Gentrifizierung in Zürich Wohnungsnot im Zeitalter der urbanen Wende

Gesellschaft

Die Aufwertung des Langstrassenquartiers und etwas später der Weststrasse und ihrer Umgebung mit der Vertreibung von wenig zahlungskräftigen Bewohnerinnen sind nur die bekanntesten Beispiele der Umstrukturierung von Zürich. Diese Entwicklung ist kein Schweizer Spezifikum, sondern Teil eines globalen Prozesses, der sich in Städten rund um den Globus vollzieht.

Gentrifizierung in Zürich West - Blick vom Prime Tower auf das Nagelhaus an der Turbinenstrasse 12-14, mit dem Netzwerk des Künstlers Pierre Haubensak.
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Gentrifizierung in Zürich West - Blick vom Prime Tower auf das Nagelhaus an der Turbinenstrasse 12-14, mit dem Netzwerk des Künstlers Pierre Haubensak. Foto: Pascale.gmuer (CC BY-SA 3.0 unported - cropped)

4. Oktober 2015
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Das ursprüngliche Phänomen der Verstädterung im 19. Jahrhundert war eine Folge der Industrialisierung. Heutzutage jedoch haben das Wachstum der städtischen Bevölkerung und die gegenwärtige Wohnungsnot in den Metropolen eine andere Ursache, nämlich die seit den 1970er Jahren andauernde strukturelle Krise der kapitalistischen Produktionsweise. Diese Krise findet ihren Ausdruck in sinkenden Profitraten in den produktiven Sektoren, so dass das Kapital sich dort nicht mehr in ausreichendem Masse verwerten kann und deshalb in den Finanz- und Immobiliensektor drängt.

Dieser Prozess bewirkt tiefgreifende Veränderungen in der Textur der urbanen Zentren des Kapitalismus, von denen die Verschärfung der sogenannten Gentrifizierung, also die Verdrängung der weniger Wohlhabenden aus den städtischen Zentren, die wohl am deutlichsten sichtbare ist. Hinter diesen Verdrängungsprozessen stehen nicht Invasionen von «global agierenden Unternehmen und deren hochbezahltem Personal» (O-Ton «Wem gehört Zürich?») oder die hippen Kreativen der Kulturindustrie. Unternehmen und ihr Personal lassen sich zwar aus rationalen Gründen in den urbanen Zentren nieder und verändern das städtische Gefüge, doch sie sind nicht der Ursprung der Verdrängung. Sie sind lediglich der Schmierstoff der Gentrifizierung, die kulturellen Zwischennutzer und menschlichen Standortfaktoren der Weltmetropolen.

Insofern ist es nicht das Tun von einzelnen Schlimmfingern, sondern Konsequenz der weltweiten kapitalistischen Dynamik, dass der urbane Raum mehr und mehr nach Massgaben der Profitmaximierung umgestaltet wird. In Zürich manifestiert sich dieser systemische Zwang in der Aufwertung ganzer Quartiere, dem rasanten Anstieg der Mieten, der Errichtung von Einkaufszentren und Bürokomplexen sowie dem Plattmachen billigen Wohnraums zwecks Neubau von Luxuswohnungen. Diese Veränderungen des urbanen Raumes mitsamt ihren katastrophalen sozialen Folgen als eine Form von Ausbeutung zu beschreiben, wäre dennoch falsch. Letztlich sind Mieter und Vermieter einfach Käufer und Verkäufer, während Ausbeutung etwas ist, das im Produktionsprozess stattfindet, also dort, wo Mehrwert geschaffen wird.

Von den Forderungen, die derzeit in den Mobilisierungen gegen die Stadtentwicklungspolitik in Zürich erhoben werden, ist die nach der Abschaffung des Mietverhältnisses noch die radikalste, doch sie verlagert nur das eigentliche Problem: Anstatt den Kern der kapitalistischen Produktionsweise und damit die Wertproduktion anzugreifen, zielt sie letztlich objektiv bloss auf eine Umverteilung des geschaffenen Werts. Was den Vermieterinnen genommen würde, würde sich vermittelt über die niedrigeren Reproduktionskosten der Arbeitskraft und entsprechenden Lohnsenkungen auf die übrigen Kapitale verteilen – wenn denn der Kampf nicht die gesamten Lebensbedingungen der Proleterisierten zum Inhalt hat.

