblähung des Medizinwesens, aber auch genauso des Bildungswesens, des Therapie- und Beratungswesens, deren Ende bis auf Weiteres nicht absehbar ist. Verteilungsgerechtigkeit wird in der Wachstumsökonomie unbeirrt von einer rasanten Vermehrung und Raffinierung von Produkten erwartet. Aber die Erfahrung lehrt – oder besser: Sie könnte lehren, lehrt aber tatsächlich gar nichts –, dass die Aufstockung des Angebots die Verteilungsgerechtigkeit nicht um ein Deut verbessert, sondern im Gegenteil. Nicht einmal eine halbwegs gerechte Verteilung der Befriedigungsmittel könnte irgendjemandem gerecht werden, wenn das Produkt nicht das Ergebnis guter Arbeit ist.

Was im Medizinwesen unter „Dienstleistung“ verstanden wird, hat sich im Zuge der „Produktifizierung“ aller Verhältnisse grundlegend verändert. Der geleistete Dienst besteht zunehmend nur noch im Verkauf von industriell gefertigten Waren. Folgerichtig wurden Patienten zu „Kunden“ umbenannt, während Ärzte und Pflegekräfte sich noch dagegen zu schützen wissen, als „Vertreter“ und „Verkäufer“ wahrgenommen zu werden, was sie de facto längst sind. Dass jemand einem anderen einen guten Dienst tut, ihm also dient oder dienstbar ist, diese Wortbedeutung ist aus der Dienstleistung im Allgemeinen und der medizinischen Dienstleistung im Besonderen fast völlig verschwunden. Und der oder die Hilfesuchende kann längst nicht mehr sicher sein, dass die Dienstleister ihm oder ihr wohlwollen, wenn es doch um deren Verdienst im schnöden pekuniären Sinn geht. Die Produkte, die in der Arztpraxis und im Krankenhaus verhökert werden, sind teils verfahrensförmiger, teils dinglicher Natur. Die standardisierten Verfahren, mit denen medizinische Fälle abgearbeitet werden, muss das medizinische Personal professionell liefern, die materiellen Produkte liefert die pharmazeutische und medizinisch-technische Industrie. In beiden steckt aber trotz voranschreitender Maschinierung immer noch menschliche Arbeit. Jedwedes Produkt – das ist die These – kann nur so gut sein, wie die Arbeit war, deren Resultat es ist.

Produkte, sagt der ungarische Philosoph Georg Lukács, sind der „Abdruck ihrer Handlungen“, das heisst, die Absichten und Begleitumstände, denen sie ihr Zustandekommen verdanken, kriechen in sie hinein, durchdringen sie und bestimmen ihr Wesen. Nun haben aber die Produkte nicht nur eine Entstehungsgeschichte, sondern auch eine Gebrauchsgeschichte. Ein Gegenstand sei „Abdruck von Handlungen“ meint, es werden in ihn Normen eingeschmolzen, die den Umgang mit diesem Gegenstand bestimmen oder festlegen. Gegenstände sind imprägniert mit ihren Entstehungsbedingungen, und was in sie hineingeschrieben wurde an Qual oder Leidenschaft, an Zwang oder Schöpfergeist, an offener oder geheimer Zwecksetzung, das wirkt als Gebrauchsanweisung oder als geheimes Kommando für künftige Anwender und Benutzer aus ihnen wieder heraus: Massenartikel erlauben keine individuelle Nutzung, flüchtig Hergestelltem ist keine Dauerhaftigkeit und kein Respekt beschieden, gewaltsam Abgezwungenes ermöglicht keinen freien Gebrauch, Hässliches wird den Benutzer verhässlichen, was roh gemacht wurde, erzeugt rohen Umgang.

