Warum wir das Bedingungslose Grundeinkommen brauchen Update für den Sozialstaat

Gesellschaft

Arbeitsplatzverlust durch Digitalisierung, Existenzangst im Kapitalismus und das Dünnerwerden der sozialen Netze: Kann das Bedingungslose Grundeinkommen (BGE) tatsächlich die drängenden Probleme der Gegenwart lösen?

7. ABC des Freien Wissens G=Grundeinkommen.
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7. ABC des Freien Wissens G=Grundeinkommen. Foto: Lilli Iliev (WMDE) (CC BY-SA 4.0)

15. Juni 2017
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Inzwischen wird die Idee nicht nur von links immer lauter vernehmbar, auch Wirtschaftsbosse glauben an das Konzept. Die Soziologin Meera Zaremba kennt 85 Menschen, die ein Jahr lang ein Grundeinkommen erhalten haben. Eine Bestandsaufnahme.

Nachdem ich angefangen hatte, mich in meiner Schulzeit ehrenamtlich zu engagieren, war für mich schnell klar: Ich möchte mein Leben gesellschaftlicher Veränderung widmen. Je näher ich ans Ende meiner formalen Ausbildung gekommen war, desto stärker spürte ich den Druck, mich in ein System zu fügen, in dem solche Lebenswege die Ausnahme sind. Anstatt zu überlegen, was ich beitragen will, habe ich mich immer stärker damit beschäftigt, wie ich meine Fähigkeiten auf dem Arbeitsmarkt verkaufen kann. Ich bekam richtig Angst. Vor diesem Arbeitsmarkt, vor Hartz IV, vor jahrzehntelanger 40-Stunden-Woche. Hilfe!

Ich hatte Angst, nicht mithalten zu können. Nicht zu bekommen, was ich brauche. Existenzangst nennen wir das. Sie treibt uns an. Und das System, dessen Teil wir sind. Existenzangst kostet sehr viel Kraft. Sie läuft so mit. Und tut dabei kontinuierlich weh.

Nur mein Problem? Ich bin zwar einerseits Teil der individualisiertesten Generation seit Menschengedenken und glaube daran, selbst verantwortlich für mein Glück zu sein. Andererseits bin ich aber auch Soziologin und weiss: Menschen sind keine frei schwimmenden Inseln, sondern stehen kontinuierlich unter sozialen und strukturellen Einflüssen.

Ich glaube deshalb, dass ich nicht als einzige die Bekanntschaft mit der Existenzangst gemacht habe. Und ebenso glaube ich, dass wir erst wirklich handlungsfähig werden, wenn wir aufhören, uns selbst die Schuld für alle unsere Unsicherheiten zu geben. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir die Spielregeln verändern können. Und womit könnten wir diese Spielregeln besser verändern als mit einem Bedingungslosen Grundeinkommen?

Durch mein Bedingungsloses Praktikum bei Mein Grundeinkommen e.V. habe ich mich praktisch mit der Idee befasst. Ich habe dort 1.000 Euro im Monat bekommen und konnte frei entscheiden, ob und was ich arbeite. Damals motivierte mich allein schon der Umstand, dass ich mich und meine Arbeit selbstbestimmt erleben konnte. Ohne Angst. Wow.

Was wäre eigentlich, wenn wir alle Grundeinkommen hätten?

Diese Frage hat mich so sehr bewegt, dass ich im Anschluss an das Praktikum bei Mein Grundeinkommen geblieben bin und seitdem für den Verein in der Öffentlichkeitsarbeit und in der Organisationsentwicklung arbeite.

Mein Grundeinkommen sammelt per Crowdfunding Geld und immer wenn 12.000 Euro zusammen sind, werden sie an eine Person verlost. Die GewinnerInnen dieser Summe erhalten dann ein Jahr lang ihr persönliches Grundeinkommen von 1000 Euro pro Monat. Das Ziel: Praktisch ausprobieren, wie es wirkt und so eine grosse Debatte anstossen. 85 Menschen haben so schon ein Grundeinkommen erhalten.

Was sie uns berichten, ist fast durchweg positiv. Nur drei Personen haben ihre Jobs gekündigt, um etwas anderes zu machen. Die Mehrzahl der GewinnerInnen schläft besser und lebt sorgenfreier, ernährt sich gesünder und viele fassen den Mut, ihre persönlichen Träume zu verwirklichen. Eine Gewinnerin hat ein Buch geschrieben und veröffentlicht, einige haben sich selbstständig gemacht und sich neue berufliche Standbeine geschaffen. Dabei arbeiten und leisten sie insgesamt mehr als zuvor, sind dabei aber entspannter und zufriedener.

