War Sorel für die Heraufkunft des Faschismus wirklich massgebend? Die Entstehung der faschistischen Ideologie

Sachliteratur

Sternhell beweist richtig, dass Mussolini mit Sorel den Abscheu vor dem linken Parlamentarismus teilte. Er vernachlässigt aber Mussolinis Parteinahme für den Imperialismus von Anfang an.

Besuch von Benito Mussolini in Aidussina am 9. Oktober 1940.
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Besuch von Benito Mussolini in Aidussina am 9. Oktober 1940. Foto: Miran Rijavec (CC BY 2.0 cropped)

3. November 2015
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1999 kam in deutscher Übersetzung ein Buch heraus, das einiges Aufsehen erregte. Zeev Sternhell unternahm in Die Entstehung der faschistischen Ideologie den Versuch, den italienischen Faschismus unmittelbar aus dem Einfluss Sorels und seiner Nachfolger abzuleiten. Die zugrundeliegende Erstfassung war schon 1989 auf Französisch herausgekommen. Sorel, so Sternhell, ging aus von einer scharfen Ablehnung des gesamten parlamentarischen Sozialismus. Dieser würde, liesse man ihn gewähren, die Grenzen gegenüber dem Proletariat so verhüllen, dass am Ende keinerlei Kampfgeist mehr übrigbleibe. Klassenkampf bei nicht mehr sichtbarer Gegnerschaft: unmöglich! Daher die Lobpreisung der „Gewalt“ - die damals noch einen präzisen Begriffsinhalt hatte. Sorel unterschied den politischen Generalstreik und den proletarischen - beide diejenigen Formen des Angriffs auf das verbürgerlichte Sozialistentum im Parlament, die im Prinzip ohne das Blutvergiessen der uns bekannten Revolutionen auskommen sollen.

Den politischen Generalstreik, den bei uns Lafontaine immer wieder fordert und verehrt, verabscheute der französische Denker. Nach dem Erfolg eines solchen sässen doch immer wieder die gleichen Bonzen oben wie vorher auch. Dagegen sollte der proletarische Generalstreik wirklichen Umsturz herbeiführen. Kurzgesagt: Der Klasse der Bourgeoisie sollte der Angriff der Proletarier gelten, nicht aber ihrer Wirtschaftsweise. Dieser schrieb Sorel höchste Wirksamkeit zu und damit die Kraft, einen Reichtum zu schaffen, den das siegreiche Proletariat sich am Ende aneignen könne.

Diese beiden Eckpunkte der Lehre hat Mussolini zweifellos von Sorel übernommen, wie er auch ausdrücklich bezeugt. Reicht das aber aus, die Gesamterscheinung des italienischen Faschismus ausreichend zu erklären?

Einige Einwände

1. Zunächst, was Sternhell auch offen zugibt, kann die Herleitung faschistischen Denkens aus Sorel nur und ausschliesslich für Italien und Frankreich gelten. In Deutschland wurde Sorels „Über die Gewalt“ erst 1926 vollständig übersetzt, wenn Carl Schmidt und Walter Benjamin sich auch schon vorher darauf bezogen. Von einem Einfluss auf breitere Lesermassen kann keine Rede sein. Ebenso wenig von deutschen Faschisten, die zu Beginn ihrer politischen Karriere - wie Mussolini selbst und einige der Mitgründer des Fascio - ursprünglich Mitglieder sozialistischer Organisationen gewesen wären. Folgten wir Sternhell konsequent, hätten Begriffe wie „Antifa” und „antifaschistischer Kampf” weltweit ihren Sinn verloren. Es gäbe dann in verschiedenen Ländern verschiedene Einzelausprägungen mehr oder weniger diktatorischer Herrschaft, die jeweils einzeln zu bekämpfen wären. Das widerspräche allen Theorien seit Zetkin und Thalheimer, die samt und sonders Faschismus als gesetzmässig auftretende Erscheinung in sämtlichen kapitalistischen Ländern ansahen. Was zu einer Widerlegung Sternhells natürlich nicht ausreicht.

2. Bei Sternhell erkennt Mussolini im Ersten Weltkrieg, dass das Proletariat für sich allein zu schwach ist, um den Krieg abzuwehren. Geschweige denn, um im Abwehrkampf zu siegen. Nach Sternhell hätte er in dieser Lage vor allem darauf achten müssen, den Gegensatz von Proletariat und anderen Schichten abgrenzend zu schärfen. Was die parlamentarische Linke angeht, tut er das auch. Nur die Hilfstruppen, auf die er sich dann ausserparlamentarisch stützt, sind einmal kriegsentlassene Soldaten ohne berufliche Aussichten. Insbesondere die „Arditi”, ehemalige Stosstruppanhänger, denen sich ehemalige Deserteure und sonstige Deklassierte anschliessen. Mit Recht nennt der deutsche Prä-Faschist Stein die Gruppe - um sich im Vaterland verständlich zu machen - Baltikumer. Mit diesen Hilfstruppen geht Mussolini zunächst gegen Fabrikbesetzer vor, dann in ganzen Gemeinden gegen sozialistische Gewerkschaftsführer, auch Bürgermeister, Parteiangehörige. Das heisst, er wendet sich offen und brutal gegen Streiks - ob politisch oder proletarisch - mit roher und blutiger Gewalt. Die Prügel und die Rizinusflaschen dieses Kampfes sind sprichwörtlich bekannt geworden. An dieser Stelle ist selbst der nominelle Bezug auf die Arbeiterklasse aufgegeben worden. Damit auch Sorels begrifflicher Ausgangspunkt.

