Über Selbstsorge und Profilneurotiker Facetten der Ichhaftigkeit

Gesellschaft

26. März 2018

In der Lebensweise der modernen kapitalistischen Gesellschaft nimmt die Ichhaftigkeit einen zentralen Platz ein.

Facetten der Ichhaftigkeit.
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Facetten der Ichhaftigkeit. Foto: Nicolas Nova (CC BY-NC 2.0 cropped)

26. März 2018
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Noch vergleichsweise harmlos erscheint die Suche nach einem persönlichen Bezug zu Themen, der von ihrem Inhalt absieht und es auf eine wie auch immer geartete Möglichkeit absieht, anhand des Themas über sich selbst und das liebe Selbst sprechen zu können. Schon brisanter ist die Verkehrung des eigenen Bezugs auf Arbeiten zu einer Gelegenheit, sein „eigenes Ding“ machen zu können. Vor lauter Funktionslust an den eigenen Fähigkeiten und Sinnen sehen die Beteiligten ab von der menschlich-sozialen Beurteilung oder gar Gestaltung des Arbeitens, der Arbeitsprodukte und ihrer sozialen Kontexte.

Selbstbetätigung und Funktionslust

Im Film „12 ich liebe Dich“ sagt der von Devid Striesow gespielte Vernehmer im Stasiknast: „Ich bin gern Vernehmer. Man kommt mit vielen unterschiedlichen Menschen zusammen und hat Zeit, sie kennen zu lernen. Gerade in extremen Situationen lernt man sich besonders gut kennen.“ Weniger extrem, aber weit verbreitet lässt sich bspw. beobachten, wie Ingenieure sich gleichgültig gegenüber Zweck und Grund des Produktes und gegenüber der sozialen Dimension der Produktion (z.B. Entlassungen) verhalten, wenn es ihnen nur selbst gelingt, sich in ihre Tätigkeit „einzubringen“. Die zugrunde liegende Maxime der Arbeitsbeurteilung, die sich auf den subjektiven Entfaltungswert konzentriert und alles andere hintanstellt, findet sich als „glückhafte Erregung über die neuen Dimensionen menschlichen Wissens und Könnens“ auch bei den Technikern und Wissenschaftlern, die an Massenvernichtungswaffen arbeiten (vgl. Jungk 1963, S. 466, S. 490). „Die, die sich da auftaten, liess diese Männer meist ganz vergessen, dass sie ja eigentlich hier zusammengekommen waren, um ein Todesinstrument zu entwerfen.“ (Ebd., S. 466)

Das Anliegen: Die erweiterte Reproduktion menschlicher Sinne und Fähigkeiten als Attribut des Individuums. Es avanciert durch dieses Hinausgehen aus sich (in die Objektivität hinein) und die Anverwandelung eines Segments der Objektivität zum angeeigneten, assimilierten Moment der individuellen Subjektivität allererst zum Selbst. Der Bezug auf das Aussen bildet das Medium der Entfaltung von auf das Selbst begrenzten Sinnen und Fähigkeiten. Die Arbeit gerät von ihrer subjektiven Seite her zum Selbstzweck. Die subjektive Verausgabung ist nun das, worauf es dem Individuum ankommt (neben der Bezahlung oder extrinsischen Belohnung).

Ichhaftigkeit zeigt sich auch in einem unmittelbaren Bezug auf andere Menschen, in dem man sich nicht auf den anderen einlässt, sondern ihn so wahrnimmt, wie es für das eigene Seelenleben passt: als Anregung, als Kontrastfolie, als Anlass zu Empörungsmonologen, als Begebenheit, über die man anderen Interessantes zu erzählen vermag. Neben dieser eher rezeptiven Variante gibt es auch eine „produktive“ Variante der Ichhaftigkeit. In ihr missrät der unmittelbare Bezug auf Mitmenschen dazu, sie als Gelegenheit zu nutzen, sich „zu produzieren“, sie zum Publikum eigener Beeindruckungsversuche oder zur Kulisse der eigenen Geschäftigkeit als „Sender“, der sich selbst gern reden hört, zu machen. Dieses „Sich-selbst-Produzieren“ betrifft auch die Hilfe.

