Geoökonomischer Machtpoker Uwe Hoering: Der Lange Marsch 2.0

Sachliteratur

Bieten die Wirtschaftskorridore entlang der alten Seidenstrassen Alternativen zu herkömmlichen Handelsbeziehungen oder will China bloss seine Vormachtstellung in der Welt ausbauen?

Dunhuang (敦煌市 Dūnhuáng Shì) ist eine alte Oasenstadt an der Seidenstrasse in der Provinz Gansu im Westen Chinas. Eingangstor zum Gebiet der Singenden Dünen und des Mondsichel Sees.
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Dunhuang (敦煌市 Dūnhuáng Shì) ist eine alte Oasenstadt an der Seidenstrasse in der Provinz Gansu im Westen Chinas. Eingangstor zum Gebiet der Singenden Dünen und des Mondsichel Sees. Foto: Immanuel Giel (CC BY-NC-SA 2.0 cropped)

12. November 2018
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„Über Jahrhunderte wurde der Geist der Seidenstrasse – Frieden und Zusammenarbeit […], gegenseitiges Lernen und gemeinsames Gewinnen – von Generation zu Generation weitergereicht und damit der Fortschritt der menschlichen Zivilisation gefördert.“ (S. 150) An dieses Narrativ knüpfe die chinesische Regierung an, beschwöre mit ihrer Belt-and-Road-Initiative (BRI) – dem Ausbau eines weltweiten Handelsnetzes – das romantische Bild des Seidenstrassen-Merkantilismus, verneble jedoch die Asymmetrie der wirtschaftlichen Macht Chinas seinen Nachbar_innen gegenüber. Diese Thesen stellt der Publizist Uwe Hoering voran und analysiert die ökonomischen Hintergründe dieses gigantischen Masterplans, in den mehr als zwei Drittel der Weltbevölkerung involviert ist.

Vor zwanzig Jahren lancierte die chinesische Regierung die Go-West-Politik: Die autonome Region Xinjiang sollte durch Verkehrsverbindungen und Verlagerung von Industrien „entwickelt“ werden, damit sich der Unterschied zwischen den chinesischen Küstenprovinzen und dem Hinterland verringere. Langfristig wurden damit neue Absatzmärkte hinter den Landesgrenzen erschlossen. Urumqi – die Hauptstadt Xinjiangs – wurde zum wichtigsten Wirtschaftszentrum Zentralasiens und zugleich Ausgangspunkt des pakistanischen Wirtschaftskorridors. Dies lockte vermehrt Han-Chinesen in die Region und marginalisierte die muslimische Bevölkerung Xinjiangs. 2009 kam es zu einer der blutigsten Demonstrationen in der neueren Geschichte Chinas, was jüngst im massiven Ausbau des Sicherheitsapparats gipfelte. Dennoch verspricht sich Xi Jingping, Staatspräsident der Volksrepublik China, von der BRI Erfolge im Kampf gegen die drei Übel Separatismus, Terrorismus und religiöser Fanatismus.

Gestern Xinjiang, morgen Zentralasien, übermorgen Europa

Das grösste und teuerste Projekt innerhalb der Belt-and-Road-Initiative ist die Verbindung von Xinjiang zum Hafen Gwadar an der pakistanischen Küste. Gwadar soll zum Tiefsee- und Yachthafen ausgebaut werden; Hotels, Nachtclubs, Golfplätze, Wellness- und Wassersporteinrichtungen sind geplant. Doch auch hier gab es Protest: Da die Fischer vertrieben und chinesische statt einheimische Arbeiter_innen beschäftigt wurden, landete im Oktober 2017 eine Granate in der Baracke mit chinesischen Arbeiter_innen.

Anhand dieser Beispiele zeigt sich die grundlegende Struktur der neuen Seidenstrassen, die sich wie Speichen eines Rades über Pakistan zum Persischen Golf ziehen, über Myanmar und Bangladesh zum Indischen Ozean, über Laos und Thailand nach Südostasien, über die Mongolei nach Sibirien, von der Ostküste Afrikas ins Binnenland.

Diese Wirtschaftskorridore erleichtern den Zugang zu Rohstoffen. Kasachstan ist beispielsweise nicht nur wegen der zentralen Lage für den Schienenverkehr interessant, sondern besitzt grosse Erdölfelder und Erdgas. Die ökologische Dimension der BRI kommt bei der chinesischen Bevölkerung gut an, denn durch den Bau von Kohlekraftwerken in Kasachstan und der Mongolei wird die Luftverschmutzung quasi exportiert – der Strom fliesst trotzdem, weil die Länder damit ihre Schulden begleichen.

Neben den transkontinentalen Verbindungen baut China auch die maritimen Seidenstrassen aus. Der Tiefseehafen Hambantota im Süden Sri Lankas liegt an einer strategisch wichtigen Stelle zwischen dem Chinesischen Meer und Ostafrika. 2011 wurde der Hafen fertig gestellt, doch Sri Lanka konnte die Schulden bei chinesischen Firmen nicht mehr begleichen, weshalb diese kurzerhand für 99 Jahre den Hafen übernahmen.