3. Mussolini in seinem „Krieg” im Innern unterstützt zwar zunächst eigenständige Grundbesitzer und Fabrikunternehmer, das Gross-Kapital - die Monopole der marxistischen Faschismustheorie - folgen erst etwas später, als Mussolini seine Truppen zusammen hat. Trotzdem bleibt die Ausrichtung auf einen imperialistischen Vorstoss Italiens eine der ersten Wendungen Mussolinis nach der Abkehr vom Sozialismus. Er drängt ab 1914 auf Teilnahme am europäischen Kampf. Kaum war Italien 1915 in den Krieg eingetreten, schreibt Lenin in Der Kommunist über „Imperialismus und Sozialismus in Italien”:

„Die Frage ist kategorisch gestellt, und man kann nicht umhin, anzuerkennen, dass der europäische Krieg der Menschheit einen ungeheuren Nutzen gebracht hat, indem er viele Millionen Menschen vor die Frage gestellt hat: entweder mit dem Gewehr oder der Feder, direkt oder indirekt, in irgendeiner Form, die souveränen und überhaupt nationalen Interessen oder Forderungen oder Ansprüche der einheimischen Bourgeoisie verteidigen, und dann heisst es ihr Anhänger und Lakai zu sein;

Oder:

Jeglichen und insbesondere den bewaffneten Kampf um die Privilegien ausnutzen zur Entlarvung und zum Sturz jeder und vor allem der eigenen Regierung mit Hilfe revolutionärer Aktionen des international-solidarischen Proletariats. Eine Mitte gibt es dabei nicht, oder mit anderen Worten: der Versuch, dabei eine mittlere Stellung einzunehmen, bedeutet in Wirklichkeit den verkappten Übergang auf Seiten der imperialistischen Bourgeoisie” (überliefert in der Sammelschrift Gegen den Strom S. 268f)

Mussolini wird an dieser Stelle nicht namentlich erwähnt, aber es ist klar, dass er – mitgedacht - hier schon recht genau charakterisiert wird. Von diesem gesamteuropäischen Gesichtspunkt aus bildet Mussolinis Drängen zum Kriegseintritt nur eine Besonderheit innerhalb all der Parteien, die Lenin im Auge hat - vor allem der ursprünglich sozialistischen - zum Imperialismus.

4. Sternhell betreibt einen ungeheuren Aufwand, um nachzuweisen, welchen Einfluss Sorel auf italienische Journalisten und Gelehrte ausübte. Nur entsteht darüber oft der Eindruck, Bücher erzeugten Bücher - und diese bei Gelegenheit (aber mehr zwischendurch) auch Handlungen. Es fehlt an der Gewichtung der herangezogenen Autoren. So wird als einer der Gefolgsleute Sorels auch ein Professor Achille Loria herangezogen. Er verbreitet sich über die Unangreifbarkeit der kapitalistisch organisierten Wirtschaft. Dabei handelt es sich um den Loria, den Gramsci in seinen Gefängnisheften zum Ahnherrn des Lorianismus erhoben hat, einer vollkommen blutleeren Gelehrtenprosa ohne jeden Anwendungswert. Gramsci konnte offenbar damit rechnen, dass dieser Name auch ausserhalb seiner Zelle grosses Gähnen hervorrief. Wenn das aber so ist, wie sollte gerade ein solcher Loria Einfluss auf das Anschwellen des Faschismus bekommen, unter einer Menge junger Leute, von denen sicher nicht wenige viel lieber hauten als dass sie sich lesend erbauten.

5. Sternhell zeigt, wie Sorel mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs den Krieg selbst zur revolutionären Potenz erklärt. Unbestreitbar, dass Mussolini sich von daher ermutigt fühlte, diese Position für Italien zu übernehmen. Nietzsche musste dafür herhalten, ein heroisches Leben zu verherrlichen. Ganz klassenunabhängig - oder über den Begriff ganzer „proletarischer Nationen“ in perverser Umstülpung einer Idee vom Klassenkampf innerhalb einer bestehenden Nation. Dass man zu dieser Wendung ganz ohne Sorel kommen konnte, zeigen aber deutsche Stimmen aus dem Ersten Weltkrieg. Ein Professor Zimmermann brachte gleich 1916 eine Broschüre heraus, in der breite Zustimmung innerhalb der Arbeiterschaft zum deutschen Krieg gesammelt wurde. Mögen auch viele in den folgenden Jahren des Schützengrabens zu tieferer Erkenntnis gekommen sein, die Anknüpfung an die Kriegsbegeisterung von 1815 und 1870 führte zu ganz ähnlichen Zusammenschluss-Phantasien über alle Klassen hinweg wie in Italien. Erschreckend und offenbar „nachhaltig“ die Äusserungen eines Konrad Haenisch von 1916. Dieser war innerhalb der SPD bis 1914 Anhänger Rosa Luxemburgs und Liebknechts gewesen, schwenkte aber mit Kriegsbeginn zur Verherrlichung des Kriegs an sich über:

