Über Google Maps und Erinnerungsleistung Daten und Orte: Daten

Gesellschaft

Lange Zeit habe ich Google Maps so wie die meisten benutzt. Wenn ich mich irgendwo nicht auskannte, tippte ich auf das Kartensymbol und schaltete GPS ein.

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Daten und Orte: Daten. Foto: John F. Williams (PD)

20. September 2018
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Es war ein Versehen, dass ich irgendwann meine timeline entdeckte. Ich wollte gerade nachschauen, wie ich am besten zu der neuen Wohnung eines Freundes kam, als ich – wie Andreas Bernard formuliert – „in tiefer liegende, vom alltäglichen Gebrauch kaum berührte Schichten des Betriebssystems“ (1) vorstiess. Die Formulierung ist gut gewählt, da sie ganz offensichtlich auf den Unterschied zwischen benutzerfreundlicher Oberfläche und betriebsinterner Hermetik anspielt. Der Trick dabei ist, dem User das Gefühl der Kontrolle zu geben: „Schützen Sie Ihre Privatsphäre“, fordert Google auf und weist uns freundlicherweise den Pfad.

Produktdesign stellt in der Tat eine Souveränitäts-Simulation dar: „Es sichert die Kompetenzgrenzen der einzelnen, indem es dem Subjekt Verfahren und Gesten an die Hand gibt, im Ozean seiner Inkompetenz als Könner zu navigieren.“ (2) In der Rede von den Tiefenschichten des Betriebssystems kann man sogar einen Anklang an Freuds Instanzenmodell der Psyche heraushören: Dann wäre das Display die sichtbare Spitze des Eisbergs und die Technologie der unter dem Wasser verborgene Teil. Dies würde auch die Kaskade ängstlicher Fragen erklären, die der Anblick meines Bewegungsprofils im ersten Moment bei mir auslöste: Wo habe ich mich herumgetrieben? Wer weiss davon? Und seit wann läuft das Ganze schon so?

Zuerst aber wurde ich aus der Karte überhaupt gar nicht schlau; ich begriff nicht, um was es sich bei den roten Punkten handeln sollte. Dann klickte ich auf den Link mit den 189 Orten, die ich laut Standortverlauf besucht hatte, und sah in der unteren Leiste meine Adresse, meine Arbeitsstelle, meinen Hausarzt, die Stadtteilbibliothek, den Penny-Discounter um die Ecke, S- und U-Bahn-Stationen, an denen ich ein- oder ausgestiegen war, Lieblingsimbiss und -buchhandlung. Ich erkannte nicht nur das stabile Gerüst meines Alltags wieder.

Sogar einzelne Wegstrecken, die irgendwo ihren Anfang nahmen, um dann unvermittelt abzubrechen, konnte ich zurückverfolgen, ganze Tage und Nächte rekonstruieren, Museums- und Konzertbesuche, die ich unternommen, Restaurants und Bars, in denen ich mich aufgehalten, Clubs und Discos, deren Namen ich schon wieder vergessen hatte, selbst Urlaube, die über zwei Jahre zurücklagen, mithilfe der Zeitachse zum Leben erwecken – das Bewegungsprofil war wie ein Tagebuch (ein Tagebuch mit weissen Blättern zuweilen, denn an manchen Tagen waren überhaupt keine Bewegungen zu sehen, als hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht existiert). Ist mein Leben bei Google besser aufgehoben?

Glaubt man einigen Zeitdiagnostikern, ist es um das Gedächtnis schlecht bestellt, gerade wenn es um Bildung geht. Andreas Bernard bemerkt, dass die Rede von einem „wandelnden Lexikon“ heute als Kompliment für einen allseits gebildeten Menschen sinnlos geworden sei: Es treffe inzwischen auf jede Person mit Smartphone zu (3). Leopold Federmair gibt dazu eine interessante Beobachtung aus dem Uni-Alltag wieder: „Neulich sprach ich mit einer Gruppe von Studenten über japanische Volkshelden. Eine – übrigens recht begabte und lernfreudige – Studentin aus Okayama erwähnte die Astronautin Chiaki Mukai. Ich fragte sie, wie lange das Ereignis her sei. Antwort: „Keine Ahnung, das war lange vor meiner Geburt.“

Reflexhaft begann sie, auf der Tastatur ihres elektronischen Lexikons zu tippen, das mehrere Sprachwörterbücher und eine Sammlung von sogenanntem Weltwissen enthält. Ich bat die Studentin, nicht nach der Jahreszahl zu suchen. Danach ergriff ihre Nebenfrau das Wort, und während diese noch sprach, hellte sich das Gesicht der Studentin aus Okayama auf. Ich konnte förmlich sehen, wie sie sich erinnerte. Aber nicht nur das, ich sah die Verwunderung der Studentin über die Tatsache, dass sie sich jetzt erinnerte.