Eine andere Gewinnerin hat uns berichtet, dass sie dank dem Grundeinkommen zwar mehr Geld habe, aber weniger davon ausgeben würde – einfach, weil es nicht mehr so eine grosse Rolle in ihrem Leben spiele. Einige haben uns erzählt, dass sie grosszügiger geworden sind und begonnen haben, sich mehr Gedanken über ihre Mitmenschen und ihre Umwelt zu machen und sich politisch zu engagieren.

Ohne Existenzangst leben

Diese Ergebnisse sind so einfach wie bahnbrechend: Auf den ersten Blick gibt es keine radikalen Umbrüche im Alltag der Gewinnerinnen und Gewinner. Auf den zweiten Blick aber wird erkennbar, dass sich etwas Bedeutsames im Leben dieser Menschen verändert hat. Wir lernen von unseren Gewinnern, dass unglaubliche Kräfte und Ideen freigesetzt werden, wenn durch die existenzielle Sicherheit das Gefühl entsteht, als die Person, die man ist, anerkannt zu sein; seinen Platz in der Welt sicher zu haben. Genau darin liegt das Potential des Grundeinkommens – für jeden von uns, als auch für uns als Gesellschaft.

Auch Existenzangst treibt an. Die Kosten dieses Ansatzes sind aber im wahrsten Sinne des Wortes verstörend. Depressionen, Burnout, diverse andere gesundheitliche Leiden, innerliche Kündigungen und sinkender sozialer Zusammenhalt werden zwar vermehrt thematisiert. Sie müssen aber auch als Symptome eines menschenfeindlichen und aus einem Mangelgefühl geborenen Leistungsparadigmas verstanden werden, damit wir ihre Ursache beheben können.

Zusammengefasst bedeutet das nicht weniger als die Möglichkeit und die Notwendigkeit, unser System auf einem neuen Menschenbild aufzubauen. Die Qualität einer von Angst getriebenen Motivation kann mit einer tiefgreifenden Inspiration, die durch existenzielle Freiheit entsteht, nicht mithalten. Das Bedingungslose Grundeinkommen kann uns genau das ermöglichen und uns auf ein neues Level heben.

Wohlfahrtsstaat und sozialer Zusammenhalt

Es gibt zwei Arten, für das Grundeinkommen zu argumentieren. Einmal kann es im humanistischen Sinne als Befreiung menschlicher Potentiale verstanden werden, als Utopie. Ich verstehe, dass das vielen nicht reicht, um alles umzuwerfen, was wir kennen. Zweitens ist das Bedingungslose Grundeinkommen inzwischen aber auch Realpolitik.

Es ist notwendig, um die strukturellen Veränderungen, die Automatisierung und Digitalisierung mit sich bringen, zu begleiten, Menschen weiterhin Teilhabe zu ermöglichen und bei steigender Erwerbsarbeitslosigkeit den sozialen Frieden zu wahren. Zu glauben, dass unser bestehendes Sozialsystem das leisten kann, ist für mich die eigentliche Utopie – wenn nicht grobe Fahrlässigkeit.

Der Wohlfahrtsstaat war eine wegweisende soziale Innovation, die aus den Kämpfen zwischen ArbeiterInnen, KapitalistInnen und dem Staat als Antwort auf die Industrialisierung hervorgegangen ist. Die Umstände, die sich durch die Digitalisierung entwickeln, sind aber andere. Wenn wir Vollbeschäftigung und kontinuierliche Erwerbsbiographien nicht aufrecht erhalten können, fehlt uns die Grundlage für unser gesamtes Sozialsystem. Wir brauchen jetzt also eine neue Antwort.

Dass der Arbeitsmarkt schrumpfen wird, gilt als sicher. Das wird erhebliche soziale Folgen haben, denn ein Erwerbsarbeitsplatz ist nach wie vor für die meisten Menschen das entscheidende Mittel für gesellschaftliche Teilhabe. Manche BGE-KritikerInnen befürchten, dass die Politik das Grundeinkommen als eine Art “Ruhigstellungspauschale” für DigitalisierungsverliererInnen einführen könnte.

