Die Wahl zwischen Nahrung und Medizin Solidarity Clinics: Alternativen zum Gesundheitssystems in Griechenland

Gesellschaft

Nach dem Zusammenbruch des Gesundheitssystems in Griechenland: Ein Grossteil der Bevölkerung ist ohne Krankenversicherung, doch es bilden sich landesweit solidarische Netzwerke, bürgerbetriebene Kliniken entstehen.

Spital in der Region Thessalien, Griechenland.
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Spital in der Region Thessalien, Griechenland. Foto: Astarti34 (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

23. September 2015
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Nicht zuletzt wird ein zukunftsweisender Umgang mit Patienten erprobt. Die Sozialwissenschaftlerin Marina Sitrin hat mit einer Aktivistin gesprochen. Ein Protokoll:

Seit 2011 sind die Menschen in Griechenland dazu gezwungen, sich selbst um ihre medizinische Versorgung zu kümmern. Doch angesichts einer neuen Auflage, die alle dazu verdonnert, jeden Arzt- und Krankenhausbesuch zu bezahlen und angesichts der verheerenden Wirtschaftskrise, ist es den meisten nicht möglich, ärztliche Behandlungen oder gar Medikamente zu bekommen. Viele stehen vor der schier unmöglichen Wahl zwischen Nahrung und Medizin.

Seitdem finden sich die Menschen in Versammlungen zusammen – so genannten assemblies. Hier beraten sie über Handlungsstrategien sowie Selbstorganisation. Einige Nachbarschaftsversammlungen und Ortsgemeinschaften organisieren regelmässig Blockaden der Klinikkassen damit die Patienten nicht zahlen müssen. Andere, hauptsächlich von Ärzten initiierte Versammlungen, haben indes beschlossen Gesundheitskliniken, die ausschliesslich auf der Hilfe von Freiwilligen basiert, aufzubauen.

Es gibt zum jetzigen Zeitpunkt mehr als 60 medizinische Einrichtungen in Griechenland. 48 dieser Kliniken gelten als selbstorganisierte Krankenhäuser – so genannte Solidarity Clinics. Die restlichen zwölf werden durch die Kirche verwaltet. Diese Kliniken stellen den Grossteil der Leistungen, die von den Leuten täglich benötigt werden, zur Verfügung: von Allgemeinmedizin, Geburtshilfe und Pädiatrie bis hin zu zahnmedizinischer Versorgung, psychologischer und psychiatrischer Behandlung und vielen anderen Leistungen. Sie betreiben ausserdem kostenfreie Apotheken, die ebenfalls auf Freiwilligendiensten und Spendenbasis beruhen.

Ende November findet eine nationale Versammlung der Solidaritätskliniken statt. Vor diesem Hintergrund habe ich mit Ilektra Bethymouti getroffen, einer Psychologin und Mitwirkenden der Gruppe, die die erste Solidaritätsklinik in Thessaloniki ins Leben gerufen hat.

Als Psychologin, Therapeutin und Trainerin beteiligt sich Ilektra aktiv an gesellschaftspolitischen Initiativen für Bürgerrechte auf dem Gebiet der (seelischen) Gesundheit. Heute ist sie Mitglied der Solidarity Social Practice Clinic und des Hellenic Observatory For Rights In The Field Of Mental Health in Thessaloniki.

Zu Beginn unserer Unterhaltung machte Ilektra eine überraschende Mitteilung: Die Teilnehmer der Versammlung fanden nämlich heraus, dass sich die Zahl der Solidaritätskliniken nicht, wie bisher angenommen auf 30, sondern inzwischen auf das Doppelte beläuft. Und ihre Zahl wächst stetig.

Da kommt einiges auf uns zu – es gibt viel mehr Kliniken als wir bisher angenommen haben. Gleichzeitig wird das Gesetz, das Grundlage des Gesundheitssystems ist, geändert – und die Frage ist, was wir unternehmen sollten.

Das neue Gesetz besagt, dass Menschen, die keine Sozialversicherung besitzen, Zugang zum öffentlichen Gesundheitssystem haben sollten. Es ist neu, dass jeder Zugang haben soll, aber zur selben Zeit scheinen die Krankenhäuser davon nichts zu wissen und weigern sich Menschen zu helfen oder aufzunehmen. Bei der vorherigen Nationalversammlung entschieden 26 der 60 Solidaritätskliniken sich zu verbünden und ein sogenanntes Observatorium zu einzurichten.

Wir beschlossen, dass wir herausfinden müssen, was in den staatlich betriebenen Krankenhäusern vor sich geht. Wir müssen überprüfen, ob sie Arbeitslose und Menschen ohne Sozialversicherung aufnehmen. Und falls nicht, weshalb sie die Aufnahme verweigern. Es gibt einige Kriterien, aufgrund derer sie entscheiden, ob Menschen Aufnahme gewährt wird oder nicht, aber bis jetzt gibt es eine immense Anzahl von Menschen, denen es nicht möglich war, Zutritt zu erlangen. Das Gesetz wurde bereits verabschiedet, aber es wurde noch nicht erfüllt. Es scheint als wären die Ärzte in den Kliniken noch nicht über das Gesetz informiert.