Was verschwenderisch und rücksichtslos hergestellt wurde, gebiert Verschwendungssucht und Rücksichtslosigkeit. Was auf nackte Zweckmässigkeit und Effizienz abzielt, reduziert auch die Menschen, die damit Umgang haben, auf nackte Zweckmässigkeit und Effizienz. Es ist mir zum Beispiel schlechterdings unmöglich zu glauben, dass ein pharmazeutisches Produkt, das einer Kampfgesinnung entspringt („Kampf dem Krebs!“) und für das zu Tode gequälte Kreaturen herhalten müssen, heilsam sein könnte. Aber natürlich gilt auch das Umgekehrte: was liebevoll, sorgsam und mit Sinn geschaffen wurde, erheischt sorgfältigen, bewahrenden und sinngemässen Gebrauch.

Schaffenskraft

Wenn wir also nach der guten Arbeit Ausschau halten wollen, dann müssen wir unser Augenmerk nicht vorrangig darauf richten, was dabei herauskommt, sondern darauf, was in sie eingeht, und zwar eingeht nicht als blosses Mittel zum Zweck, sondern als Schaffenskraft, als schöpferische Kraft. Arbeit entsteht ja nicht aus dem Nichts. Sie ist angewiesen auf eine Fülle von Gegebenheiten, denen sie ihr Zustandekommen verdankt, auf Gaben der Natur ebenso wie auf das kulturelle Erbe. Jede Arbeit, die die Quellen, aus denen sie sich nährt, erschöpft, ohne etwas an sie zurückzuerstatten, ist parasitär. Und dies könnte ein brauchbares Kriterium sein, um gute von schlechter Arbeit, wirklich effiziente von pseudoeffizienter Arbeit zu unterscheiden. Arbeit, die die Rückerstattung schuldig bleibt, kann niemals gute Arbeit werden, denn sie zerstört unweigerlich ihre eigenen Existenzbedingungen.