Es geht bei der Frage “Grundeinkommen ja oder nein” nicht darum sich zwischen Ruhigstellung und der Anstiftung zum Arbeitskampf zu entscheiden. Viel mehr ist wichtig zu verstehen, dass das Grundeinkommen die Umstellung auf eine neue Situation und die zu erwartende Arbeitslosigkeit weniger schmerzhaft machen würde und damit die soziale Sprengkraft der Digitalisierung verringern könnte. In diesem Sinne ist es primär als dringende und konkrete erste Hilfe für jedeN von uns zu verstehen, in einem Prozess, dessen konkrete Entwicklung kaum abzusehen ist.

Ein BGE wäre eine sinnvolle und angemessene Verbesserung gegenüber unserer derzeitigen “Grundsicherung”, da es den Zwang zur Erwerbsarbeit aufheben und durch mehr Selbstbestimmung ersetzen würde. Anstatt Menschen zu bestrafen und ihre Situationen auf dem Arbeitsmarkt als persönliches Scheitern zu bewerten, wird mit einem Grundeinkommen anerkannt, dass es ganz normal ist, auch mal erwerbslos zu sein, sich umzuorientieren oder sich seiner Familie oder Gesundheit zu widmen.

Wie Erwerbsarbeit verteilt wird und wie wir dementsprechend eine digitalisierte Wirtschaft regulieren, bleibt – mit oder ohne Grundeinkommen – eine politische Frage, die verhandelt werden muss. Wie das Ergebnis dieser Verhandlungen aussehen wird, kann niemand voraussagen. Einer Sache bin ich mir jedoch sicher: Das Grundeinkommen kann sowohl die wirtschaftliche Situation als auch die Verhandlungspositionen von Erwerbslosen und ArbeitnehmerInnen nachhaltig stärken. (Wir erinnern uns hier an die Ergebnisse unseres Experiments: Existenzangst treibt an, aber kann mit der Inspirationskraft existenzieller Sicherheit nicht konkurrieren!)

Ähnlich wie die Verteilung von Erwerbsarbeit ist auch die Frage nach flankierenden Sozialleistungen eine Sache politischer Verhandlungen. Wenn wir uns einig sind, dass wir uns als Menschen in dieser Gesellschaft gegenseitig unterstützen möchten und weiterhin anstreben, dass alle die gleichen Chancen haben sollen, können wir das möglich machen. Dafür muss das Grundeinkommen hoch genug sein, damit jedeR Einzelne davon gut leben kann. Und es muss von anderen sozialpolitischen Reformen begleitet werden.

Ein sozial gerechtes Grundeinkommen schliesst beispielsweise überhaupt nicht aus, dass Menschen durch gute Beratung und Bildungsangebote darin unterstützt werden, sich weiterzuentwickeln und gesellschaftlich einzubringen. Im Gegenteil. Genauso wie unser Sozialsystem braucht auch unsere Bildungskultur ein massives Update. Eine Reform des Bildungssystems muss mit der Digitalisierung und dem Grundeinkommen Hand in Hand gehen, um Fairness am Arbeitsmarkt und Zugang zu Informationen und Teilhabe für alle zu garantieren.

Was für eine Zukunft wollen wir eigentlich?

Die Welt wurde von Menschen zu dem gemacht, was sie heute ist. Und genauso kann sie auch verändert werden. Wir können selbst bestimmen, was für eine Art von Grundeinkommen wir wollen und von welchen Strukturen und Sozialleistungen es begleitet werden soll.

Wir müssen dafür aber unsere Gestaltungs- und Verhandlungsmacht anerkennen, entwickeln und nutzen. Nicht nur im Hinblick auf das Bedingungslose Grundeinkommen, sondern auch in Bezug auf unsere digitale Zukunft. Das erfordert von uns den Mut, jenseits aller Zukunftsprognosen und dem, was wir nicht wollen, die Frage zu stellen, was wir uns eigentlich konkret für eine Zukunft wünschen.

Noch nie waren wir in der Lage, so viel Wohlstand zu erzeugen wie heute. Wir haben es geschafft! Jetzt geht es darum, das anzuerkennen und materiell abzubilden. Und zwar, indem wir ein neues Level von Lebensqualität, Freiheit und Glück für alle ermöglichen. Wäre es deshalb nicht schön, wenn wir plötzlich alle Grundeinkommen hätten?

Meera Zaremba
berlinergazette.de

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