Als sie das Gesetz vor einigen Monaten verabschiedeten, begann eine grosse Anzahl der Solidaritätskliniken gemeinsam zu überlegen und zu hinterfragen, ob es sinnvoll wäre, die selbstorganisierten Krankenhäuser nur noch für Geflüchtete oder Immigranten offen zu halten. Wir hatten keine Ahnung, wie unsere Aufgabe aussehen könnte, sobald die Leute wieder Zugang zu medizinischer Versorgung haben werden. Wir haben uns dennoch dazu entschlossen weiterzumachen, da wir nicht wissen, inwieweit sich die derzeitigen Probleme lösen lassen. Da weiterhin Bedarf besteht, müssen wir weitermachen.


Die Veränderung des Gesetzes im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung ist unglaublich verwirrend. Das ist wohl auch Absicht der Regierung. Einerseits wird es als Lösung der gegenwärtigen Krise präsentiert, als vermeintlicher Zugang zu medizinischer Versorgung für jedermann (natürlich entstand die Krise erst als Resultat der Regierungspolitik). Andererseits beruht dieses Gesundheitssystem auf dem Modell des Systems in Deutschland, daher ist es nicht im geringsten frei bzw. zugänglich für alle Arten von Bedürfnissen. Ilektra erklärt:

Zur selben Zeit erhält die Mehrheit medizinische Versorgung – immer noch nicht jeder einzelne. Allerdings wird dies ein Gesundheitssystem, welches, wie das System in Deutschland, auch teurer wird. Es wird privatisiert, folglich besitzt jede Art von Versorgung eine Obergrenze. Wenn man zum Beispiel eine Operation und im Anschluss vier Tage Erholung benötigt, aber laut dem neuen System aus finanziellen Gründen nur drei Tage erlaubt werden, dann bekommt man auch nur drei Tage erstattet oder das Krankenhaus muss ein Defizit ausgleichen.

Stellen Sie sich das vor: Das Gehalt eines Arztes könnte von diesen Dingen abhängen. Auch wenn Zugang besteht, belegen sie einzelne Leistungen mit einem bestimmten Preis. Im Zuge dessen könnte einem Patienten ein Bedarfsmittel verwehrt werden.

Es ist ein perfides Vorgehen, dabei hat es den Anschein, als ob Gesundheitswesen erweitert wird. Doch das Gegenteil ist der Fall: sie reduzieren das Ganze. Die Regierung legt die Preise gemeinsam mit den Krankenhäusern und dem privaten Sektor fest. Das bedeutet: Egal welche Art von Bedarf man hat, es wird festgesetzte Preise geben und mehr kann man nicht erhalten, selbst wenn man es dringend benötigt.

Einige Ärzte protestieren dagegen, aber das Gesetz ist ziemlich kompliziert. In unserer Solidaritätsklinik mussten wir beispielsweise zahlreiche neue Gruppen formen, um das neue Gesetz zu untersuchen und zu begreifen, was es eigentlich ist und was damit erreicht werden soll. Es ist wirklich nicht einfach zu verstehen und wir mussten uns lange damit beschäftigen. So viele Menschen wissen immer noch nicht darüber Bescheid.


Eine andere Herausforderung für die Solidaritätskliniken ist die Form der Versorgung und wie diese bereitgestellt werden soll. Beruhend auf ihrer Praxiserfahrung haben die Solidaritätskliniken eine neue Vision von medizinischer Versorgung und Gesundheit im Allgemeinen entwickelt.

Viele Kliniken nutzen eine horizontale Form der Organisation. Die Belegschaft und die Patienten kommen in regelmässigen Treffen (an denen jeder teilnehmen darf) zusammen. Dabei wird versucht, die Kluft zwischen Experten und Laien zu überwinden. Sie akzeptieren kein Geld vom Staat und stehen in keinster Verbindung mit selbigem. Die gesamten Finanzen kommen von unabhängigen Spenden. Die Solidaritätskliniken sind auch unabhängig von jeglichen politischen Gruppen und Parteien.

Wir wollen und glauben an Selbstorganisation, denn damit erreichen wir mehr als bloss das Angebot einer Dienstleistung. Was wir selbst organisieren, ist etwas Neues. Wir organisieren die Solidaritätskliniken mit der Hilfe von assemblies. Diese Form von offener Versammlung gibt es auf jeder Ebene: In den Kliniken selbst und auch auf nationaler Ebene. Das ist eine neue Erfahrung und wir möchten so auf jeden Fall fortfahren.

Selbstorganisation gibt uns die Möglichkeit eine andere Art von Gesundheitsversorgung zu verwirklichen. Zum Beispiel haben wir in unserer Klinik eine Gruppe für Naturheilkunde und wir bemühen uns die Beziehung zwischen medizinischen Experten und denen, die ihre Rechte nicht kennen oder diese Expertise nicht teilen, zu verändern. Wir versuchen diese Arten von Beziehungen auf ganz konkrete Art und Weise zu erneuern.

Durch die Selbstorganisation finden wir neue Wege und verändern die bisherige Vorstellung von Experten, Gesundheitswesen und wie wir zwischen Medizinern und Apothekern vermitteln. Natürlich gibt es noch weitaus mehr Fragen, die wir bisher noch nicht beantworten konnten. Aber wir möchten und werden daran arbeiten – und zwar gemeinsam. Das unterscheidet uns immens vom öffentlichen Gesundheitswesen.


Es ist unklar, was Syriza nach seiner Wiederwahl in Bezug auf Solidaritätskliniken unternehmen wird. Ich persönlich hoffe, dass sich die Partei ein Beispiel an der Regierung Venezuelas und deren Gemeinderäten und Kommunen nehmen wird und derartige Grassroots-Bewegungen unterstützt.

Marina Sitrin
berlinergazette.de

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