Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler (Teil 6) Deutschland voran in die Industrie 4.0

Sachliteratur

Diese Rezension ist Teil der Reihe „Bürgerliche Wissenschaft und ihre Fehler“. In den Universitäten wird Wissenschaft betrieben, die sich in ihren sozial – und geisteswissenschaftlichen Abteilungen für die offene Gesellschaft und gegen ihre Feinde ausspricht.

«Geburt» eines Mini-Industrieroboters. Möglicher Einsatzbreich am Fliessband - Schneiden, Bohren, Malen.
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«Geburt» eines Mini-Industrieroboters. Möglicher Einsatzbreich am Fliessband - Schneiden, Bohren, Malen. Foto: Botasuleimen (CC BY-SA 4.0 cropped)

19. Dezember 2016
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Korrektur
In dieser kurzen Reihe werden ausgesuchte Veröffentlichungen dieser Wissenschaften rezensiert und sich die Zeit für einen genaueren Blick auf diese Ergebnisse dieser Wissenschaften genommen.

Dem eigenen Anspruch nach will das Buch von Kollmann/Schmidt zeigen, „wie Deutschland als führende Industrienation auch in der Digitalen Wirtschaft ein starker Player werden kann“. Deutschland verfügt, so ist auf dem Klappentext zu lesen, „über unzählige Weltmarktführer in den klassischen Wirtschaftsbranchen, bisher aber über keinen digitalen Champion. Die grossen Player aus dem Internet wie Google, Facebook & Co. dringen zunehmend auch in die realen Wirtschaftsbranchen ein und wollen hier die Spielregeln verändern.“

Dabei dreht sich der ganze Band um die Frage, wie Deutschland in Zukunft im digitalen Wettbewerb eine herausragende Stellung erreichen, eben Deutschland 4.0 werden kann. Wie dieses Ziel erreicht werden kann, macht den Inhalt des Bandes aus – dass Deutschland 4.0 erstrebenswert ist, kann der Band sowohl in der Wissenschaft als auch in der Politik und Ökonomie getrost als unterstellt annehmen. Dass nämlich vom Kapitalstandort Deutschland alle Deutschen abhängig gemacht sind, und dass deshalb alle Bürger sich auch positiv auf das Wohl der Nation zu beziehen haben, ist so allgemein bekannt wie durchgesetzt und für gut befunden.

Dass jenes Wohl der Nation unmittelbar mit dem eigenen Interesse zusammenfällt, ganz unabhängig davon, ob man am Fliessband der Nation steht oder technischer Leiter ist, ob man die Bürohäuser in Frankfurt besitzt oder putzt, scheint dann aber trotzdem immer wieder erwähnt werden zu müssen; gerade da, wo das digitale Wachstum in Deutschland erstmal eine ganze Reihe an Jobs überflüssig macht, deren Inhaber durchaus an ihrer Lohnquelle hängen: „Disponenten in der Logistik, Kreditanalysten in Banken, Chauffeure, Kassierer, Buchhalter, Makler, Call-Center-Mitarbeiter und Busfahrer.

Sogar Bibliothekare, Verkehrspolizisten und Piloten weisen eine Wahrscheinlichkeit von mehr als 50% auf, bald durch eine Maschine ersetzt zu werden“ (107). Das sei aber für die Betroffenen gar nicht das Ende, sondern nur der Anfang neuer Möglichkeiten, die sich gleich als Pflicht zum lebenslangen Lernen entpuppen. Wer sich selbst für den Arbeitsmarkt fit macht und hält, der könne vom alten Job direkt zum Neuen wechseln, der durch die Digitalisierung auch ganz sicher entstehen wird: „Tatsächlich haben industrielle Revolutionen in der Vergangenheit stets zu mehr Arbeitsplätzen geführt, auch wenn die Anpassungsphasen nicht immer reibungslos liefen“ (107).

Von welchen industriellen Revolutionen hier gesprochen wird, teilen uns die Autoren leider nicht mit. Nehmen wir einmal die Erste: War es doch im feudalen England noch gar nicht üblich, einer Lohnarbeit nachzugehen, sondern Subsistenzwirtschaft zu betreiben. In diesem Sinne kann man tatsächlich davon sprechen, dass es nach der Vertreibung der Bauern von ihren Feldern und ihrer Enteignung zu Lohnarbeitern während der Entstehung der ersten Industrie mehr Arbeitsplätze gab als vorher. Wenn die Autoren also die erste industrielle Revolution gemeint haben, dann kann man ihnen nur zustimmen: Arbeitsplätze hatten die Engländer zum grossen Teil vor dieser noch gar nicht, sondern lebten schlicht von dem, was sie selbst anbauten.