Der Helfende kann sich „sachlich“ auf den Empfänger der Hilfe beziehen. Dann steht im Vordergrund, ob das Helferhandeln angemessen und gut ausgeführt war. In einer anderen Perspektive bezieht sich der Helfende auf sich selbst. Dann wird zum Thema, ob er ein guter Helfer ist. Der Hilfeempfänger spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht die Aufmerksamkeit des Helfers für seine guten Absichten, sein Engagement und seine Auffassungen.

Profilneurotiker

Eine andere Facette der Ichhaftigkeit besteht in der Verliebtheit in die eigene Meinung. Zu dieser pflegt man eine Beziehung wie zu seinem Hund: „Wir zwei verstehen uns.“ Gedanken werden weniger nach der Seite ihres Inhalts, sondern als Privatbesitz gewürdigt. „Eine Meinung ist eine subjektive Vorstellung, ein beliebiger Gedanke, eine Einbildung, die ich so oder so und ein anderer anders haben kann; – eine Meinung ist mein, sie ist nicht ein in sich allgemeiner, an und für sich seiender Gedanke.“ (Hegel 18, S. 30) Die Gewissheit, es verhalte sich so in der Wirklichkeit, wie man es in der Meinung von ihr annimmt, wird zugleich dementiert. Der Inhaber will gar nicht wissen, ob es sich so verhält, wie er meint. „Kritik und Einwände sind in dieser Sicht ein einziger Anschlag auf die Freiheit, zu denken, wie man will. Dies ist konsequent. Für Subjekte, die durch die Gedanken und Überlegungen, die sie anstellen, nichts als ihre Individualität unterstreichen wollen, ist ein Argument nichts weniger als ein Attentat wider die Ehre und Selbstbestimmung der eigenen Person; es wird damit zur Ursache eines Konflikts. Dessen Lösung besteht in der wechselseitigen Versicherung, für sein Teil habe jeder der Beteiligten Recht, wenn auch nur seines.“ (Dorschel 1992, S. 233)

Zur Ichhaftigkeit gehört die übertriebene Auffassung davon, wie viel vom Individuum als solchem abhängt – sei es als Kontrollillusion, sei es als falsche Selbstkritik. Hinzu tritt die überkompensatorische Selbstverwichtigung, mit der das Selbst sich jene Bedeutung zuspricht, die es an seiner Existenz als Individuum in der Aussenwelt vermisst, inklusive der Tendenz zur „Prestigepolitik“ (Alfred Adler).

Mit der Ichhaftigkeit geht oft der profilneurotische Kult um die eigene Besonderheit einher. Er knüpft am erst mit der bürgerlichen Gesellschaft gegebenen Unterschied zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Individuum an. Bleibt „ein Adliger stets ein Adliger … abgesehn von seinen sonstigen Verhältnissen, eine von seiner Individualität unzertrennliche Qualität“ (MEW 3, S. 76), so hat sich nunmehr ein Unterschied herausgestellt „zwischen dem Leben jedes Individuums, soweit es persönlich ist, und insofern es unter irgendeinen Zweig der Arbeit und die dazugehörigen Bedingungen subsumiert ist“ (ebd.).

In der modernen bürgerlichen Gesellschaft entsteht unter Voraussetzung der Gleichheit der Bürger als Repräsentanten von ökonomischem Wert und unter der Bedingung des als „numerisch“ bezeichneten Individualismus der Aufklärung ein „qualitativer“ Individualismus (Simmel 1957, S. 267). „Sobald das Ich im Gefühl der Gleichheit und Allgemeinheit hinreichend erstarkt war, suchte es wieder die Ungleichheit, aber nur die von innen heraus gesetzte.“ (Ebd., S. 265) Seine Frustrationen in der gesellschaftlichen Realität verarbeitet das bürgerliche Individuum als „Nivellierungserfahrung“ und beantwortet sie mit einem reaktiven „exaggerierten Subjektivismus“ (Simmel 8, S. 382). Hier macht sich die Kehrseite der Arbeitsteilung geltend.

