Extreme Form von Ausgrenzung Das anonyme Sterben der Obdachlosen

Gesellschaft

Obdachlosigkeit ist statistisches Niemandsland. Britische Journalisten haben das geändert – und auch in der Schweiz tut sich etwas.

Obdachloser in Berlin.
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Obdachloser in Berlin. Foto: Sascha Kohlmann (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

5. November 2018
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Sie leben unter Brücken und in Stadtparks, sie wärmen sich an Abluftschächten, und sie sterben nicht selten anonym und einsam: die Obdachlosen. Jetzt, wo es wieder kälter wird, reicht es manchmal für eine kurze Pressemeldung, wenn eine oder einer von ihnen auf einer Parkbank die Nacht nicht überlebt und an Unterkühlung stirbt.

Aber sonst weiss man wenig über sie, und niemand kennt ihre genaue Zahl. Nun haben britische Journalistinnen und Journalisten etwas genauer hingeschaut und Erschütterndes zutage gefördert: Zwischen Oktober 2017 und Oktober 2018 sind im Vereinigten Königreich 449 obdachlose Menschen verstorben – rund die Hälfte von ihnen irgendwo draussen auf der Strasse. So wurde eine Frau tot auf einem Parkplatz gefunden. Oder ein Mann wurde in einen Kehrichtwagen geworfen, während er, eingerollt in einem Teppich, schlief.

Einzigartige Datenbank

The Bureau of Investigative Journalism (TBIJ), eine unabhängige britische Informationsplattform, hat sich die Mühe genommen, möglichst alle Todesfälle von Obdachlosen während eines Jahres zu erfassen. Die Initialzündung für die aufwendige Recherche: Die Journalisten fanden nirgends eine Zahl der verstorbenen Obdachlosen. Der Staat, der sonst vieles statistisch erfasst, hat diese Todesfälle nie offiziell registriert. Also machte sich das TBIJ an die Arbeit.

Die Journalisten haben Beerdigungen besucht, Familienmitglieder kontaktiert, Berichte von Gerichtsmedizinern gelesen, mit Ärzten gesprochen, Suppenküchen und Notschlafstellen aufgesucht, Lokaljournalisten, Sozialinstitutionen und Kommunalbehörden befragt. Entstanden ist eine einzigartige Datenbank, welche die Namen der Toten auflistet – und vor allem ihre Geschichte in Kurzform erzählt.

Deutliche tieferes Durchschnittsalter

Es sind dramatische Geschichten. Die Obdachlosen sterben häufig gewaltsam, an schweren Krankheiten, an Drogen oder sie begehen Suizid. Manchmal liegen ihre Leichen stundenlang, wochenlang oder gar monatelang herum, bevor jemand sie findet. Die ausgewerteten Daten zeigen auch, dass Obdachlose um Jahrzehnte früher sterben als die Mehrheit der Bevölkerung: Das Durchschnittsalter der dokumentierten Todesfälle liegt bei 49 Jahren für Männer und bei 53 Jahren für Frauen.

Ein «nationaler Notstand»

Die TBIJ-Recherche hat in Grossbritannien eine breite Debatte über den Mangel an Daten über Obdachlose und vor allem über ihr anonymes Sterben ausgelöst. Sozialhilfeorganisationen zeigten sich empört. Ein Experte bezeichnete die Publikation als «Weckruf», der auf einen «nationalen Notstand» aufmerksam mache. Auch die nationale britische Statistikbehörde hat reagiert: Sie will nun eigene, offizielle Daten über Obdachlose erarbeiten und publizieren.

Auch in der Schweiz wenig erforscht

Die vernachlässigte Datenlage zu Obdachlosigkeit ist nicht allein ein britisches Phänomen. Auch in anderen Ländern existieren keine genauen Statistiken dazu, selbst in der Schweiz nicht. Natürlich gibt es Angaben von Sozialinstitutionen. Auch gibt es Unterstützungsangebote, sie reichen von Gassenküchen über Notschlafstellen bis zu begleitetem Wohnen und Reintegrationshilfen. Doch es wird kaum untersucht, wie wirksam all diese Massnahmen sind.

Auf Ende 2018 Resultate angekündigt

Einer will dies ändern: Matthias Drilling, Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit an der Fachhochschule Nordwestschweiz, kritisiert, dass sich die Wissenschaft in der Schweiz bisher nicht für Obdachlosigkeit interessiert habe, sonst aber alle Formen von Armut untersuche. Anfang 2018 hat er auf Watson angekündigt, er bereite die erste Obdachlosenzählung in der Schweiz vor. Ende dieses Jahres will er die Resultate veröffentlichen.

Extreme Form von Ausgrenzung

Drilling hat eine provokative These, weshalb es so wenig Datenmaterial zum Thema Wohnungslosigkeit gibt: «Man möchte das gar nicht wissen, denn das würde den Sozialstaat in Zugzwang bringen», sagte er gegenüber SRF. Ein Problem, dessen Ausmass man nicht kennt, müsse man auch nicht lösen. Als grösstes Problem für Obdachlose sieht Drilling ihre systematische Nichtbeachtung. «Sie haben keine Bedeutung mehr für die Gesellschaft. Es gibt keinen Lebensbereich – sei das in der Begegnung mit anderen Menschen, beim Wohnen oder der Arbeit – in dem sie noch eine Rolle spielen.» Drilling hat auch beobachtet, wie Obdachlose an Bahnhöfen wie streunende Hunde verjagt wurden. Dabei würden sie manchmal nicht einmal mehr mit ganzen Sätzen angesprochen.

Eine subtile Beobachtung, die alles sagt über unser Verhältnis zu diesen Menschen.

Jürg Müller-Muralt / Infosperber