Politische Verantwortung in einer hyperhistorischen Zukunft Aus dem Lande der Inforgs

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Befinden wir uns nach den Revolutionen der Physik (Kopernikus), Biologie (Darwin) und Psychologie (Freud) nun inmitten einer vierten Revolution – einer Revolution im Zeichen der Digitalisierung, die unser Verständnis von politischer Verantwortung sowie unser Verhältnis zu Commons von Grund auf verändert? Die Philosophin und Berliner Gazette-Autorin Janina Sombetzki denkt nach.

Politische Verantwortung in einer hyperhistorischen Zukunft.
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Politische Verantwortung in einer hyperhistorischen Zukunft. Foto: Mario Sixtus (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

27. August 2015
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Ich bin an einer Grenze geboren. Ich bin nicht ganz Fisch und nicht ganz Fleisch, vielleicht noch Generation X oder bereits Generation Y. Denn den Übergang aus einer historischen in eine hyperhistorische Ära, in der wir Informations- und Kommunikationstechnologien nicht nur nutzen, sondern von ihnen vollständig abhängig sein werden, erleben dem italienischen Informationsethiker Luciano Floridi zufolge massgeblich zwei Generationen: die Kinder der Generation X, geboren in der Zeit von den frühen 1960ern bis in die frühen 1980er, und die Generation Y, die sogenannte Milleniumsgeneration des Zeitraums zwischen den frühen 1980ern und dem Jahrtausendwechsel.

Mit der Generation Z bahnt sich nun das hyperhistorische Zeitalter an, denn mit ihr wird die Grenze zwischen online und offline letztlich gänzlich verschwinden. Für diese Generation Z präsentiert sich die Welt seit dem ersten Augenaufschlag wireless, sie sind sozusagen nicht nur permanent online sondern regelrecht onlife – sie führen ein Leben online und haben eine Online-Identität.

Doch leider werden mit dieser Entwicklung Netzwerke, Daten, Informationen und Bits nicht automatisch zu den Gemeingütern, zu den Commons, unserer Gesellschaften aufsteigen. Nicht alle Kinder der Generation Z, geboren nach dem Jahr 2000, werden sich, Facebook und Twitter sei Dank, eine personale Identität für ein Leben in der Infosphäre (das, was wir in Kürze mit Realität meinen, die gesamte informationale Umwelt also) schaffen können.

Verschmelzung von „informational“ und „Organismus“

Wenn man es sich genau anschaut, werden nicht alle Kinder der Generation Z fit für eine hyperhistorische Zukunft sein, sondern nur die bestimmter Gesellschaften. Auch Floridi sieht den neuen Bruch, der sich zwischen den Inforgs (sein Kunstwort für die Verschmelzung von „informational“ und „Organismus“) der Generation Z, bei denen eine erfolgreiche Adaption an ein Leben in der Infosphäre stattgefunden hat, und den sogenannten ‚informationalen Slums', in denen die bemitleidenswerten Seelen darben, die weder Facebook noch Twitter kennen, auftut.

Die am Horizont von Floridis historischen Gesellschaften drohende Gefahr einer informationalen Fragmentierung ganzer Kulturen sollte wohl unbedingt diskutiert werden. Sie im Gegenteil mit der lapidaren Bemerkung abzutun, dass wir doch nur den gegenwärtigen Bewohner_innen der Infosphäre schaden, sollten wir versucht sein, ihrer Evolution zu widerstehen, ist zu einfach und wird dem Problem nicht gerecht.

Dabei möchte ich den Beobachtungen wie denen Floridis und anderer die informations- und kommunikationstechnologische Entwicklung unserer Gesellschaften betreffend gar nicht grundsätzlich widersprechen. Was mich allerdings stört, ist das harmlose deskriptiv-prognostische Licht, in das Überlegungen wie diese leider nur allzu oft gestellt sind und in dessen Schatten ich einen verborgenen Fatalismus befürchte.

Naiver Fatalismus

Eingängige Bilder und leicht verständliche Vokabeln wie die von der hyperhistorischen Gesellschaft und ihren Mitgliedern, den Inforgs, lassen die Veränderungen, die unsere Gesellschaften erleben, wie ein Naturgesetz erscheinen, dem man nicht allzu viel entgegenzusetzen hat, nicht wie Herausforderungen, denen man sich aktiv stellen muss.

Ein solcher naiver Fatalismus die gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Wege betreffend, die wir einschlagen, ist natürlich nicht erst seit Floridi im Gange. Denker_innen und Autor_innen wie Floridi geben Floskeln wie „Man kann sich Facebook nicht widersetzen. Denn bald wird's jeder haben und dann kommt man gar nicht mehr drum herum“ nur ein wissenschaftliches oder zumindest pseudo-wissenschaftliches Gewand.

Zugegeben – ich bin gerne eine Grenzgängerin und zwar nicht nur als unsicheres Mitglied der Milleniumsgeneration Y, die sich mitten auf der schwankenden Hängebrücke zwischen der um ihren Anschluss besorgten Generation X auf der einen und der bereits irgendwo in onlifen Gefilden schwebenden Generation Z auf der anderen Seite aufhält. Unwillkürlich erscheint Nietzsches Mensch vor unserem inneren Auge, das „Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde.“ (Also sprach Zarathustra, 4. Abschnitt der Vorreden)

Auch als Philosophin verstehe ich mich durchaus als qua Berufsprofil kritische Zeitzeugin auf dem Weg in eine hyperhistorische Zukunft, die sich gerne an der Peripherie des Common sense und damit in reflektierter Distanz zum ach so gesunden Menschenverstand verortet.