Zwar beansprucht sie das Individuum allein mit einem zur Austauschbarkeit objektivierten Segment seiner selbst. Zugleich aber „saugt“ das verobjektivierte Ganze „seine Elemente nicht so vollständig in sich ein, dass nicht ein jedes noch ein Sonderleben mit Sonderinteressen führte“ (Simmel 6, S. 629f.), in dem der „Rest“ zur Geltung zu bringen ist, der das Individuum ausfüllt neben der in der Arbeitsteilung beanspruchten Seite. Auf diesen Rest kaprizieren sich nun die Individuen. Sie steigern „das verbleibende Privateigentum des geistigen Ich zu um so eifersüchtigerer Ausschliesslichkeit“ (ebd., S. 653). Das Getue um die individuelle Besonderheit gegenüber anderen soll in der Fokussierung auf die vermeintliche „unbestreitbare Eigenheit“ das Individuum „für alle Leiden entschädigen“ (MEW 3, S. 296). Es kommt dann dazu, „dass man dem, wodurch sich Menschen voneinander unterscheiden, ihrer Ich-Identität, einen höheren Wert beimisst als dem, was sie miteinander gemein haben, ihrer Wir-Identität“ (Elias 1987, S. 21).

Zur distinktiven Selbstverortung gehört auch der Zusammenschluss zu Kollektiven, die den Wunsch erfüllen, „mit Menschen zusammenzukommen, die dieselben unmittelbaren und klar umrissenen Sorgen teilen. … Narzissmus zeichnet sich nicht allein durch hedonistische Selbstbezogenheit aus, sondern auch durch das Bedürfnis, sich mit ‚identischen' Wesen zusammenzuschliessen“ (Lipovetsky 1995, S. 19f.).

Selbstsorge

Bei manchen, die lange Psychoanalysen hinter sich haben, erinnert man sich an die Scherzpostkarte, auf der es heisst: „Früher war ich eingebildet, heute weiss ich, dass ich toll bin.“

Die psychotherapeutische Vorstellung, durch eine Vertiefung der Selbstaufklärung und -wahrnehmung heilsame Effekte zu erzielen, eröffnet – zumindest auch – kontra-produktive Effekte: „Je mehr das Selbst besetzt wird, je stärker es zum Objekt von Aufmerksamkeit und Deutung wird, desto grösser wird die Unsicherheit, desto mehr Fragen tun sich auf. Durch die vielen ‚Informationen' wird das Selbst zu einem leeren Spiegel, durch die vielen Assoziationen und Analysen wird es zu einer Frage ohne Antwort, zu einer offenen und unbestimmten Struktur, die im Gegenzug nach immer mehr Therapie und Anamnese ruft.“ (Lipovetsky 1995, S. 78) Psychotherapeutische Praktiken verfehlen nicht nur die Not, die sie lindern wollen, sondern steigern sie auch noch – wenigstens in einer Hinsicht. „Je mehr da gedeutet wird, desto stärker fliessen die Energien zurück zum Ich, inspizieren es und besetzen es von allen Seiten; je mehr da analysiert wird, desto mehr Tiefe gewinnen die Verinnerlichung und Subjektivierung des Individuums; je mehr Unbewusstes und je mehr Deutungen es gibt, desto intensiver wird die Selbstverführung.“ (Ebd., S. 46)

