Heimatgefühle in der Klasse Tugend statt Inhalt

Gesellschaft

Der Mangel in der Erziehung wird bei Löwenstein empirisch festgestellt: Weil die Menschen immer noch morden, kann die bisherige Erziehung mit ihrem Aufruf „Du sollst nicht morden“ nicht richtig funktionieren.

Gedenktafel am Geburtshaus Kurt Löwenstein in Bleckede.
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Gedenktafel am Geburtshaus Kurt Löwenstein in Bleckede. Foto: Emma7stern (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

7. August 2014
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„Moralpredigten und Lehren sind meistens gut gemeint, aber selten von nachhaltiger Wirksamkeit. Mehr als zwei Jahrtausende hat man die kultivierte Menschheit „Du sollst nicht töten“ gelehrt, die Katastrophe des Weltkriegs kann uns wirklich nicht zu dem optimistischen Glauben verleiten, dass diese Lehre wirksam gewesen ist. Was nicht erlebt ist, nicht im praktischen täglichen Leben geübt, das ist meist in der Erziehung nur schmückendes Beiwerk geblieben“. (SuE, 225)

Dabei fällt auf, dass Löwenstein hier mit den bürgerlichen Erziehern das Ideal teilt, es wäre eine Aufgabe der Erziehung, dass der Mensch sich nicht mehr gegenseitig tot schlägt. Dem ist zu widersprechen. Gerade im Weltkrieg (wir reden hier vom Ersten) wurde der Prolet doch gar nicht vor die Wahl gestellt ob er morden will oder nicht – per staatlichem Akt wurde er dazu gezwungen. Den hohen Herren indes mangelte es sicher nicht an richtiger Erziehung. Sie hatten für das nationale Wohl zu sorgen, das eben so manches mal über Proletenleichen gehen muss, wenn der Erbfeind oder der „russische Barbar“ dem deutschen Wohle entgegensteht.

Es gab nun aber nicht nur den Zwang von oben, sondern auch die Kriegsbegeisterung von unten in den Augusttagen 1914. Wie aber hätte eine sozialistische Erziehung davor schützen sollen? Löwenstein äusserst sich sehr genau darüber, ob man mit den Kindern schon direkt über politische Inhalte reden sollte:

„Das Arbeiterkind kann nicht schon im frühen Alter für ein Parteiprogramm erzogen werden, das lehnen wir Kinderfreunde grundsätzlich ab. Es soll kein Gläubiger eines Parteidogmas werden. Dadurch unterscheiden wir uns von den Spartakusgruppen der Kommunisten.“ (SuE, 220)

Es sei einmal dahingestellt ob es ein Ideal der Spartakisten war, Parteisoldaten im Sandkasten heran zu ziehen. Für Löwenstein ist auf jeden Fall klar, dass man den Sozialismus den Kindern anders nahe bringen muss als mit Urteilen über die Welt. Diese „dogmatische“ Herangehensweise, über den Willen und den Verstand des Kindes ist ihm im Grunde unsympathisch. Dafür entdeckt er bei den Kinderfreunden der Kirche und des Militärs sein Mittel der Wahl:

„Niemals haben die Kirchen sich gescheut, die Kinder vom frühesten Alter an mit all der Symbolik und dem Dogmengehalt der jahrhundertealten Überlieferung zu erfüllen. Niemals hat die monarchistische Erziehung der Vergangenheit es sich nehmen lassen, selbst die jüngsten ABC-Schützen mit „Monarchismus“ und „Patriotismus“ zu füttern. Sie taten es nicht mit Begriffsbestimmungen, nicht mit verstandesmässigen Erwägungen, aber sie machten die Kinder vertraut mit dieser Welt, damit sie sich heimisch in ihr fühlten und sie ihnen lieb geworden war, als Heimat ihrer schönen Kinderjahre. So und auch nur so sollen unsere Küken Heimgefühl für ihre Klasse und für die Arbeiterbewegung bekommen.“ (SuE 220)

Die sozialistische Erziehung erzählt den Kindern also nicht einfach, was so ein Staat eigentlich ist und wie man als Prolet darin vorkommt. Da hätten die Kinder dann zwar die Möglichkeit, Widerspruch einzulegen und eine Debatte anzufangen, aber irgendwie ist das dann doch zu „dogmatisch“. Statt dessen also sollen Heimatgefühle in der Klasse erzeugt werden – Sozialismus soll sich einfach toll anfühlen, auch wenn die Kinder gar nichts an der Hand haben, was Sozialismus denn eigentlich ist, ausser ein schickes Zeltlager oder ein schmetterndes Lied: „…und wenn sie dann singen „wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“, so haben sie gewiss noch keine Vorstellung von der gewaltigen Aufgabe der sozialen Revolution, aber sie wissen doch schon, dass es etwaas Gutes ist, und dass man stolz darauf sein kann, Bauvolk der kommenden Welt zu sein.“ (SuE 220)

Fassen wir zusammen: Über Inhalte mit Kindern zu reden ist Parteidogmatismus, Tugenden hingegen wollen gelebt sein, z.B. Kurt Löwensteins wunderbar sich selbst widersprechendes Paar von der „Friedensliebe“ und der „Kampfbereitschaft“. Dass diese Tugenden auch prima zu jeder anderen Erziehung passen, lernt man u.a. bei Hitler, der die deutsche Jugend auch aufforderte, „friedensliebend und kampfbereit“ (!) zu sein. Vielleicht liegt es eben doch nicht an einem Mangel an Tugenden, dass die Arbeiter sich 1914 gegenseitig abschlachteten, sondern an ihren falschen Urteilen über die Nation und ihre Rolle. Dagegen hilft allerdings kein noch so tugendhafter Umgang, sondern eine Debatte darüber, was der Staat ist.

Berthold Beimler