Mitverantwortung für die politische Gemeinschaft

Aber: Mein Verweis auf Nietzsche kommt nicht von ungefähr. In der Tat verstehe ich uns Menschen als in ihrem tiefsten Wesenskern kritische, als alles in Frage stellende, Wesen. Nicht nur die Philosoph_innen unter uns und noch nicht einmal nur die Kinder der Generation Y tragen Verantwortung für die Beeinflussung unserer kleineren und grösseren gesellschaftlichen Evolutionen.

Nach meinem Verständnis handelt es sich bei der politischen Verantwortung um eine Mitverantwortung für die politische Gemeinschaft, die in zwei Verantwortlichkeiten zerfällt. Zum einen trägt die politische Akteurin bzw. der politische Akteur (Bürger_innen, Politiker_innen) eine volle Verantwortung für die politische Gemeinschaft, indem sie oder er sich vor anderen Menschen hinsichtlich des Politischen potenziell erklärungsfähig zeigt. Die bzw. der Einzelne ist in politischem Sinne voll verantwortlich, indem sie und er in Bezug auf die eigenen Handlungen und Einstellungen innerhalb der politischen Sphäre (d.h. hinsichtlich politischer Normen) potenziell Rede und Antwort stehen kann.

Dies geschieht in vier Schritten: Bewusstwerdung, Reflexion, Stellungnahme und Konsequenzen ziehen. Hiermit lehne ich mich an Hannah Arendts und Iris Marion Youngs Verständnis politischer Verantwortungszuschreibung an. Die zweite Verantwortlichkeit, in die sich neben der vollen Verantwortung für das politische Gemeinwesen die politische Mitverantwortung differenziert, ist eine partielle Rollenverantwortung der politischen Akteure. Alle Teilverantwortlichkeiten, die in mehr oder minder eindeutig bestimmte politische Rollenbilder integriert sind, beziehen sich auf die Mitgestaltung der politischen Gemeinschaft und sind nur unter Rekurs darauf letztlich verständlich.

Bereitstellung von Commons

Hieraus wird deutlich, warum ich die politische Verantwortung als eine Mitverantwortung verstehe, die in eine volle Verantwortung – potenzielle öffentliche Erklärungsfähigkeit für die politische Gemeinschaft – und in eine partielle Rollenverantwortung zerfällt.

Das Besondere der politischen Verantwortung ist erstens, dass sie über die Summe der partiellen Rollenverantwortlichkeiten hinausgeht, denn der Verantwortungsgegenstand „politische Gemeinschaft“ ist, wie ich denke, ein kumulatives Verantwortungsobjekt. Zweitens hat jede_r Einzelne in ihrer und seiner politischen Verantwortung auch eine volle Verantwortung für das politische Gemeinwesen. Sehr viel ausführlicher äussere ich mich zur politischen Verantwortung in meiner Dissertation Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe.Eine Drei-Ebenen-Analyse.

In unserer politischen Verantwortung liegt es also auch, sich für die Bereitstellung von Commons, also Gemeinschaftsgütern wie Netzwerke, Daten, Informationen und Bits einzusetzen – uneingeschränkt durch etwaige Unkereien über Generationengrenzen, geschichtliche Brüche und die Untiefen der Infosphäre. Mit einem lächerlichen „Google ist die Zukunft. Das ist halt so“ kann man sich dieser Verantwortung nicht entziehen, denn noch sind die ‚informationalen Slums' erst im Entstehen und selbst wenn sie an der einen oder anderen historisch-hyperhistorischen Sollbruchstelle, in dem Abgrund zwischen und unter Generation X, Y und Z, bereits munter wachsen, heisst das noch lange nicht, dass man nichts dagegen unternehmen kann.

Zwischen Generation X und Generation Y

Abschliessend sei auf einen dringlichen Gap hingewiesen, der sich direkt vor unseren Augen auftut, nämlich auf die Kluft zwischen Generation X und Generation Y bzw. zwischen Generation Y und allen vorigen. In einer alternden Gesellschaft gehört insbesondere die Bereitstellung der genannten Un|Commons für unsere älteren und ältesten Mitmenschen ganz oben auf die Agenda, denn für viele unter ihnen sprechen Computer immer noch eine mehr bzw. weniger als undeutliche Sprache.

Dass Floridi und andere diese nicht inter- sondern intra-kulturellen ‚informationalen Slums', in die wir unsere älteren und ältesten Mitmenschen auszuwandern zumindest nicht abhalten, nicht thematisiert, wird vielleicht dadurch erklärt, dass er sich selbst der Generation X zuordnet. Eine Rechtfertigung ist es nicht.

Wir leben noch nicht im Lande bzw. in der Sphäre der Inforgs, sondern in absehbarer Zukunft zunächst in (der) Gesellschaft der Oldorgs (old organisms, wenn ich sie in Anlehnung an Floridis Inforgs so nennen darf). Dass die eine Welt die andere nicht ausschliesst, liegt nicht nur in unserer politischen, sondern auch in unserer sozialen und moralischen Verantwortung.

Janina Sombetzki
berlinergazette.de

Dieser Artikel steht unter einer Creative Commons (CC BY-NC-ND 3.0) Lizenz.