„Das zweite Gesicht des Kriegs (neben dem erschreckenden) weist aus der grässlichen Gegenwart in eine bessere Zukunft; es zeigt uns den Krieg als einen gewaltigen Revolutionär wider Willen, als einen machtvollen Hebel des sozialistischen Fortschritts, als die ungeheure Lokomotive der Weltgeschichte" (Haenisch 1916, S. 880)

Der sogenannte Kriegssozialismus sollte also - ganz ohne Klassenkampf im Innern - die Notwendigkeit des „organisierten Wirtschaftens“ durchsetzen. Haenisch wurde später wieder der angepasste SPD-Funktionär; in einer Art Übersprung griff die Verehrung des Kriegs an sich von den Linken, die ihn hier entwickelt hatten, auf die Rechte über, vor allem auf die jüngeren ehemaligen Kriegsteilnehmer. Der Unterschied zu den italienischen „arditi“ ist also viel geringer, als Sternhell zugeben will. Als Harry Pross nach dem zweiten Weltkrieg eine illustrierte Auswahlausgabe der Zeitschrift Das Reich herausgab, da gipfelte seine Zusammenfassung der Tendenz aller Artikel in dem einen Satz: „Der Krieg ist ein Gott.“ Also lassen sich - aus verschiedenen Quellen herrührend - doch mehr gemeinsame Züge der verschiedenen „Faschismen“ erkennen, als Sternhell zugeben will.

6. Wenig geht Sternhell auf den ungeheuren Einfluss d'Annunzios ein, des Fliegers und Dichters, der erfolgreich einen Feldzug eröffnete zur Eroberung der jugoslawischen Stadt Fiume. Er, einer der ersten und grössten Technikfreaks, verstand es, genau die gleichen Arditi wie später Mussolini um sich zu versammeln - und mit Sprechchören und Choralen vom besetzten Rathaus Fiumes aus die Massenstimmung zu erzeugen, die später für die Faschismen aller Länder typisch werden sollte. “Wem gehört Fiume”, fragte er etwa. Antwort massenhaft: „A noi“ (uns).

Was inzwischen zum Open-Air-Brauch herabgesunken ist, entwickelte damals noch ungeheure Bindekraft. Der Dichter Marinetti schloss sich mit seinem Fanatismus der Flugkunst und des Bombenwerfens an. Mussolini übernahm das alles in seine Feiern des wiedererwachten Rom und eines Imperium, das zugleich das der Gegenwart sein sollte und jenes der Antike bei weitem übertrumpfen würde. Insgesamt gelang es Mussolini der jeunesse dorée das Gefühl des Erwachens kurzfristig immer neu zu verschaffen, des Erwachens aus einer Haltung des ewigen Zuschauertums. Voyeure stürzten sich fanatisch (das Wort um 1923 herum erstmalig positiv verwendet) in Aktionen, die unverzüglich in Fest und Feier wieder Gegenstand der kollektiven Selbstanbetung werden sollten. So hielt sich die Bewegung in der dauernden Erwartung des Nahens eines Aufbruchs - um mich der Worte d'Annunzios zu bedienen.

Ähnlichkeit und Verschiedenheit der europäischen Faschismen

Sternhell hat das Verdienst, uns einen Faschismus vorzuführen, der im Augenblick seiner Entstehung ohne Biologismus, Rassismus und Antisemitismus auskommt. Elemente, die uns beim Nationalsozialismus als erste einfallen. In Mussolinis Kohorten marschierten nicht wenige Juden an führender Stelle mit und staunten wahrscheinlich betreten, als - wohl erst unter Nazi- Einfluss - die deutschen Rassengesetze 1938 übernommen wurden. Was Zeev Sternhell allerdings vernachlässigt: Die gemeinsame Funktion aller Faschismen, der imperialistischen Ausdehnung der eigenen Territorien zu dienen - bis zum Untergang. Diese Haupteigenschaft darf bei allen Unterscheidungen niemals übersehen werden.

Fritz Güde
kritisch-lesen.de

Zeev Sternhell: Die Entstehung der faschistischen Ideologie. Hamburger Edition, Hamburg 1999. 411 Seiten, ca. SFr 42.00, ISBN 978-3-930908-53-0

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