Dass dieser Übergang in den Kapitalismus allerdings trotz allem mehr an Arbeitsplätzen auch ein mehr an Arbeitslosen schuf, ist mit vielen Zahlen und Statistiken im berühmten 24. Kapitel des Kapitals von Karl Marx nachzulesen. Der Staat schuf in dieser Zeit überhaupt erst die mittellosen Massen, die nichts anderes zum Leben hatten, als ihre Arbeitskraft. Auf einen Arbeitsplatz angewiesen waren sie dann, als „alle ihre Produktionsmittel und alle durch die alten feudalen Einrichtungen gebotenen Garantien ihrer Existenz geraubt wurden. Und die Geschichte dieser ihrer Expropriation ist in die Analen der Menschheit eingeschrieben mit Zügen von Blut und Feuer“ (MEW 23/743). Mit diesem Blut und Feuer im Hinterkopf liest sich der Satz am Ende des Bandes dann auch etwas anders als vermutlich intendiert: „Die Digitale Transformation hat grössere ökonomische und soziale Implikationen als jede bisherige industrielle Revolution“ (159).

Dass am Ende dieser industriellen Revolution mehr Arbeitsplätze entstehen mögen die Autoren selbst nicht so richtig glauben – anders ist die Überschrift „Ohne Digitalisierung gehen viel mehr Jobs verloren“ (109) kaum zu erklären. Bei dem ganzen Hin und Her ob und wie viele neue Arbeitsplätze entstehen, wie viele alte überflüssig werden und wie sich beide Zahlen aufrechnen wird im Band konsequent verschwiegen, was die Rechnung impliziert: Arbeitsplätze schaffen mag die Rechtfertigung sein, mit der die Digitalisierung dem Volk verkauft wird, ihren Zweck hat sie darin nicht. Kein Unternehmen will Arbeitsplätze schaffen, sondern wendet vielmehr Arbeit an, um Profit zu erwirtschaften.

Wo dies besser geht durch die Anschaffung neuer Maschinen und damit einhergehenden Rationalisierungen, wird dieser Zweck mit weniger Arbeitsplätzen besser verfolgt als zuvor – und das wissen die Autoren sogar selbst: „Der Verlust an Arbeitsplätzen in diesen Branchen darf aber kein Argument sein, auf die Digitalisierung zu verzichten“(109). So schreibt jemand, der weiss, dass Wachstum weder identisch mit neuen Arbeitsplätzen ist, noch dass „die Wirtschaft“ per se ein Interesse daran hätte, möglichst viele Leute einzustellen. Die Negation des Wachstums soll dann als Argument für die Industrie 4.0 taugen: „Wer nicht digitalisiert, verliert seine Wettbewerbsfähigkeit und dauerhaft noch viel mehr Arbeitsplätze“ (109).

Wenn allerdings die Digitalisierung so sicher soziale Verwerfungen mit sich bringt, wie durch ihr ausbleiben; wenn das Wachstum die Arbeiter wegrationalisiert und die Niederlage Deutschlands in der Konkurrenz noch mehr Arbeitsplätze gefährdet – dann könnte man aus der Lektüre dieses Buches auch einmal den Schluss ziehen, dass die Lohnabhängigen, so oder so in diesem Laden nichts als die abhängige Variable einer Wirtschaft sind, die ihnen in keinem Fall besonders gut bekommt. Anstatt sich an der zynischen Rechnung zu beteiligen, ob sie „summa summarum“ nun mit oder ohne Deutschland 4.0 „besser“ wegkommen, wäre daraus der Schluss zu ziehen, dass es womöglich gar nicht so weit her ist mit der ersten Person Plural, die das ganze Buch beherrscht: „Wir“ sind scheinbar sehr unterschiedlich von den kommenden „sozialen Implikationen“ betroffen, die für die einen neue Profite, und für die anderen neue Verwerfungen bedeuten.

Berthold Beimler

Tobias Kollmann, Holger Schmidt: Deutschland 4.0 - Wie die Digitale Transformation gelingt. Springer Gabler 2016. 186 Seiten, ca. 28.00 SFr. ISBN 978-3658119812