Chiaki Mukai war 1994 mit einer US-amerikanischen Mission in den Weltraum geflogen. Die Studentin war sich deshalb so sicher, weil ihre 1994, zwei Jahre nach ihr selbst, geborene Schwester den Vornamen eben jener Volksheldin erhalten hatte. Um das schläfrig gewordene Erinnerungsvermögen zu aktivieren, brauchte es in diesem Fall nicht viel; es genügte, den Deckel des mobilen Wissenscomputers zu schliessen. Dennoch: Sollten die Datensuchreflexe überhandnehmen, kann man sich vorstellen, dass das persönliche Erinnerungsvermögen noch mehr schwinden und schliesslich verschwinden wird.“ (4)

Man muss die Einschätzung, zu der Federmair gelangt, nicht unbedingt teilen, um Ansätze dieses Gedächtnisschwunds bei sich und anderen registrieren zu können. Die Klage über ein immer schlechter werdendes Gedächtnis ist aber kein neues Phänomen, das erst heute, im digitalen Zeitalter, virulent werden würde. Es hat sie schon zu Zeiten von Johannes Gutenberg gegeben. „Die Sorge um das Gedächtnis ist modern“, schreibt Manfred Schneider. „Sie ist nur zu offensichtlich ein Effekt des neuen technischen Speichers Druckschrift; und diese Sorge sollte sich mit der Erfindung der vielen neuen Speicher nur verstärken.“ (5)

Die Dysfunktionalisierung der Erinnerung scheint also in einem Zusammenhang mit der seit 1500 und erst recht seit 1850 rasant wachsenden Zahl und Leistungskraft technischer Speicher zu stehen. Die ungeheuren Datenmassen machten es inzwischen unmöglich, „einen alten Begriff von Gedächtnis und Erinnerung beizubehalten.“ (6)

Erinnerungsleistungen können heute auf eine Weise ausgelagert werden, die es in der Geschichte so noch nie gab; wer ein Smartphone hat, muss sich nicht mehr viel merken. (7) Natürlich ist mein Leben deshalb bei Google nicht besser aufgehoben, nein, das bestimmt nicht. Aber als ich damals über meine Zeitachse stolperte wie Marcel über den Pflasterstein im Hof der Guermantes (ein gewagter Vergleich), war ich von den Möglichkeiten dieser raumzeitlichen Mnemotechnik noch ganz fasziniert: ein kompletter Persönlichkeits-Atlas, Topographien meiner Vorlieben und Einstellungen, meiner Sehnsüchte und Träume schwebten mir vor.

Wenn es irgendwo in den geheimdienstlichen Archiven eine technische Dublette meiner privaten und beruflichen Existenz geben sollte, dachte ich, muss es doch möglich sein, aus dieser Datenmenge, die ich dem Netz tagtäglich zur Verfügung stelle, meiner digitalen DNA, die Essenz herauszudestillieren; mir anhand der Websites, die ich besucht, den Videos, die ich mir angesehen, die Musik, die ich mir angehört, die Einkäufe, die ich getätigt, die Emails, SMS und WhatsApp-Nachrichten, die ich Freunden, Bekannten und Arbeitskollegen geschrieben habe, aus dem ganzen Zeug eben, das ein Leben ausmacht, das nach Selbstverwirklichung drängt, eine Biographie mit all seinen Auf-, Um- und Abbrüchen zu erstellen – gewissermassen als Entschädigung dafür, dass ich artig mitspiele, dass ich weder betrüge noch ausraste bei diesem Spiel, das man Kapitalismus nennt …

Keine Sorge, mein Enthusiasmus hat sich schnell wieder gelegt. „Kein Unternehmen, kein Staat, keine Universität, die solche Kopien verwalten, interessiert sich für den einstigen ,ganzen Menschenʻ.“ (8) Die Überwachungsgesellschaft ist einzig an den Störern interessiert.