In der Psychotherapie avanciert das Individuum zum Mittelpunkt. Selten wird sich so eindringlich um den eigenen, persönlichen Sinn gekümmert. Suggeriert wird eine innere Fülle, die es nur zu entdecken und nutzen gelte. „Jedem sein Unbewusstes, seine eigene auszubeutende, symbolische Fundgrube, sein Kapital!“ (Baudrillard 1972, S. 332) In der im Verlauf der Therapie möglichen persönlichen Geschichts(re)konstruktion ereignet sich eine Sinn stiftende Vereindeutigung und Verkehrung. Angesichts der Erfahrung fortschreitender Anonymität scheint wenigstens „die eigene Vergangenheit vor dem Zugriff anderer eher gesichert zu sein. … Dieses ‚früher' wurde ja ursprünglich, unter dem Einfluss der Psychoanalyse, mit der Absicht der Befreiung von übermässiger Bindung aufgesucht.“

Die nichtintendierten „Neben“effekte von Psychotherapie umfassen demgegenüber oft „Fixierungen statt Ablösung, Bindung an Vergangenes, dessen partielle Unverwechselbarkeit und Einzigartigkeit – meine Kinder, deine Schwester, mein Vater, dein Vater usw. – übertrieben wurden. Ein nach rückwärts gerichteter Narzissmus der kleinsten Differenzen“ (Brückner 1978, S. 46ff.). An Psychotherapien wird als Effekt oft eine erhöhte Ichhaftigkeit beklagt: „Wirkungsloser Widerspruchsgeist, leicht aggressiv-frustrierte Grundstimmung, hohe Selbstakzeptanz, geringe Neigung, seine offensichtlich unsozialen Haltungen zu verdecken oder gar zu problematisieren. Eben – Unbehagen in der Kultur, geordnetes Leben auf resignierter Grundlage.“ (Burmeister 1976, S. 1f.)

Zur Ichhaftigkeit gehört die Verarbeitung von manifesten psychischen Problemen mit selbstbemutternder Selbstsorge, mit Selbstaufwertung durch dauernde Aufmerksamkeit für das liebe leidende Ich („Negaholiker“ Carter-Scott 1990). „Das Schwelgen in den eigenen Schmerzen, das wollüstige Sichverbohren in jedem Kummer, die Sucht, von seinen Missgeschicken vor sich selbst und anderen möglichst viel ‚herzumachen'“ (Simmel 1990, S. 94) – all dies bildet eine Selbstaufmerksamkeit, die man sich im Bezug auf Positives meist nicht zubilligt. Ex negativo traut man sie sich schon zu – anlässlich der imponierenden Grösse des eigenen Unglücks. Nun gilt die Selbstaufmerksamkeit dem Betroffenen als Pflicht der Nächstenliebe. Man ist sich dann selbst der Nächste und bleibt es meist auch. Die exklusive Zuwendung kann schliesslich keiner so aufbringen wie man selbst. Sie avanciert zunächst zur schlechten Gewohnheit und missrät im weiteren Verlauf zu einer Art Sucht. „Es ist sehr merkwürdig, zu wie viel unkeuscher Arroganz gerade das Leiden – nicht nur das eingebildete, sondern auch das wirkliche – verführt. Nicht viele sind so selbstbewusst, zu glauben: so etwas leistet doch kein anderer! Aber viele sind so anmassend, zu glauben und auszusprechen: so etwas leidet doch kein anderer!“ (Ebd.)

Zur im Sinne von Problembearbeitung dysfunktionalen und die Egozentrik steigernden Sorte von Selbstaufmerksamkeit gehört die grübelnde Hyperreflexion. Kognitiv kommt bei ihr meist nicht viel heraus: Der Betroffene verwirrt sich oft in „Abstraktionen der Hilflosigkeit“. „Der Klient ist sehr beschäftigt und konstruktiv tätig, indem er seine Gefühlsinhalte auf verschiedene Weisen anordnet und gleichsam in Muster legt, ohne dass es klar ist, um was es für ihn eigentlich dabei geht und wie er das empfindet, was da von ihm hin und wieder arrangiert wird.“ (Dahlhoff, Bommert 1978, S. 70f.) Das Individuum dreht sich mit der „Hyperreflexion“ (Frankl) nur weiter in „seine“ Probleme hinein und verfehlt sein In-der-Welt-Sein oder nicht-ichhafte Aufgaben und Zwecke. Gerade mit ihnen würde es möglich, die Fixierung auf die unmittelbare Befindlichkeit zu überschreiten. Darin liegt ein pathogenen Prozessen entgegenwirkendes Moment, wenn diese Selbsttranszendenz nicht mit einer Missachtung eigener Grenzen einhergeht.