Die Sozialromantik einer vermeintlichen Stadt der Marginalisierten verschränkt sich mit dem offenkundigen Widerspruch, dass einerseits zum Sturm auf die «Stadt der Kapitalinteressen» geblasen, zugleich aber bezahlbarer Raum für Gewerbe und Kultur gefordert wird. Warum eine kapitalistische Gesellschaft, die sich dem Schutz des Privateigentums verschrieben hat, gerade einer bestimmten Klasse von Warenbesitzern, nämlich denen mit Grund und Boden, ihr Geschäft vermasseln sollte, bleibt unklar. Umgekehrt; soll dieser moralische Appell mehr als ein frommer Wunsch sein, dann müsste dahinter eine gesellschaftliche Stärke stehen. Dann stellt sich aber die Frage, warum man dann nicht gleich die kapitalistische Gesamtscheisse samt Warenproduktion und Ausbeutung zum Kampfterrain macht.

Seit den 1970er Jahren sind neue Kampfformen rund um die Wohnungsfrage entstanden. So wurde beispielsweise, eingebettet in eine Bewegung um die Verbesserung der Lebensbedingungen der Proletarisierten, in Italien der Begriff der «autoriduzione» entwickelt. Dieser bezeichnet die eigenmächtige Mietkürzung, fand aber unter anderem auch in den Kämpfen um Elektrizität und öffentliche Verkehrsmittel Verwendung. An solche Praxen wird deutlich, wie die Kämpfe aus den Fabriken in die sonstigen Lebensbereiche übergehen und dort im Kampf um die Wiederaneignung der eigenen Reproduktion neue Organisationsformen ermöglichen.

Diese neuen Formen der Organisierung zeigen sich längst in einem globalen Rahmen. Die Aufstände der letzten Jahre, die Teil eines neuen globalen Kampfzyklus sind, hatten ihren Ursprung teilweise auch in Problemen der Urbanisierung. So markierten beispielsweise die Pläne zur Überbauung des Gezi-Parks in Istanbul und die Fahrpreiserhöhungen in Brasilien den Beginn von zwei der grössten Mobilisierungen dieses Jahres. Die Kämpfe in der Türkei und Brasilien verdeutlichen die allgemeine Tendenz dieses neuen Kampfzyklus: Die Fabrik als Verbindungsort der Proletarisierten in den Metropolen wird tendenziell durch Plätze in den urbanen Zentren abgelöst. Der urbane Raum wird zum Ort der Selbstorganisierung und ermöglicht einen einfachen Zugang für verschiedene Segmente der Klasse. Die Radikalität mit welcher der bewaffnete Arm des Staates Slums und Wohnungen von Südafrika über Brasilien bis Berlin trotz breitem Widerstand räumt, zeigen wie eng der Handlungsspielraum fürs Kapital geworden ist.

Wenn wir die Prozesse, die in fast allen urbanen Zentren zu beobachten sind, im Kontext der Krise verstehen, dann dürfen wir uns nicht auf die Versprechen der Politik verlassen, sondern müssen von den Bewegungen lernen, die sich rund um den Erdball gegen Verdrängung und Vertreibung aus den Zentren der Metropolen zur Wehr setzen. In den urbanen Bewegungen der letzten Jahre schlummert für die Proletarisierten das Potential, nebst der Frage um die Selbstermächtigung im Reproduktionsbereich auch den Gesamtzusammenhang namens Kapitalismus ins Blickfeld zu kriegen. Anders wird das Problem von Miete, Verdrängung und Vertreibung letztendlich nicht zu lösen sein.

eiszeit