Die industrialisierte Arbeit, die heute den Normalfall der Arbeit darstellt – wohlgemerkt, ich spreche mit voller Absicht auch von Dienstleistungsindustrie –, ist nicht nur nicht willens, sondern auch vollkommen unfähig, Rückerstattung zu leisten. Sie ist auf ihren gewinnträchtigen Hauptzweck hin vollständig durchorganisiert, Rückerstattung heisst aber, dass der Profit beschränkt wird. Moderne Arbeit schafft ein steriles Klima ökonomischer Rationalität und technischer Perfektion. Ihr Ideal sind die programmgemässen Abläufe, die, von allem Beiläufigen und Unvorhergesehenen gereinigt, hocheffektiv zur Sache kommen. Das Agens dieser Arbeit ist nicht mehr der arbeitende, sondern der „funktionale Mensch“, dessen Person durch die Funktion, die ihm obliegt, ersetzt wurde. Arbeit und Arbeiter sind in diesen Prozessen gleichermassen tot gestellt. Die Arbeit braucht immer weniger von dem, was menschliche Arbeitskraft beizusteuern hätte:
  • Erfahrung und Lebensklugheit haben sich erledigt. Was es braucht, ist das jeweils aktuellste Funktionswissen. Aber das lässt die Erfahrung leer ausgehen. Erfahrung entsteht nicht aus Routinen und programmierten Verfahren, sondern aus Überraschungen, Besonderheiten und Unvorhergesehenem und aus Scheitern und Versagen, das vor allem.
  • Zur Verständigung reicht dieser Arbeit eine kunstlose Sprache der technischen Kürzel, ein funktionales „Uniquak“ (I. Illich) mit weltweiter Geltung, das die Sprache der persönlichen Anrede, des Mitgefühls, der Verständigung, der Besinnung und Begegnung verdrängt. Die Sprache und das Tun haben sich immer gegenseitig herausgefordert und befruchtet. Von unseren Arbeitsverhältnissen gehen keine sprachschöpferischen Impulse mehr aus. Sprache wird mit Plastikwörtern durchseucht und dem Jargon der Werbeindustrie angenähert. Eine der bedrohlichsten und folgenschwersten Entwicklungen, die wir gegenwärtig beobachten können, ist die zunehmende Verwüstung unserer Sprache, die uns unfähig zur Anteilnahme macht.
  • Die Geschicklichkeiten und persönlichen Fähigkeiten, derer es einmal bedurfte, um gute Arbeit zu verrichten, wurden durch technische Perfektion der Maschinen ersetzt und überboten. Aber woher soll die Freude an der Arbeit kommen, wenn ich mich in ihr nicht als fähig, als lernend und wachsend erfahren kann?
  • Die persönliche Gewissenhaftigkeit im Bemühen um gute, solide Arbeit ist verzichtbar geworden, denn der funktionale Mensch qualifiziert sich nicht durch unbestechliche Gütemassstäbe, sondern durch fraglosen Gehorsam gegenüber den Diktaten der Maschinerie.
  • Noch immer unentbehrlich ist allerdings die Bereitschaft der Arbeitenden, gut und sogar hart zu arbeiten. Wenn aber die Arbeit denen, die sie tun, nichts zurückerstattet, keine Erfahrung des Gelingens nach ausgestandener Mühe, keine wohltuende Erschöpfung, keine Inspiration, keine Lernerfahrung, woher soll dann Motivation kommen? Das Geld muss besorgen, was die Arbeit selbst schuldig bleibt, damit Menschen tun, was von ihnen verlangt wird. Geld vermag scheinbar den fehlenden Enthusiasmus recht zuverlässig zu kompensieren. Eine gewisse Funktionslust und Erledigungsdrang tun ein Übriges. Aber es macht eben einen enormen Unterschied, ob die besagte Krankenschwester Freude an ihrer Arbeit hat oder ob sie die Arbeit nur als unerlässliches Übel, als ungelebte Lebenszeit in Kauf nimmt, um mit dem verdienten Geld Zwecke ausserhalb ihrer realisieren zu können. Motivation kann man nun einmal nicht kaufen, obwohl ganze Heerscharen von Dienstleistern in der Motivationsindustrie genau das behaupten und an der allgemeinen Lustlosigkeit viel Geld verdienen.
Und wenn Lukács recht hat, dass das, was wir hervorbringen an Arbeitsresultaten, die Bedingungen ihres Zustandekommens repräsentiert, dann müssen wir uns vor den Produkten wirklich hüten und so wenig wie möglich davon in Gebrauch nehmen, um uns vor den toxischen Wirkungen dieser technischen Errungenschaften zu schützen.

„Nein-danke-Sager“

Aber nicht nur von den Produkten, sondern auch von der Arbeitspflicht in diesem zerstörerischen System sollten wir uns, so gut es eben geht, fernhalten.

Viele tun das längst, indem sie in die Knie gehen, krank werden, wie gelähmt, leergebrannt. Andere werden von vornherein ausgemustert, werden der „Segnungen“ der Lohnknechtschaft gar nicht erst teilhaftig. Der Arbeitsmarkt erklärt immer mehr Menschen für überflüssig, er produziert massenhaft Drop-outs. Aber gerade ihnen traut Ivan Illich Enormes zu, nämlich dass sich die Drop-outs zu Refuseniks mausern, zu „Nein-danke-Sagern“, zu Systemdeserteuren, die nicht mehr reinwollen in das System aus Überproduktion, Überkonsumtion, Schulpflicht, Arbeitszwang und staatlicher Daseinsfürsorge, sondern raus aus ihm. Das ist aus vielen Gründen leichter gesagt als getan. Denn die Lohnarbeit einerseits und die Abhängigkeit von käuflichen Produkten andererseits behaupten sich als einzig mögliche Weisen, unser Dasein zu fristen.