Die imaginäre Vergrösserung des Ich sorgt zuverlässig dafür, dass das Subjekt noch mehr anderen ebenso verfassten Betroffenen in die Quere kommt, als dies durch Privatbesitz, Konkurrenz und Hierarchie schon ohnehin notwendig ist. Das mehr oder weniger faktisch verhinderte Grössenselbst zeigt sich mit den ihm von aussen gesetzten Schranken beschäftigt. Nicht die Grenzen dieser Subjektivitätsform und ihre Infragestellung kommen in den Blick. Die Nichtachtung und die mangelnde Anerkennung des Grössenselbst verursachen Kummer und Streit. In der Ehre „betrifft die Verletzung nicht den sachlichen, realen Wert …, sondern die Persönlichkeit als solche und deren Vorstellung von sich selbst, den Wert, den das Subjekt sich für sich selber zuschreibt. …

Der Massstab der Ehre geht also nicht auf das, was das Subjekt wirklich ist, sondern auf das, was in dieser Vorstellung ist. Die Vorstellung aber macht jedes Besondere zu der Allgemeinheit, dass meine ganze Subjektivität in diesem Besonderen, die mein ist, liegt. … Dieser Mangel an tieferem Inhalt tritt besonders hervor, wenn die Spitzfindigkeit der Reflexion an sich selbst Zufälliges und Unbedeutendes, das mit dem Subjekt in Berührung steht, mit in den Umfang der Ehre hineinzieht. An Stoff fehlt es dann niemals, denn die Spitzfindigkeit analysiert mit grosser Subtilität der Unterscheidungsgabe, und da können viele Seiten, die für sich genommen ganz gleichgültig sind, herausgefunden und zum Gegenstand der Ehre gemacht werden.“ (Hegel 14, S. 177ff.)

Das Wir als Wille und Vorstellung

Die Ichhaftigkeit entsteht im Kontext der Probleme der Lebensweise in modernen kapitalistischen Gesellschaften. Um eine mutwillige Eindrehung des Individuums in sich selbst handelt es sich nicht. Umkehrappelle sind eine Themaverfehlung. Die Arbeit an der gesellschaftlichen Überwindung der Ursachen von Ichhaftigkeit orientiert sich auch daran, das der Ichhaftigkeit niveaugleiche Bedürfnis nach ihrer Überwindung ohne Antastung ihrer Ursachen unnötig zu machen. Viel Zerstörung wird von Sekten und Nationalisten in die Welt gesetzt, um die Individuen von ihrer Ichhaftigkeit zu befreien. Sie sollen sich in ein ebenso partikulares, aber nun kollektives Grössenich tendenziell auflösen.

Das Wir und die Gemeinschaft erscheinen als positives Gegenteil der Ichhaftigkeit. Dabei unterlaufen egozentrische Strebungen den Pol der Gemeinschaftlichkeit und des Sozialen und verkehren ihn. Fritz Künkel zeigt dies an der Bekehrung zum Wir als „sozialer Scheinheilung“ (1931, S. 69) und am Führertum (1931, S. 94ff.). Er untergräbt damit damals von links bzw. rechts anerkannte Leitbilder. Er stellt sie nicht frontal infrage, sondern macht sie in ihrer Gegenposition zum Ichhaften so stark, dass deutlich wird, wie schwierig die Voraussetzungen von dessen Überwindung sind und wie heuchlerisch viele kurzschlüssig als Überwindung propagierte Konzepte ausfallen.