Solche gigantischen Infrastrukturprojekte können demzufolge verschuldete Länder in eine Schuldenfalle treiben, und sie reissen erste Löcher in das Seidenstrassen-Netz. Myanmar war wohl eines der ersten Länder, das den Baustopp eines überdimensionierten Staudammprojektes erwirkte, das die südchinesische Provinz Yunnan mit Strom versorgen sollte. Malaysia hat kürzlich (nach Drucklegung des Buches) sämtliche BRI-Projekte der Vorgängerregierung annulliert, weil sich das Land diese Projekte schlicht nicht leisten könne, sie überdies nicht brauche, und weder malayische Firmen noch einheimische Arbeitskräfte berücksichtigt worden seien. Erste Seidenstrassen in Europa

Dass Europa mittlerweile selbst im Fokus der BRI ist „dämmert erst langsam“ (S. 115). Der griechische Hafen Piräus ist der wichtigste Hafen für China in Europa und wurde auf Druck der Privatisierungsauflagen der EU an chinesische Unternehmen veräussert. Das Baumaterial sowie Arbeiter_innen kommen aus China, die Löhne liegen unter dem Gehalt der organisierten griechischen Dockarbeiter_innen. Ziel ist auch hier – analog zu Südostasien – eine Perlenkette rund ums Mittelmeer zu legen.

Serbien und Ungarn bauen mithilfe chinesischer Gelder Brücken, Autobahnen und Hochgeschwindigkeitszüge zwischen Belgrad und Budapest, Polen und die baltischen Länder sind anvisiert. Aus osteuropäischer Sicht ist China ein attraktiver Konkurrent für die EU. Die Kooperation sei ein „Akt nationaler Unabhängigkeit, nicht mehr nur Lehrer und Schüler, sondern gleichberechtigte Partner“ (S.118) zitiert der Autor den ungarischen Staatspräsidenten Viktor Orban. Umgekehrt sei die BRI ein interessantes Versuchsfeld für China, um die Spaltung zwischen EU und den Beitrittskandidaten voranzutreiben, was eine schleichende Entdemokratisierung in die Wege leite. So kommen die BRI-Projekte jeweils der einheimischen politischen Elite zugute in Ländern, die ohnehin autoritär regiert werden und sich über die Begehren von Umwelt- und Menschenrechtsverbänden oftmals mit brachialer Gewalt hinwegsetzen. Der Nebeneffekt solcherart Schuldenimperialismus ist beispielsweise, dass diese Länder die gemeinsame Stellungnahme der EU zu Folter und Menschenrechtssituation in China blockierten.

Den Zug verpassen

China handelt sich mit der Belt-and-Road-Initiative allerdings nicht nur das Misstrauen der westlichen Welt ein, sondern schadet auch seinem Ruf, zum Beispiel in Vietnam: „Chinesische Unternehmen nutzen ihre Stellung, um Aufträge zu ergattern, liefern schlechte Qualität ab und verursachen Umweltschäden.“ (S. 81)

Bietet also China mit der BRI eine Alternative zu westlichen Staatenbündnissen? Zumindest ist die chinesische Strategie eine Alternative zu Globalisierungsprozessen, wie sie vom Globalen Norden ausgehen und sie ist ein Gegenmodell zur Entwicklungshilfe des Westens in Afrika und Asien, da sie den Forderungen nach Einhalten der Menschenrechte, die in diesen Zusammenhängen gestellt wurden, umgehen können. Darauf geht Hoering allerdings nicht ein. Zwar kritisiert er, dass bei der BRI „Rohstoffabbau und Grossstaudämme besonders häufig mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen einher gehen“ (S. 69). Doch in Vietnam verstossen auch westliche Textilfirmen gegen soziale Standards, in der Mongolei betreiben australische und kanadische Bergbauunternehmen Raubbau. Darüber hinaus profitieren zum Beispiel deutsche und niederländische Transportunternehmen schon jetzt von der transkontinentalen Bahnverbindung. China also beispielsweise Menschenrechtsverletzungen vorzuwerfen, ohne dasselbe bei westlichen Unternehmen zu kritisieren, kommt bei der internationalen Kritik am BRI-Projekt oftmals zu kurz.

Dennoch, das Buch sei eine Momentaufnahme, schreibt der Autor im Vorwort, so dass er Gefahr läuft, von der Aktualität überholt zu werden, wie das oben genannte Beispiel Malaysias zeigt. Überzeugend ist Hoering dort, wo er seine Aussagen mit konkreten Beispielen wie jenen aus Pakistan belegt. Die informierte Leser_in erfährt indes wenig Neues, da der Autor Zeitschriften und Blogs zum Thema auswertete. Gleichwohl stellt Hoering seine Recherchen überzeugend in einen globalen Kontext, weshalb das schmale Buch als Einstiegslektüre in das Thema unbedingt zu empfehlen ist. Denn das neue grosse Spiel hat längst begonnen, auch wenn hierzulande manche Akteure den Zug womöglich verpassen.

Alice Grünfelder
kritisch-lesen.de

Uwe Hoering: Der Lange Marsch 2.0. Chinas Neue Seidenstrassen als Entwicklungsmodell. VSA Verlag, Hamburg 2018. 160 Seiten, ca. 21.00 SFr. ISBN: 978-3-89965-822-4

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