Dennoch: Es geht heute wirklich um mehr als nur um die Verbesserung von Arbeitsbedingungen und um mehr Lohngerechtigkeit. Es ginge darum, nach ganz anderen Weisen, uns umeinander zu kümmern, nach neuen Formen der Subsistenz, Ausschau zu halten. Peter Brückner hat an das Abseits als sicheren Ort erinnert. Es gebe immer Orte zu finden, die leer sind von Macht. Die institutionelle Umklammerung sei zu Anteilen Schein. Vielleicht sind solche Abseits im Zeitalter der Globalisierung nicht mehr zu finden, sondern erst zu gründen. Dazu bedürfte es zunächst einmal einer radikalen Umkehr der Denkrichtung, von der Versorgung zur gegenseitigen Fürsorge, von den käuflichen Waren zum eigenen Tun, von der Konkurrenz zur Konvivialität, von der Effizienz zum Genüge, von der Unterwerfung unter die Diagnose von Experten zur Rückgewinnung von eigenen Fähigkeiten und Könnerschaften und vor allem: eigenen Zielen. Expertenherrschaft

Die Experten sind die Star-Dienstleister. Sie haben sich das Recht angemasst – es wurde ihnen freilich auch bereitwillig zugestanden –, darüber zu entscheiden, was in einer Gesellschaft Standard ist, woran sich also die Gesellschaftsmitglieder messen lassen müssen. Effizienzkalküle sind ohne Standards gar nicht möglich. Experten üben eine besondere Art von Herrschaft aus. Ihre Macht ist dreifaltig. Sie erkennen, diagnostizieren, erklären beliebige Erscheinungsformen des Lebens zum Problem, weil diese von den Standards, die sie selbst gesetzt haben, abweichen. Sie bieten sich selbst als die einzig legitimen Problemlöser an und sie bescheinigen sich selbst den Erfolg ihrer Problemlösungsstrategien. Das Erkennen des Problems schafft einen Behandlungsbedarf, die alleinige Zuständigkeit für die Problemlösung eröffnet dem Experten eine gut bezahlte Arbeit und die Effizienz, die er sich selbst bescheinigt, garantiert ihm gesellschaftliches Ansehen und Anspruch auf noch mehr Einkommen.

Ivan Illich nannte dieses System „entmündigende Expertenherrschaft“. Vor den professionellen Dienstleistungen der Experten warnte Ivan Illich bereits in den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts. In einer Zeit also, als gerade dem Dienstleistungssektor zugetraut wurde, einen Ausweg aus einem zunächst unlösbar scheinenden Dilemma zu weisen. In kurzer Folge erschienen gerade die schockierenden Berichte des Club of Rome über die „Grenzen des Wachstums“. Nach diesen warnenden Prognosen waren die unvermeidlich auf Wachstum angewiesenen industriellen Gesellschaften gleichzeitig durch ebendieses Wachstum in ihrem Bestand bedroht. Vom qualitativen Wachstum war auf einmal die Rede. Und der Dienstleistungssektor mit seinem geringen Rohstoffbedarf schien ungestraft unlimitiert wachsen zu können. In diese Situation also trifft Illichs fundamentale Kritik der Dienstleistungsberufe und seine Warnung vor deren Ermächtigung und Expansion.

„Die Experten“, schreibt er, „konnten erst dann ihre dominierende Stellung erreichen und ihre entmündigende Funktion ausüben, als die Menschen bereit waren, tatsächlich als Mangel zu empfinden, was der Experte ihnen als Bedürfnis dekretiert.“ (Ivan Illich: Entmündigende Expertenherrschaft, in: ders. e. a. :Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe, Reinbek 1979, S. 20f.) Keine menschliche Befindlichkeit, die unter diesen Umständen nicht zum Übelstand erklärt werden könnte. Immer neue Defizite lassen sich diagnostizieren und durch darauf spezialisierte Dienstleistungen scheinbar beheben; Dienstleistungen genau jener Spezialisten, die die Missstände „entdeckt“ und als Problem „erkannt“ haben.