Die Verkehrung der Gemeinschaft durch ihr vermeintlich klares Gegenteil, das egoistische Individuum, erweist sich auch als charakteristisch für das – bei allem offiziellen Holismus der Volksgemeinschaft – latente Übergewicht individualistischer Momente im Weltbild Hitlers. Der Kampf aller gegen alle ist das implizite Programm der systematisch durch die Doppelorganisationen von Partei und Staat angeheizten Konkurrenz zwischen den Unterführern und deren Bewährung im Kampf gegeneinander um den Aufstieg in der Elite.

Der „Rassismus geht hier aus der Zersetzung der holistischen Vorstellung durch den Individualismus hervor“ (Dumont 1991, S. 187). „Hitlers Rassenvorstellung ist im Antisemitismus fundiert. Er allein vermag die deutsche Bevölkerung ‚rassisch' zu vereinen, die sich ansonsten, wie uns gesagt wird, in vier ‚rassische Grundelemente' aufteilt.“ (Ebd., S. 198) Hitler erweist sich als zutiefst vom individualistischen „Gift, das er bekämpfen wolle, selbst infiziert. Der Individualismus des Kampfes aller gegen alle untergrub in seinem Geist das, woran er gern geglaubt hätte und woran die Deutschen glauben sollten: die ‚Volksgemeinschaft'“ (ebd., S. 188). Die Ausrottung der Juden erscheint nicht zuletzt als Manöver Hitlers, die eine Seite des seine Weltanschauung charakterisierenden Widerspruchs, den Individualismus, auf die Juden zu projizieren und sich seiner mit ihrer Vernichtung zu entledigen.

Die Ichhaftigkeit bildet ein Resultat sowie eine Teilmenge von ungelebtem Leben und Weltlosigkeit und ein sie verstärkendes Moment. Viktor von Weizsäcker (1947, S. 179ff.; 1956, S. 249f.) hat sich mit dem Ausdruck „ungelebtes Leben“ auf die verpassten, nicht ausgeschöpften, also auch nicht konkretisierbaren Möglichkeiten bezogen. „Die getöteten Söhne, die ungeborenen Kinder, sind sie nicht wirksamer als alles andere? Auch die unmöglichen Pläne, die nie getanen Taten, sind sie nicht wirksamer als alles, was geschehen ist?“ (Weizsäcker 1950, S. 191) Günter Anders hat Weltlosigkeit treffend charakterisiert: „,Menschen ohne Welt' waren und sind diejenigen, die gezwungen sind, innerhalb einer Welt zu leben, die nicht die ihrige ist; einer Welt, die, obwohl von ihnen in täglicher Arbeit erzeugt und in Gang gehalten, ‚nicht für sie gebaut' (Morgenstern), nicht für sie da ist; innerhalb einer Welt, für die sie zwar gemeint, verwendet und ‚da' sind, deren Standards, Abzweckungen, Sprache und Geschmack aber nicht die ihren, ihnen nicht vergönnt sind.“ (Anders 1993, XI) Für diese Existenz „trifft Heideggers Grundcharakterisierung menschlichen Seins: dass dieses eo ipso ‚In-der-Welt-Sein' sei, nicht eigentlich zu“, leben die Menschen doch „nicht eigentlich ‚in', sondern nur ‚innerhalb' der Welt“ (ebd., XII).

Linke, die sich auf ungerechte Verteilung und die Verteidigung des Lebensstandards der Massen konzentrieren, vermögen nicht, ungelebtes Leben und Weltlosigkeit in einer vom Primat des abstrakten Reichtums beherrschten Welt als deren Folge wahrzunehmen und daraus dessen existenzielle Infragestellung zu entwickeln. Die Betroffenen schreiben weiter ungelebtes Leben und Weltlosigkeit dem eigenen Ungeschick oder den Untaten anderer zu. Falsche Selbstkritik und zermürbende gegenseitige Beschuldigungen bilden die Folge. „Die Wüste wächst, weh dem, der Wüste birgt!“ (Nietzsche)

Meinhard Creydt
streifzuege.org