Über Google Earth bleibt ansonsten wenig zu sagen, ausser dieser öden Wahrheit vielleicht: „Vom Himmel aus verkaufen sich Häuser und Grundstücke leichter; vom Himmel aus lassen sich Verkehrsströme effektiver lenken; vom Himmel aus lassen sich Besitztümer besser kontrollieren. Von Satelliten gesteuert gelangt der Nomade des Verkehrs und der kommerziellen Räume leichter ans Ziel seiner Wünsche: Wo kann ich rasch eine Pizza bestellen? Wo gibt es das preiswerteste Benzin? Ein Hybridbild aus Foto und Karte weist mich in die richtige Richtung.“ (9)

M. A. Sieber

Fussnoten:

(1) Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur. 2. Aufl. Frankfurt am Main 2017, S. 48.

(2) Peter Sloterdijk: „Das Zeug zur Macht“, in: Ders./Sven Voelker: Der Welt über die Strasse helfen. Designstudien im Anschluss an eine philosophische Überlegung. München 2010, S. 7-25, hier: 12. Die Freiwilligkeit der Selbstverortung auf dem Smartphone muss insofern relativiert werden, „als sich die Effekte der Lokalisierungsfunktionen (…) oft in den Tiefenschichten des Betriebssystems verbergen, unsichtbar für den alltäglichen Gebrauch. Es ist mit Aufwand verbunden und schliesst die Nutzer von flächendeckend etablierten Infrastrukturen aus, wenn sie die Ortungsfunktion ihres Mobiltelefons abstellen; Freiwilligkeit und Notwendigkeit der Selbstlokalisierung gehen also fortwährend ineinander über.“ (Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes a.a.O., S. 84.)

(3) Andreas Bernard: „Das totale Archiv. Zur Funktion des Nicht-Wissens in der digitalen Kultur“, in: Merkur 70 (2016) H. 801, S. 5-17, hier: 14f.

(4) Leopold Federmair: „Erinnern und Vergessen im digitalen Zeitalter“, in: Lichtungen. Zeitschrift für Literatur, Kunst und Zeitkritik 139 (2014) 35, S. 128–138, hier: 129.

(5) Manfred Schneider: „Liturgien der Erinnerung, Techniken des Vergessens“, in: Merkur 41 (1987) H. 8, S. 676-686, hier: 680.

(6) Schneider a.a.O., S. 684.

(7) Der Preis für diese Entlastungen, sicher durch den sozialen Raum navigiert zu werden, sekundenschnell alle Informationen des Augenblicks und auf das gesamte Wissen der Menschheit zur Hand zu haben, ist hoch, doch die panoptische Kontrolle stört den User nicht mehr. „Die millionen Dubletten seiner Gesten und Gänge, die in den irdischen Datenspeichern verwaltet werden, können sein Wohlgefühl nicht trüben. Ein Hochgefühl ergreift ihn zumal dann, wenn er in irgendeiner technischen Wahrnehmungswelt auftaucht, und die Kopie seines Erscheinens bewahrt er sich auf, um sie seinen Kindern und Enkeln zu zeigen. Quält ihn für eine Sekunde die Langeweile, dann schreibt er eine SMS, und einen Augenblick später ist die Antwort da. Er geht in die U-Bahn oder in das nächste Kaufhaus, und sein Bild auf den Monitoren grüsst ihn und versichert ihm, dass es ihn gibt. Kommt er nach Hause, dann genügen zwei Mausklicks und er erscheint als Videobild auf dem Screen seiner Geliebten. Er wird erblickt, und von liebenden Augen gesehen zu werden, das ist das Leben.“ (Manfred Schneider: „Panoptikum im 21. Jahrhundert. Von Bentham bis Google Earth“, in: medias in res. Medienkulturwissenschaftliche Positionen. Hrsg. v. Till A. Heilmann, Anne von der Heiden und Anna Tuschling. Bielefeld 2011, S. 185-203, hier: 202) Andreas Bernard kommt zu einer ähnlichen Einschätzung, wenn er schreibt: „Das ,als elektronische Fessel gestaltete Handyʻ – im Jahr 2000 eine Schreckensvision – ist heute banale Realität, aber diese Fessel wird nicht als einschneidend empfunden, sondern als befreiend, sozial und identitätsstiftend.“ (Andreas Bernard: Komplizen des Erkennungsdienstes a.a.O., S. 83) Dieser Mentalitätswandel hat sich Bernard zufolge vor allem im Modus des Spiels vollzogen (Foursquare, Pokémon Go, Ingress).

(8) Manfred Schneider: „Panoptikum im 21. Jahrhundert“ a.a.O., S. 201.

(9) Schneider a.a.O., S. 199.