„Die neuen Spezialisten kommen gern im Namen der Liebe daher und bieten irgendeine Form der Fürsorge an. … Die Erzieher zum Beispiel schreiben der Gesellschaft heute vor, was gelernt werden soll, und erklären das, was früher ausserhalb der Schule gelernt wurde, als nichtig. Der Ernährungswissenschaftler schreibt die ‚richtige' Kost für den Säugling vor, der Psychiater verschreibt das ‚richtige' Antidepressivum, und der Schulmeister – mit inzwischen unumschränkter Erziehungsgewalt – fühlt sich berechtigt, seine Methode zwischen dich und alles was du lernen willst, zu schieben. … Die Ärzte hatten zwar immer bestimmt, was Krankheit ist und was nicht; heute aber bestimmt die dominierende Medizinzunft, welche Krankheiten die Gesellschaft tolerieren darf und welche nicht.“ (I. Illich a. a. O. S. 14/17/19)

„Was einzig zählt, ist die Vollmacht des Experten, einen Menschen als Klienten oder Patienten zu definieren, die Bedürfnisse dieses Menschen zu bestimmen und ihm ein Rezept auszuhändigen, das seine neue gesellschaftliche Rolle definiert. Während die Höker und Hehler in alter Zeit verkauften, was andere verschenkten, massen die modernen Experten sich an zu entscheiden, was verkauft werden muss und nicht verschenkt werden darf.“ (Ebd. S. 15) Die „Klientelisierung“ aller Gesellschaftsmitglieder ist das wachstumsgenerierende Geschäft der Experten. Aber Vorsicht: Der Begriff ist verräterisch. „Klient“ ist ein Begriff des alten römischen Rechts. Er bezeichnet einen Bürger niederen Standes, der einem Patrizier zu Diensten verpflichtet ist. Das taugt gut zur Entlarvung des Dienstleistungsschwindels. Nicht der Dienstleister dient dem Klienten, sondern umgekehrt, der Klient dient dem Dienstleister, der „gern im Namen der Liebe daherkommt“ (ebd. S. 14).

Die Expansion der Dienstleistungsindustrie ist also keineswegs unbedenklich.

Sie bewirkt dreierlei:
  • Sie bringt den Liebesdienst zugunsten der käuflichen Dienstleistung zum Verschwinden.
  • Sie schürt „die gierige Unersättlichkeit ihrer Opfer“ (ebd. S. 7).
  • Sie entfähigt die Menschen; und gerade darauf beruhen ihr stetes Anwachsen und ihre Rechtfertigung. Denn anders als die Warenproduktion, die auf den „hedonistischen Konsumismus“ (P. P. Pasolini) der Käufer zielt, „reagiert“ die Dienstleistungsproduktion scheinbar auf eine wachsende Hilflosigkeit der Menschen.
Der Hedonismus ist immerhin kritisierbar, die Hilfsbedürftigkeit nicht.

„social engineering“

Lassen Sie mich zum Schluss noch ein paar Bemerkungen zu einer Ideologie machen, die mit der Ideologie der Effizienz unauflöslich verknüpft ist. Ich meine die Ideologie von der Weltrettung durch Innovation.

Der Begriff der Innovation wird heute zwar vorwiegend mit der Technik und der Warenproduktion in Verbindung gebracht, er spielt aber im Bereich des Sozialen eine ebenso gewichtige Rolle. Dort aber, so wird behauptet, gelte eine andere Logik, die Logik der Humanisierung der Verhältnisse. Wie aber, wenn das Wesen der sogenannten sozialen Innovationen gerade darin bestünde, die menschlichen Verhältnisse zu maschinieren, sie den Gesetzen des Maschinellen zu unterwerfen, nicht nur im Sinne einer Analogie, sondern faktisch. Im Englischen werden „soziale Innovationen“ ziemlich ungeschminkt als „social engineering“ annonciert, und damit ist klar gesagt, dass es dabei um die Produktion von Verfahren geht, die dem Maschinenwesen nicht nur vergleichbar, sondern mit ihm vollständig kompatibel sind.

Ins Auge springend steckt ja im Wort „engineering“ das Grundwort „engine“, und das heisst laut Oxford-Wörterbuch „Motor“ und „Lokomotive“. Der „engineer“ ist der Ingenieur. Aber während Ersterer sich zu seiner Liaison mit der Maschine bekennt, ist es im Deutschen möglich, den Ingenieur als Künstler zu betrachten. Wir sprechen durchaus von Ingenieurskunst. Und das hängt wohl damit zusammen, dass im deutschen Begriff, trotz seiner offenkundigen Verwandtschaft mit dem englischen, nicht die Maschine, sondern das „Ingenium“ mitschwingt. Trotzdem wäre es heute sprachlich sehr drastisch und verräterisch vom „Sozialingenieur“ zu sprechen. Soziale Innovation klingt wirklich viel freundlicher, meint aber dasselbe.

Soziale Neuerungen müssen – wie die technischen – in schneller Folge Neuerungen weichen, je nachdem, welche Arbeits- und Konsumenten„tugenden“ die Maschinerie des Marktes, ihrem jeweiligen Entwicklungsstand entsprechend, verlangt. Wer sich heute um einen anspruchsvollen Job bewirbt, kommt kaum daran vorbei, sich als innovativ und flexibel anzupreisen. Und Flexibilität besteht in moderner Lesart gerade darin, sich das gestern noch Gültige abzutrainieren, am besten, es völlig zu verlernen, zu nichten, um sich „frei“ zu machen für das, was jetzt – vorläufig – im Schwange und opportun ist. „Die Fähigkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu lösen und Fragmentierung zu akzeptieren, ist der herausragende Charakterzug der flexiblen Persönlichkeit …“ (Vgl.: Richard Sennett: Der flexible Mensch, Berlin 1998, S. 79f.) Im technischen wie im sozialen Milieu gilt Innovation der Auslöschung des Alten: „… in allen (Hervorhebung M. G.) Bereichen des Lebens (beriefen sich) sogenannte Neuerer auf das Ansehen der Naturwissenschaft, um ihre Sichtweise zu fördern, besonders auf politischem und sozialem Gebiet. Die gesellschaftliche Organisation galt nun als etwas Geschaffenes“ (René Girard: Die verkannte Stimme des Realen, München 2002, S. 207), das folglich immer neu zur Disposition stand.

Unverkennbar ist Innovation ein Begriff der technokratischen Gesellschaft, die einem linearen technischen Fortschritt huldigt und deren Ziel es ist, ein technogenes Milieu herzustellen, in dem allem, „was nicht wissenschaftlich entwickelt, fabriziert, geplant und irgendjemandem verkauft worden ist“ (Ivan Illich: Entschulung der Gesellschaft, 4. Auflage, München 1994, S. 147), das Daseinsrecht abgesprochen wird.

Worüber sich die Innovationspropaganda jedoch vornehm ausschweigt, das ist der ultimative Zweck all dieser innovativen Anstrengungen. In letzter Instanz geht es, worauf Günther Anders in seinen beiden Werken zur „Antiquiertheit des Menschen“ schon seit den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts scharfsichtig und unüberhörbar (er wurde trotzdem nicht gehört) hingewiesen hat, um den Menschenersatz bis hin zum Ersatzmenschen. Da der Mensch zur Perfektion nicht taugt, muss er durch Maschinenhilfe erst verbessert und dann überflüssig gemacht und schliesslich gegen Maschinen ausgetauscht werden. Innovateure träumen ganz ungeniert von menschenbereinigten Verhältnissen: Schulen ohne Lehrer, Lastwagen ohne Fahrer und Pflegeheime mit Fütterungsautomaten gibt es bereits. Die hochfliegenden Träume gehen indes viel weiter.

Facit

Heisst das nun, dass moderne Gesellschaften keine Erneuerung brauchen? Soll alles beim Alten bleiben? Ist es gut so, wie es ist? Keineswegs: Ivan Illich plädierte schon vor beinahe fünfzig Jahren für eine „konviviale Erneuerung“. Die Hypothese, auf der die industrielle Gesellschaft fusste, „besagte, dass die Sklaverei mit Hilfe von Maschinen abgeschafft werden kann. Es hat sich gezeigt, dass Maschinen die Menschen versklaven. … Nicht Werkzeuge, die ihnen die Arbeit abnehmen, brauchen die Menschen, sondern neue (Hervorhebung M. G.) Werkzeuge, mit denen sie arbeiten können. Nicht weitere gut programmierte Energiesklaven brauchen sie, sondern eine Technologie, die ihnen dabei hilft, das Beste zu machen aus der Kraft und Phantasie, die jeder besitzt. … Ich wähle den Begriff ‚Konvivialität', um das Gegenteil der industriellen Produktivität bezeichnen zu können. Er soll für den autonomen und zwischenmenschlichen Umgang und den Umgang von Menschen mit ihrer Umwelt als Gegensatz zu den konditionierten Reaktionen von Menschen auf Anforderungen durch andere und Anforderungen durch eine künstliche Umwelt stehen.“ (Ivan Illich: Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik, München 1998 (1975 zuerst auf Deutsch erschienen), S. 27f.)

Und was die Zukunftsorientierung, auf die sich die Innovateure so viel zugutehalten, betrifft: Was wäre, wenn wir uns einmal für die Gegenwart interessieren würden, denn sie brütet die Zukunft aus? In einer befriedeten Gegenwart müssten wir uns um die Planung einer lebbaren, friedvollen Zukunft nicht viel Gedanken oder gar Sorgen machen.

Epochale Umbrüche hiessen früher Renaissancen, Reformationen, Revisionen und Revolutionen. Ihnen allen ist die Vorsilbe re- gemeinsam, das heisst: Der „Neuanfang“ ist nicht als „Stunde null“ zu denken, nicht als creatio ex nihilo. Jede Erneuerung erfordert demnach eine Rückbesinnung auf das Vergangene. Wenn ich einen Weg zurückverfolge, treffe ich auf jene Wegscheiden, an denen die Entscheidungen zugunsten des dann tatsächlich beschrittenen Weges gefallen sind. Dort könnten sich noch Spuren der verworfenen, nicht realisierten Möglichkeiten finden, die uns erlauben, die modernen Selbstverständlichkeiten als historisch gewordene und nicht naturgegebene zu erfahren, was ja die Voraussetzung dafür ist, sie in Zweifel zu ziehen. „Es ist ein grosser Unterschied, ob man die Geschichte dessen schreiben will, worauf unsere Welt aufbaut, oder die Geschichte dessen, was verlorengegangen ist, erzählen will.“ (Ivan Illich: Genus, Reinbek 1983, S. 119) Das Bild der Vergangenheit droht für immer zu verschwinden, „wenn sich die Gegenwart nicht mehr in ihm erkennt“, sagt Walter Benjamin, aber es gilt auch das Umgekehrte: Die Gegenwart läuft sich tot, wenn sie sich nur auf sich selbst verlässt, sich nur aus sich selbst erschafft und das andere ihrer selbst ignoriert.

Innovation ist die unbussfertige Erneuerung. Ihr erscheint jede Rück-Sicht als ein Rück-Fall. Unter dem Imperativ der Innovation werden Gegenwartskrisen niemals aus begangenen Irrtümern oder Fehlentscheidungen erklärt. Krisen sind in dieser Lesart immer und ausschliesslich Resultat eines Novitätsmankos. Wer oder was in der Krise steckt, ist nicht modern genug, ist folglich innovationsbedürftig.

Marianne Gronemeyer
streifzuege.org